Demokratische Partizipation und Volksentscheide als Mittel der öffentlichen Daseinsvorsorge, um Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft zu gestalten
Veranstaltungsbericht zur Podiumsdiskussion „Energiewende und öffentliche Daseinsvorsorge – 10 Jahre nach dem Volksentscheid ‚Unser Hamburg – Unser Netz‘“ am 18. September 2023
Die Energieversorgung ist ein wesentlicher Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Wie diese wichtige Aufgabe nachhaltig und demokratisch gestaltet werden kann, diskutierte auf Einladung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg ein Podium, besetzt mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Im Rückblick auf den Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“ aus dem Jahr 2013 zogen die Teilnehmenden ein Fazit und diskutierten über mehr Bürgerbeteiligung im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und die gegenwärtigen Herausforderungen bei der Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Das Interesse an der öffentlichen Veranstaltung in der Patriotischen Gesellschaft war groß.
Die Podiumsdiskussion zur Frage „Energiewende und öffentliche Daseinsvorsorge – 10 Jahre Volksentscheid ‚Unser Hamburg – Unser Netz‘“ fand am 18. September 2023 in Hamburg, in der Patriotischen Gesellschaft statt.
Auf dem Podium:
• Manfred Braasch, ehemalige Vertrauensperson Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“
• Jens Kerstan, Senator der Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg
• Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge, Professor i. R. für Wirtschaftsgeographie, Universität Hamburg, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg
• Annika Rittmann, Klimaaktivistin, Fridays for Future
Impulsreferate hielten:
• Dr. Michael Beckereit, ehemaliger Geschäftsführer von Hamburg Wärme
• Prof. Dr. Anita Engels, Professorin für Soziologie, Globalisierung, Umwelt und Gesellschaft, Universität Hamburg, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Moderation: Dr. Jens Meyer-Wellmann, Chefkorrespondent, Hamburger Abendblatt
Die Veranstaltung zeigte, dass folgende Punkte beim Rückblick auf den Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“ im Jahr 2013 und bei der Frage nach heutigen Formen der gesellschaftlichen Teilhabe an demokratischen Prozessen besonders relevant sind:
• Volksentscheide können Transformationsprozesse hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft unterstützen und wertvolle Selbstwirksamkeitserfahrungen für die Zivilgesellschaft sein;
• der Staat hat bei der Daseinsvorsorge die wesentliche Koordinationsaufgabe zu leisten – auch in der Konfrontation mit populistischen Strömungen;
• die Versorgung mit Strom und Wärme in Hamburg benötigt ein Um- und Ausbauprogramm hin zu erneuerbaren Energien, und das im laufenden Betrieb;
• angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erlauben öffentlich geführte Energieunternehmen eine schnelle Reaktion auf gestiegene Energiekosten, wenn Bürgerinnen und Bürger diese nicht bewältigen können;
• der Hamburger Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“ von 2013 wird in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als Vorbild und Symbol für eine demokratisch organisierte Daseinsvorsorge gewürdigt;
• die Bürgerbeteiligung bei öffentlicher Daseinsvorsorge und insbesondere in Folge des Volksentscheides von 2013 müsste sich noch erhöhen;
• demokratische Partizipation braucht Diskurs und Transparenz, auch gerade mit Blick auf den Anspruch, alle Bürgerinnen und Bürger umfassend zu informieren.
In seiner Begrüßung betonte Akademiepräsident Prof. Dr. Mojib Latif, wie zentral für die Daseinsvorsorge auch aus historischer Perspektive das Thema der Energieversorgung sei: „Die Gewährleistung einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge ist ein wesentliches Merkmal moderner Staatlichkeit.“ Im Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes sei die Daseinsvorsorge verankert. „Die öffentliche Daseinsvorsorge materiell wie auch organisatorisch zu gestalten – diese Aufgabe wird aktuell, vor allem aber perspektivisch, mit Megatrends konfrontiert“, diagnostizierte der Klimaforscher. Zu nennen sind neben dem demographischen Wandel und globaler Migration auch der Klimawandel und die Digitalisierung ebenso wie Internationalisierung und europäische Integration. Sie „werfen die Frage auf, wie gewachsene Ansätze und Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge in Zukunft gesichert beziehungsweise weiterentwickelt werden können“. So Mojib Latif.
Bevor die Podiumsdiskussion startete, warfen zwei Impulsreferate Schlaglichter auf zentrale Aspekte rund um den Volksentscheid von 2013 und die aktuelle Notwendigkeit, demokratische Partizipation an der Transformation hin zu einer nachhaltigen, klimafreundlichen Gesellschaft zu organisieren. So unterstrich vor dem Hintergrund der Klimakrise Akademiemitglied Anita Engels aus der Perspektive ihrer sozialwissenschaftlichen Forschung zu Transformationsprozessen hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, wie wertvoll Volksentscheide seien. „Hier weiß man wirklich, dass es um etwas geht“, betonte sie. Außerdem stellten die Informationspflichten, die mit diesem Instrument verbunden sind, auch sicher, dass man zumindest ziemlich genau wissen könne, worum es gehe. Dadurch entstehe im Hinblick auf den Gesetzgeber und auf den Staat ein „latenter Gemeinwohldruck“. „Man sieht das auch daran“, erklärte Engels, „dass oft inzwischen bereits bei den Vorstufen zum Volksentscheid, also bei Volksinitiativen und Volksbegehren, versucht wird, einen Konsens herbeizuführen.“ Hinzukommt, dass so Wissen generiert werde: „Das sind ja aufwändige Verfahren, wo man sehr viel Information bereitstellen muss.“
Volksentscheide erzeugen „latenten Gemeinwohldruck“
Der Staat werde so nach Ansicht von Anita Engels hin zur Nachhaltigkeit getrieben. Zugleich ermögliche dieser Prozess der Zivilgesellschaft eine „Selbstwirksamkeitserfahrung, die für eine Transformation zur Nachhaltigkeit unglaublich wertvoll ist“. Denn diese Transformation müsse gesellschaftlich getragen und vorangetrieben sein. In diesem Zusammenhang wies die Hamburger Soziologie-Professorin auf die Stadtteile und Quartiere als kleinste gesellschaftliche Einheiten hin, die unbedingt einzubeziehen seien in die Nachhaltigkeitstransformation.
Die zentralen drei Akteure im anstehenden Transformationsprozess sind laut Anita Engels die Zivilgesellschaft in der ganzen Breite ihrer vielen Perspektiven und Wünsche, die privaten Unternehmen, deren berechtigte Partikularinteressen durch politisch definierte Rahmenbedingungen einzuhegen sind. Auch von ihnen verursachte „Umweltschäden müssen kosten“, betonte die Nachhaltigkeitsexpertin. Der zentrale Akteur mit Blick auf die Daseinsvorsorge sei jedoch der Staat. „Er muss für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen, muss also soziale Disparitäten abbauen und muss für die langfristige Absicherung der Lebensverhältnisse vorsorgen.“ Nachhaltigkeit sei hier wirklich als Auftrag zu verstehen.
„Bei der Energiewende hat der Staat die wesentliche Koordinationsaufgabe“, erklärte Anita Engels. „Er muss die gesetzlichen Grundlagen schaffen und die öffentlichen Haushalte entsprechend ausrichten. In der hier existierenden Demokratie ist es dafür notwendig, politische Mehrheiten zu schaffen und zu organisieren.“ Das sei oft sehr schwierig. „Die politischen Entscheidungsträger sind ja notwendigerweise auf das Überleben in der Realpolitik angewiesen und den automatisch am Gemeinwohl orientierten sozialen Planer gibt es in der Politik in dieser Form eigentlich nicht“, gab Engels zu bedenken. Aber man müsse eben versuchen, in diesem Umfeld, auch in der Konfrontation mit populistischen Strömungen, verlässliche politische Unterstützung herbeizuführen und zu erhalten.
Mit Blick auf die Zukunft sei, laut Engels, zu diskutieren, „wie die demokratische Kultur insgesamt gestärkt werden kann, unter anderem mit dem Instrument des Volksentscheides.“ Es gäbe in Hamburg eine unglaublich breit gefächerte und große zivilgesellschaftliche Gruppe von Organisationen, die „mir im Hinblick auf große übergreifende Fragen adressierbar, mobilisierbar und organisierbar erscheint“.
Um- und Ausbauprogramm hin zu erneuerbaren Energien im laufenden Betrieb
Auf die Situation der Hamburger Energienetze zurzeit des Volksentscheids Anfang der 2010er-Jahre ging Michael Beckereit ein. Als damaliger Geschäftsführer von Hamburg Wärme hat er den Volksentscheid und die Diskussionen um einen Rückkauf der Energienetze durch die öffentliche Hand direkt mitbekommen. Diese Zukunftsvision, dass erneuerbare Energien zukünftig sowohl die Versorgung mit Strom und Wärme als auch die Mobilität bestimmen werden, laufe auf ein großes Um- und Ausbauprogramm hinaus, das im laufenden Betrieb zu organisieren sei. Beckereits Fazit mit zehn Jahren Abstand lautete – insbesondere mit Blick auf klimaneutrale Fernwärme-Netze in der Hansestadt: “Es wird mit der Fernwärme auch immer mehr in die Dezentralität gehen. Man muss in anderen Quartieren auch damit anfangen, etwas dafür zu bauen, damit man eben die ökologisch sehr gut steuerbare Fernwärmeproduktion in eigenen Unternehmen der Stadt entsprechend auf den Weg bringen kann. Also es ist viel zu tun mit den Netzen und den zugehörigen Anlagen. Insofern: Es war erforderlich und sinnvoll.“
Das Thema „Energienetze“ habe vor einem Jahrzehnt die Hamburgerinnen und Hamburger geradezu „elektrisiert“. Daran erinnerte Moderator Jens Meyer-Wellmann zu Beginn der Veranstaltung. Das habe ihn als Politik-Redakteur beim Hamburger Abendblatt und damit als journalistischem Beobachter überrascht. Ähnlich ging es der ganzen Redaktion. Dass der Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“ schließlich 50,9 % Ja-Stimmen zum Rückkauf der Energienetze, bestehend aus 35.000 Kilometer Rohre und Leitungen, bekommen hat, sei ebenso überraschend gewesen. Passend dazu, skizzierte Manfred Braasch als ehemalige Vertrauensperson beim Volksentscheid „Unser Hamburg – Unser Netz“, wie diese zivilgesellschaftliche Bewegung 2010 ihren Anfang nahm. Es seien drei, vier Personen gewesen, „die beim BUND in Hamburg zusammensaßen, als die Information reinkam: ‚Die Konzessionsverträge werden bald fällig!‘“ Zu diesem Zeitpunkt wusste Braasch noch nicht genau, was Konzessionsverträge eigentlich sind. „Aber es klang gut“, erinnerte er sich. Nicht zuletzt, weil damals die Frage intensiv diskutiert worden sei, wie es mit dem Klimaschutz weitergehen sollte. „Der Player hier vor Ort, das Unternehmen Vattenfall, war in der Kritik, und wir sahen da tatsächlich eine Chance, mit einer Volksinitiative dieses Phänomen ‚Konzessionsverträge werden frei‘ mal aufzugreifen“, berichtete Braasch. Denn nur alle 20 Jahre wird die „Regie für die Leitungsnetze“ eben in Form von Leitungsverträgen neu ausgeschrieben.
Steile Lernkurve für das zivilgesellschaftliche Volksentscheid-Bündnis
Zusammen gefunden hat sich laut Braasch ein „Kernteam“ aus Verbraucherzentrale, BUND und dem Kirchenkreis Hamburg-Ost, aus der Nichtregierungsorganisation attac und noch ein paar anderen wie Robin Wood. „Über diese drei Jahre haben wir, glaube ich, eine sehr steile Lernkurve zusammen hingelegt“, sagte Braasch. „Es war faszinierend zu sehen, wie viele Leute sich dann auch engagiert haben – vor allen Dingen beim Volksbegehren. Da mussten wir innerhalb von drei Wochen 67.000 Unterschriften auf der Straße sammeln, und wir haben 114.000 geschafft.“
Wirtschaftsgeograph und Akademiemitglied Jürgen Oßenbrügge berichtete, dass Hamburg mit diesem Volksentscheid in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in den Folgejahren nach 2013 häufig als positives Vorbild genannt wurde. Für Oßenbrügge stellt der Volksentscheid von 2013 „etwas ganz Besonderes“ dar, weil hier ein zivilgesellschaftliches Bündnis die Daseinsvorsorge „demokratisch voranbringen wollte“ und damit einen Kontrapunkt setzte zur vorherigen Privatisierung der Daseinsvorsorge. Nach Slogans wie „Der Markt regelt das“ und „Private Unternehmen können es besser“ als der Staat sei der Hamburger Volksentscheid zum Vorbild und Symbol geworden, dass „Städte das auch ganz anders machen können“.
Hamburger Volksentscheid als Vorbild und Symbol für demokratische Daseinsvorsorge
Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan, während der Zeit des Volksentscheids Vorsitzender der Grünen-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, blickt heute auf den Volksentscheid dankbar zurück – gerade angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022. „Selbst viele Leute, die ich kenne, die da eher auf der ablehnenden Seite waren, haben jetzt gesagt: ‚Wie gut, dass wir diese Unternehmen haben.‘ Denn wir konnten jetzt selber handeln“, erläuterte Kerstan. „Wir mussten nicht mit privaten Eigentümern von Unternehmen darüber reden, ob man jetzt Bürgerinnen und Bürgern, die auf einmal hochgeschnellte Rechnung nicht bezahlen können, ob man einen Fonds einrichtet, um ihnen zu helfen, sondern das haben wir einfach mit unseren eigenen Unternehmen so besprochen, und die sind dann auch tätig geworden.“
Umweltsenator Kerstan betonte auch mit Blick auf die Energiewende in Hamburg, dass die öffentlichen Energie-Unternehmen jetzt die Voraussetzung schafften, „dass wir wirklich perspektivisch sehr schnell auf 100 Prozent Erneuerbare kommen“.
Klimaaktivistin Annika Rittmann von Fridays for Future in Hamburg empfindet Dankbarkeit, dass in der aktuellen Lage die Energienetze der Stadt gehören und „die Steuerung demokratisiert wurde“. Für sie gehe es bei diesem Thema auch um die größere Grundfrage: „Wollen wir, dass Privatunternehmen in den Bereichen, wo wir alle dranhängen, da Gewinn draus machen, und im Zweifelsfall eben dann dafür sorgen, dass es für uns teurer und schwieriger wird? Oder wollen wir, dass wir demokratisch durch unsere Wahl steuern können, was mit diesen Dingen passiert?“
Erster „Klimamonitor Hamburg“ diagnostiziert noch nicht ausreichenden Klimaschutz
Angesichts des noch nicht ausreichenden Klimaschutzes, wie ihn der wissenschaftliche Klimabeirat der Hansestadt in seinem ersten „Klimamonitor Hamburg“ in 2023 (Quelle: https://www.cliccs.uni-hamburg.de/de/about-cliccs/news/2023-news/2023-06-16-klimabeirat.html) diagnostiziert hat, stellt sich für Rittmann die Frage: „Hängen wir hinterher, weil wir das Netz kommunalisiert haben oder obwohl wir es demokratisiert haben? Und ich würde sagen: ‚Da passiert viel zu wenig.‘ Und das Netz ist da eher ein Faktor, der beschleunigend helfen kann, und nicht ein Faktor, der bremst.“ Rittmann gab auch zu bedenken, welche Kosten auf andere Bundesländer zukommen, denen das Netz nicht gehöre. Und auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg müsse man die „Lohnt sich das“-Frage noch mal in einem ganz anderen Licht betrachten als allein unter dem Aspekt: „Morgen hat sich das finanziell schon gerechnet.“
Lohnt sich das? Diese Frage beantworten laut Moderator Jens Meyer-Wellmann Kritiker des Volksentscheids gern mit „Nein“. Manfred Braasch hielt diesem Kritikpunkt entgegen, dass es zunächst mit dem Volksentscheid 2013 um eine Weichenstellung ging: „Wir haben ja damals von der Initiative auf dem Rathausmarkt einen Riesenschalter gehabt. Das war unser Symbol – ‚Wir legen den Schalter um!‘ – und das haben wir geschafft. Allerdings habe die Volksinitiative kein Datum mit dem Volksentscheid verbunden, ab dem sich der Rückkauf der Energienetze lohne. Braasch, langjähriger Geschäftsführer des BUND Hamburg, gab zu bedenken, dass „bei solch gewaltigen Investitionen von zwei Milliarden Euro“ keiner davon ausgehen könne, „dass sich das innerhalb von einigen Jahren rechnet“. Das sei ein „Marathon-Geschäft“: In zehn Jahren könne man nach Braaschs Einschätzung voraussichtlich die Frage „Hat sich das gelohnt?“ mit „Ja“ beantworten.
Kosten für Umstellung auf erneuerbare Energien erhöhen Netzentgelte
Fakt ist, dass aktuell die Netzentgelte für die Hamburgerinnen und Hamburger höher sind als in vielen anderen Bundesländern. Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan erläuterte an dieser Stelle der Diskussion, dass die Netzentgelte so hoch seien, weil zum einen die erneuerbaren Energien kosten, zum anderen die Investitionen „massiv“ hochgefahren seien, um das Netz fit für die Energiewende zu machen. „Auch das wird auf die Netzentgelte umgelegt. Aber das ist auch zwingend notwendig und lässt sich auch gar nicht vermeiden, wenn man die Energiewende wirklich umsetzen will.“ So Kerstan.
Moderator Jens Meyer-Wellmann nannte als eine weitere, gern angeführte Kritik an dem Rückkauf der Energienetze in Hamburg nach dem Volksentscheid von 2013, dass die demokratische Kontrolle und die nötige Transparenz nicht zwingend gegeben seien. Akademiemitglied Jürgen Oßenbrügge verwies in diesem Zusammenhang auf die Daseinsvorsorge. Sie brauche eine Struktur, in die die Daseinsvorsorge eingebettet sei als „Staatsaufgabe“. Der Wirtschaftsgeograph betonte: „Der Staat ist ja nicht sozusagen ein Monolith, sondern wir haben eine repräsentative Demokratie. In diesem Rahmen können sich unterschiedliche Parteien um das Ausmaß und die Qualität der Daseinsvorsorge streiten.“ Zugleich benötige man die postive Kraft eines Volksentscheids, nämlich den zivilgesellschaftlichen Druck, der entsteht, um Qualität und Veränderungen herbeizuführen.
Bürgerbeteiligung bei öffentlicher Daseinsvorsorge erhöhen
Kritisch beurteilt Jürgen Oßenbrügge, wie der Volksentscheid umgesetzt wird. „Es wird sehr professionell bearbeitet. Aber möglichst viele auch einzubinden – das ist meiner Ansicht nach im Prozess ein wenig verloren gegangen.“ Der Experte für nachhaltige Stadtentwicklung nannte Barcelona und Wien als Städte, wo die Planung immer versuche, die Bürgerbetiligung sehr intensiv zu gestalten. Das führe dazu, so Akademiemitglied Jürgen Oßenbrügge, dass die Daseinsvorsorge nicht vorrangig „als Staatstätigkeit wahrgenommen wird, sondern dass es eigentlich eine Vorsorge für alle ist, aber auch von allen getragen“.
Manfred Braasch knüpfte an diesen Gedanken von Jürgen Oßenbrügge an und nannte den Aufbau eines Wasserstoffnetzes für die Hamburger Industrie als ein Thema, bei dem ein Rat aus Bürgerinnen und Bürgern darüber nachdenken könnte, ob das ein kluger und auch wirtschaftlich vertretbarer Schritt sei. Das betrachte er als reizvoll und als einen Weg, um die demokratische Kontrolle durch die Basis mit „ein bisschen mehr Leben zu füllen“.
CO₂-Bilanzierung transparenter und verständlicher gestalten
Klimaaktivistin Annika Rittmann von Fridays for Future in Hamburg berichtete vom Energiewendebeirat in der Hansestadt, dem auch Fridays for Future angehört: „Wir haben lange überlegt, ob wir da überhaupt reingehen. Wir bringen Massen auf die Straße. Das ist ein politischer Druck, von dem wir wissen, dass er wirksam ist.“ Rittmann persönlich hat das Gefühl, die Kritik, die der Energiewendebeirat regelmäßig mit Blick auf Hamburgs Klimapolitik formuliert, „kommt am Ende nicht so richtig im Gesetz an“. Mit Blick auf neue Volksentscheide kritisiert sie, dass die verfassungsrechtlichen Hürden zu groß seien.
Einen ganz praktischen Wunsch äußerte Rittmann zudem, nämlich, „die CO₂-Bilanzierung transparenter und verständlicher“ zu gestalten: „Ich habe mir gerade in den letzten Wochen die Bilanzierung von CO₂ angeguckt, und das versteht man einfach nicht. Ich habe stundenlang davorgesessen und ich würde sagen, ich habe viel dazu gelesen und trotzdem finde ich es super schwer zu verstehen, wie viel stoßen wir wo weswegen aus?“ Über eine verständliche Aufbereitung der Informationen würde man auch eine höhere Beteiligung der Hamburgerinnen und Hamburger hinbekommen.
Volksentscheide und parlamentarische Demokratie
Moderator Jens Meyer-Wellmann sagte, dass es schon länger keine Volksentscheide in Hamburg gegeben habe. Auffällig auch, dass es eher Menschen aus gut situierten Hamburger Stadtteilen seien, die Volksentscheide initiiert hätten in der Vergangenheit. Umweltsenator Jens Kerstan entgegnete ihm, „dass man sich über die parlamentarische Demokratie schon sehr weitgehend einbringen kann“. Und speziell mit Blick auf die Menschen, die den Klimawandel leugnen, mahnte Kerstan, dass sie demokratische Mittel wie Volksentscheide auch nutzten, um „die Demokratie zu missachten“. Da müsse man einfach aufpassen, dass man da „nicht den Rammbock spielt von denjenigen, die ganz andere Dinge verändern wollen in diesem Land, als nur weniger Klimaschutz zu machen“.
Wirtschaftsgeographie-Professor Jürgen Oßenbrügge riet zu einem demokratiesensiblen Ansatz von energiepolitischen Vorhaben. Er verwies auf die aktuellen Vorlagen zum Gebäudeenergiegesetz: Energiepolitik könne wie andere Nachhaltigkeitspolitik sehr schnell auch zur politischen Polarisierung beitragen, so dass auch politische Kräfte davon profitierten, die eigentlich gar keine Nachhaltigkeitsperspektive im Blick hätten. „Das heißt, für eine demokratisch orientierte Energiepolitik ist es extrem wichtig, dafür zu sorgen, dass sie verständlich bleibt und dass die Menschen auch wirklich eingeladen werden, mitzuwirken. Ich glaube, das ist etwas, was gerade in Zukunft eine ganz besondere Bedeutung bekommen wird.“
Manfred Braasch bemerkte zum Abschluss der Podiumsdiskussion: „Was hat uns das letzte halbe Jahr eigentlich gezeigt? Es wird ernst. Klimaschutz erreicht jetzt fast jeden und jede im Alltag. Und das macht mir auch wirklich Sorgen, dass wir im letzten halben Jahr im Bereich Klimaschutz und Energiewende die Deutungshoheit ein Stück weit verloren haben.“ Das Pendel schlage jetzt ein bisschen zurücks mit Argumenten, die man ernst nehmen müsse. Braasch riet, die Bürgerinnen und Bürger nicht zu überfordern. Aber: “Diesen Diskurs brauchen wir und da sollten wir uns nicht hinter verstecken. Also alle Instrumente unserer Demokratie bitte nutzen.“
Dagmar Penzlin
➤ Aufzeichnung der Podiumsdiskussion im Podcast „Wissenschaft als Kompass“ hören
➤ Vorbericht lesen: „Wie ein Volksentscheid Hamburg massiv veränderte“, Artikel von Jens Meyer-Wellmann im Hamburger Abendblatt vom 16.09.2023