Frau – Leben – Freiheit: Ein neuer Meilenstein in der iranischen Freiheitsbewegung

Forderungen nach Freiheit wurden in Iran bereits im 19. Jahrhundert geäußert, werden in der heutigen Zeit allerdings vor allem mit der Protestbewegung verbunden, die sich hinter dem Motto „Frau – Leben – Freiheit“ versammelt hat.
Essay von Anja Pistor-Hatam, 26. Februar 2024

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Der Freiheitsturm in Teheran wurde 1971 unter dem Namen Shahyad-Turm erbaut. Nach der iranischen Revolution von 1979 wurde er in Azadi-Turm (Freiheitsturm ) umbenannt.
Der Freiheitsturm in Teheran wurde 1971 unter dem Namen Šāhyād-Turm („Andenken an den Schah“) erbaut. Nach der iranischen Revolution von 1979 wurde er in Borǧ-e āzādī ("Freiheitsturm" ) umbenannt.

Die ursprüngliche Bedeutung von Freiheit im Arabischen

Ebenso wie in vielen anderen Sprachen lautete die ursprüngliche Bedeutung von ‚frei‘ im Arabischen – der Sprache des Korans –, nicht versklavt zu sein‘. ‚Freiheit‘ im religiösen Sinne wurde vor allem als Unterwerfung unter die göttliche Ordnung und das göttliche Recht verstanden. Zudem spielte die Selbstbeherrschung des Menschen ebenso eine Rolle wie seine Unabhängigkeit unter anderem von materiellen Dingen und das Freisein von Verlangen. Während des 19. Jahrhunderts – dem langen Jahrhundert der Reformen – rückte dann allerdings der französische Freiheitsbegriff (liberté) in den Mittelpunkt der Diskussionen in Iran und im Osmanischen Reich. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die 1876 proklamierte erste osmanische Verfassung den Untertanen des Sultans verschiedene Freiheiten wie persönliche Freiheit, freie Religionsausübung, Pressefreiheit, freien Unterricht – wiewohl mit gewissen Einschränkungen – zugestand.

Medialer Diskurs im Osmanischen Reich

Vor allem in der Presse des Osmanischen Reiches wurden ‚Freiheit‘ ebenso wie ‚Gleichheit‘ (égalité) und ‚Brüderlichkeit‘ (fraternité) diskutiert. Auch persischsprachige Zeitungen, die in Istanbul oder Kairo erschienen, publizierten Artikel zum Thema ‚Freiheit‘, wie zum Beispiel die Zeitung Aḫtar („Stern“, Istanbul 1876–1896). In Iran selbst war dies wegen der strengen Zensur zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich. Anhand der Beiträge von Aḫtar zeigt sich, dass das Verständnis von ‚Freiheit‘, das in den Artikeln dieser Zeitung aufscheint, weiterhin eine starke religiöse Komponente aufweist: Freiheit, so heißt es, sei das Ergebnis von Wissen und Bildung, gleichzeitig sei sich der freie Mensch seines Platzes in der Gesellschaft und seiner Pflichten bewusst, er sei frei von Schwächen und Leidenschaften, bescheiden, gläubig, aufrecht, nobel und gut. Hinzu kommt, dass ‚Freiheit‘ in der Regel mit ‚Gerechtigkeit‘ in Verbindung gebracht wurde. Gerechtigkeit sei ohne Freiheit unvollständig, und Freiheit ohne Gerechtigkeit verursache Chaos. Die Gerechtigkeit schütze die Freiheit, und die Freiheit ergänze die Gerechtigkeit. Die Rechte einer jeden Person würden von der Gerechtigkeit begrenzt und bestimmt, während die Freiheit die Grenzen und Formen der Gerechtigkeit verfüge.

Eine Bezugnahme auf islamisch konnotierte Vorstellungen von ‚Freiheit‘ ergab sich nicht nur aus dem Umstand, dass der Herausgeber von Aḫtar ein traditioneller Muslim war, sondern war auch deshalb geboten, weil eher freidenkerische Mitarbeiter der Zeitung ihre Leserschaft unbedingt für die Postulate der Französischen Revolution und den Verfassungsstaat einnehmen wollten. Ein solcher Rückgriff auf die „politische Sprache des Islams“ (Deringil 1993) war den Mitgliedern der 1859 in Teheran gegründeten Freimaurerloge Farāmūšḫāne („Haus des Vergessens“) hingegen fremd. Sie erhoben den Glauben an ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ schlicht zu ihrem Prinzip. ‚Freiheit‘ sollte in individueller Freiheit, der Freiheit des Besitzes, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit ihren Ausdruck finden.

Demonstranten der konstitutionellen Bewegung, die in der britischen Gesandtschaft in Teheran Schutz gesucht haben (1906)
Demonstranten der konstitutionellen Bewegung, die in der britischen Gesandtschaft in Teheran Schutz gesucht haben (1906)

Individuelle Freiheiten in der ersten iranischen Verfassung (1906–7)

Im Sommer des Jahres 1906 gab der damalige Schah von Iran den Forderungen der Konstitutionalisten und ihrer Verbündeter nach ‚Freiheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ schließlich nach. Mit einem Erlass ermöglichte er die Einsetzung einer Verfassung und einer Nationalversammlung. Basierend vor allem auf der belgischen Verfassung von 1831 wurde eine konstitutionelle Monarchie geschaffen. Unter anderem wurden allen Untertanen des Schahs – mit gewissen Einschränkungen – individuelle Rechte und Freiheiten garantiert, ebenso wie die Presse- und Versammlungsfreiheit, sofern sie Staat oder Religion „nicht schadeten“. Allerdings konnten die Menschen in Iran die ihnen durch die Verfassung garantierten Freiheiten nur kurze Zeit genießen. Nach der Konterrevolution von 1908, die von den konstitutionalistischen Truppen zurückgeschlagen wurde, verlor die Verfassung unter dem 1925 gekrönten Reza Schah Pahlavi (reg. 1925–41) schließlich vollkommen an Bedeutung. Eine neue Phase politischer Freiheit erlebte Iran in den ersten Jahren der Regierungszeit seines Sohnes Mohammad Reza Pahlavi (reg. 1941–79). Diese Phase endete jedoch mit dem Sturz des Premierministers Mohammad Mossadegh im Jahre 1953, an dem nicht nur schahtreue Iranerinnen und Iraner, sondern auch die amerikanische CIA beteiligt war.

Massenprotest vor dem Šāhyād-Turm während der Iranischen Revolution 1979
Massenprotest vor dem Šāhyād-Turm während der Iranischen Revolution 1979

Freiheit unter Vorbehalt: Die zweite iranische Verfassung (1979)

Nach der Verfassungsrevolution (1906–1911) bot die Iranische Revolution (1978–79) erneut die Möglichkeit, ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ zu diskutieren, einzufordern und Freiheitsrechte in einer neuen Verfassung zu hinterlegen. Tatsächlich garantiert auch die Verfassung der Islamischen Republik Iran ihren Bürgerinnen und Bürgern gewisse Freiheitsrechte, doch werden diese durch den Verweis darauf, dass der Staat Ausdruck der Herrschaft Gottes sei, dem „der Mensch in völliger Abhängigkeit und bedingungslosem Gehorsam gegenübersteht“ (Tellenbach, 173), eingeschränkt.

Obwohl in Artikel 23 der Verfassung die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird, werden die damit verbundenen individuellen Freiheiten dadurch eingeschränkt, „daß der Mensch gegenüber Gott und der Obrigkeit, die ihn vertritt, keine Rechte geltend machen kann, keine Persönlichkeit mit ursprünglichen eigenen Rechten ist“ (Tellenbach, 183). Presse- und Publikationsfreiheit wird unter „Berücksichtigung der islamischen Kriterien und des Wohlergehens des Landes gewährt“ (Art. 175). Die bereits in der Verfassung von 1906 zu findende Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wird unter dem Vorbehalt gewährt, dass „die Grundsätze der Unabhängigkeit, Freiheit, nationalen Einheit, die islamischen Maßstäbe und die Grundlagen der Islamischen Republik“ nicht verletzt werden (Artikel 26).

Religionsfreiheit wird in der Islamischen Republik in den engen Grenzen des islamischen Rechts schiitischer Prägung zugestanden. Ein Wechsel der Religion ist demnach für Musliminnen und Muslime ausgeschlossen, da dies als Apostasie gilt und im Zweifelsfall mit dem Tode bestraft wird. Zwar gibt es iranische Rechtsgelehrte, die der Überzeugung sind, dass die Bestrafung von Apostaten nicht im Diesseits erfolgen darf, doch vertreten sie eine Minderheitsmeinung, deren Vertreter sanktioniert wurden und werden. Zu den sogenannten „anerkannten religiösen Minderheiten“ zählen nach islamischem Recht Zoroastrier, Juden und Christen (sofern diese christlichen Bekenntnissen angehören, die bereits vor dem Erscheinen des Islams im damaligen Iran existierten). Sie dürfen ihre religiösen Riten im Rahmen der Gesetze durchführen. Zudem sind sie frei in der Ausübung von Angelegenheiten des Personenstandes ebenso wie der religiösen Erziehung ihrer Kinder. Für Mitglieder von Religionsgemeinschaften, die das iranisch-islamische Recht nicht anerkennt, wie zum Beispiel die Baha’is, deren Religion im 19. Jahrhundert entstand, gelten diese Rechte nicht. Sie werden als ‚Apostaten‘ angesehen.

„Frau – Leben – Freiheit“

Protestierende zeigen ein Bild von Jina Mahsa Amini auf einer Solidaritätsdemonstration in Melbourne (September 2022)
Protestierende zeigen ein Bild von Jina Mahsa Amini auf einer Solidaritätsdemonstration in Melbourne (September 2022)

An der Revolution von 1978/79 beteiligten sich viele Frauen. Doch während die einen die Etablierung der Islamischen Republik feierten, verloren die anderen ihre persönliche Freiheit, ihren Beruf, ihr Einkommen und ihre Möglichkeit der politischen Beteiligung. Dennoch schlossen sich Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und verschiedener politischer Überzeugungen immer wieder zusammen, um gemeinsam für die Rechte und Freiheiten von Frauen zu kämpfen. Solange ihre Forderungen in dem vom Regime als opportun angesehenen Rahmen blieben und die Islamische Regierung nicht in Frage stellten, waren sie häufig erfolgreich.

Insofern stellen die im September 2022 begonnenen Demonstrationen eine radikale Veränderung dar. Nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini demonstrierten Frauen – und Männer – im ganzen Land gegen die Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit und gegen die Gewalt, die ihnen von staatlichen Stellen und Einheiten wie den Sittenwächterinnen und -wächtern angetan wurde und wird. Mit ihrer Losung „Frau – Leben – Freiheit“ und der Weigerung, den Zwang zum Hedschab anzuerkennen, griffen sie das System als Ganzes an. Auf den Demonstrationen wurde sogar offen die Abschaffung der Islamischen Republik gefordert.

Wie brutal die staatlichen und paramilitärischen Organe ihre politische und ökonomische Macht verteidigen, wurde in den Monaten und Jahren danach deutlich. Bereits im Verlaufe des Jahres 2023 waren öffentliche Kundgebungen kaum noch möglich, so dass sich die Aktivistinnen und Aktivisten allenfalls über digitale Medien und im Untergrund organisieren konnten. Der Ruf nach der Freiheit, eigene Entscheidungen über persönliche Belange wie zum Beispiel der Kleidung treffen zu können, ist vordergründig erst einmal verstummt.

Ob sich die damit verbundenen Forderungen eines Tages werden durchsetzen können, ist zur Zeit nicht abzusehen. Die Verfassungsrevolution in Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat allerdings gezeigt, dass sich Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit durchsetzen lassen, wenn auch unter großen Opfern und nicht unbedingt auf Dauer.

Literatur

  • „Freiheit“, in: Brunner, Otto et al (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 425–542.
  • Deringil, Selim: „The Invention of Tradition as Public Image in the Late Ottoman Empire, 1808 to 1908“, in: Comparative Studies in Society and History 35/1 (1993), S. 3–29.
  • Lewis, Bernard: Islam in History, New York 1973.
  • Nateq, Homa: L’influence de la Révolution française en Perse (XIX et début du XX siècle), in: La Révolution française, la Turquie et l’Iran. Cahiers d’études sur la méditerranée orientale et le monde turco-iranien, Nr. 12, Paris 1991, S. 117–30.
  • Osmanische Verfassung von 1876 (kanunu esasi): https://www.verfassungen.eu/tr/verf76.htm (Abrufdatum 02.07.2024)
  • Pistor-Hatam, Anja: „Non-understanding and Minority Formation in Iran“, in: Iran 55 (2017), S. 87–98.
  • Pistor-Hatam, Anja: Nachrichtenblatt, Informationsbörse und Diskussionsforum: Aḫtar-e Estānbūl (1876–1896) – Anstöße zur frühen persischen Moderne, Münster usw. 1999 (2000).
  • Rosenthal, Franz: The Muslim Concept of Freedom, Leiden 1960.
  • Tellenbach, Silvia: Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979, Berlin 1985.

Prof. Dr. Anja Pistor-Hatam

Prof. Dr. Anja Pistor-Hatam hat seit dem Sommersemester 2003 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine C4/W3-Professur für Islamwissenschaft inne. Nach dem Studium der Islamwissenschaft und Geschichte an der Universität Freiburg, wo sie im Jahre 1992 promoviert wurde, habilitierte sie sich 1999 an der Universität Heidelberg. Prof. Pistor-Hatam hatte an der Christian-Albrechts-Universität bereits verschiedene Ämter inne (Dekanin und Prodekanin für Forschung der Philosophischen Fakultät, Senatsvorsitzende), zuletzt war sie von 2014 bis 2020 Vizepräsidentin für Studienangelegenheiten, Internationales und Diversität.
Anja Pistor-Hatam ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler wissenschaftlicher Institutionen, darunter die Akademie der Wissenschaften in Hamburg. In der Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit der Geschichte Irans, d. h. mit Geschichtsschreibung, Menschenrechten sowie mit Fragen von Gerechtigkeit und Toleranz vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Seit November 2023 arbeitet sie am Teilprojekt „Kollektive Identitäten im modernen Iran: Revolutionen als historische Kristallisationspunkte von Kategorisierung, Radikalisierung und Toleranz“ der von der DFG geförderten interdisziplinären Forschungsgruppe Die Schwierigkeit und Möglichkeit von Toleranz: Die vielfältigen Herausforderungen des Konzepts und der Praxis von Toleranz.