Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine tiefe Zäsur für die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Er steht für das Ende der Illusionen gegenüber Moskau. Der Begriff der „Zeitenwende“ aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz am 27.02.2022 beschreibt die Neuorientierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die damit auf die vorherigen russischen Aggressionen reagiert hat. Gleichzeitig soll die „Zeitenwende“ die Abkehr von den bisherigen Restriktionen einläuten, die sich Deutschland trotz des unbestreitbar großen ökonomischen Gewichts beim Engagement für europäische und globale Ziele in den letzten Jahrzehnten auferlegt hatte. Deutschland stellt die Weichen für eine andere Außen- und Sicherheitspolitik: mit der Lieferung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet, dem Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr und dem Versprechen des Bundeskanzlers, das NATO-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, künftig einhalten zu wollen.
In der Podiumsdiskussion geht es vorrangig nicht um die Themen, die zuletzt die öffentliche Debatte über den Ukraine-Krieg dominiert haben, wie z. B. Ursachen und Verlauf des Krieges, militärische Erwägungen und Vergleiche, Art und Umfang der Waffenlieferungen, die NATO-Beitrittsgesuche von Finnland und Schweden oder die Deutung der Absichten des russischen Präsidenten Putin („Putinologie“). Wir fragen, ob bzw. inwieweit der Begriff der Zeitenwende angemessen die Veränderungen beschreibt. Was gehört angesichts der anderen Risiken und Sicherheitsbedrohungen zum Verständnis der Zeitenwende hinzu? Wie geht die Europäische Union (EU) mit den neuen Herausforderungen um? Hat die Ukraine eine realistische Chance auf Mitgliedschaft in der EU? Wie wird in anderen Teilen der Welt auf den Krieg in Europa reagiert, wie werden die Reaktionen der Staaten des Westens bewertet? Und welche Szenarien sind für ein Ende des Krieges sowie für eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsordnung wünschenswert, welche sind realistisch?
Die Veranstaltung greift u. a. einige Aspekte der Arbeit der Arbeitsgruppe Friedensforschung der Akademie der Wissenschaften aus den letzten Jahren auf und stellt sie zur Diskussion.
Es diskutieren:
Prof. Dr. Michael Brzoska, Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH), Hamburg, (Politikwissenschaft/Volkswirtschaftslehre), Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Prof. Dr. Gabriele Clemens, Universität Hamburg (Geschichtswissenschaft), Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Universität Hamburg (Integrative Geographie), Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, CEN
Moderation:
Prof. Dr. Cord Jakobeit, Universität Hamburg, Sprecher der AG Friedensforschung, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg