Das geeinte Europa – ein Hort der Freiheit?

Einst gegründet, um nach den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs Frieden und Freiheit zu gewährleisten, bietet die Europäische Union ihren Bürgerinnen und Bürgern Freizügigkeit, sieht sich zugleich aber gezwungen, sich nach außen abzugrenzen.
Essay von Gabriele Clemens, 15. April 2024

Plakat zur Feier der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957)
Plakat zur Feier der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957)

Freiheit als europäisches Grundrecht mit langer Tradition

Freiheit ist einer der zentralen Begriffe der Europäischen Union (EU). Laut dem 2007 geschlossenen Vertrag von Lissabon ist die Freiheit Teil des europäischen Erbes und damit Verpflichtung für die Gestaltung der EU-Politik. In der Grundrechtecharta, zu der sich die EU bekennt, ist ein eigenes Kapitel (Kapitel II) ausschließlich dem Begriff der Freiheit gewidmet und bezieht sich unter anderem auf individuelle Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit oder Asylrecht und Schutz bei Abschiebung. Kurz gefasst, gilt das geeinte Europa als „Raum der Freiheit“, ebenso wie als Raum der Sicherheit und des Rechts.

„Die föderalistische Idee ist ein dynamisches Prinzip, das in alle Bereiche menschlicher Tätigkeit eingreift (…) Sie ist das Ergebnis einer Synthese aus zwei untrennbar miteinander verbundenen Elementen: der organischen Solidarität und der Freiheit (…) So koordiniert, ist die Freiheit zum eigentlichen Prinzip dieses Aufbaus geworden, einem Prinzip, das zugleich europäisch und allgemein menschlich ist…“[1]

Dass der Freiheitsbegriff einen so zentralen Stellenwert seit den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses einnahm, hatte verschiedene Gründe. Zum einen waren es die Erlebnisse von Diktatur, Unterdrückung und Krieg, die unter den Zeitgenossen das Bekenntnis zur Freiheit zum bestimmenden Moment für die Gestaltung der Zukunft werden ließen. So wird bereits in den Schriften der europäischen Widerstandsgruppen die enge Verbindung von künftiger Einigung der europäischen Staaten und Sicherung der Freiheit hergestellt – die Überwindung der nationalstaatlichen Abgrenzung garantiere Freiheit für die Individuen und Völker.[2] Zum anderen wird nach dem Kriege, insbesondere von US-amerikanischer Seite, die ökonomische Freiheit als Garant für Sicherheit und Wohlstand propagiert. Die Werbung für den Marshallplan Ende der 1940er Jahre betonte beispielsweise den freien Warenaustausch und die Überwindung nationalstaatlicher Begrenzungen als Mittel zur Förderung von Wohlstand und Frieden in Europa. Hinzu kam die Assoziation von Westeuropa und Freiheit als Gegenbild zum kommunistischen, totalitären Osten. Von amerikanischer Seite wurde wiederholt verkündet, dass die Einigung Europas ein Schutz vor östlichem Totalitarismus und damit ein Garant für Freiheit darstelle.

Offene Grenze am Ostsee-Strand (Ahlbeck-Świnoujście)

Freie Waren, freie Menschen

Auf europäischer Seite setzte der zur heutigen EU führende Integrationsprozess in den 1950er Jahren mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957) ein. Der Begriff der Freiheit ist in beiden Gemeinschaften bzw. Gemeinschaftsverträgen zentral, bezieht sich aber in erster Linie auf den ökonomischen Bereich. Bekannt geworden ist insbesondere der EWG-Vertrag durch die sogenannten ‚vier Freiheiten im Binnenmarkt‘. Diese umfassten neben dem freien Warenverkehr den ungehinderten Austausch von Dienstleistungen (freier Dienstleistungsverkehr) und den freien Personen- und Kapitalverkehr. Durch den Wegfall von Zollgrenzen und Kontingentierungen sollte – so das Versprechen der Gründerväter – (West)europa wirtschaftlich erblühen und den Wohlstand seiner Bürger dauerhaft sichern. Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes mit den genannten vier Freiheiten führte tatsächlich zu einem enormen Wohlstandsgewinn und ließ die EWG in den 1960er Jahren zu einer ‚Erfolgsstory‘ werden.[3]

Ein weiterer Schritt in Bezug auf die Bewegungsfreiheit der Bürger der Europäischen Gemeinschaften (EG) wurde mit dem in den 1980er Jahren geschlossenen Schengener Abkommen vollzogen. Das Schengener Abkommen – benannt nach einer Stadt in Luxemburg – beinhaltete den Abbau der Kontrollen im Personen- und Straßengüterverkehr an den Binnengrenzen und bedeutete, dass sich die EG-Bürger frei in diesem Raum bewegen konnten. Europa als grenzfreier Raum – das war schon der Traum der Europabefürworter in den 1940er und 1950er Jahren. Bis heute gilt diese den Alltag der Europäer prägende Erfahrung von Freiheit als eine wichtige Errungenschaft der Einigung Europas, und viele Staaten – wie zuletzt Rumänien und Bulgarien – strebten danach, möglichst schnell in den Schengen-Raum aufgenommen zu werden.

Dass das geeinte Europa in den Augen vieler als ein Hort der Freiheit – bezogen sowohl auf die Rechte einzelner Individuen als auch auf die Wirtschaftsprinzipien – galt, zeigte sich unter anderem auch in dem Wunsch der mittelosteuropäischen Staaten nach 1990, in die Europäischen Gemeinschaften bzw. die Europäische Union aufgenommen zu werden. Das freiheitliche Europa präsentierte für sie das Gegenbild zu ihrer als Unterdrückung und Unfreiheit wahrgenommenen unmittelbaren Vergangenheit im sowjetischen Einflussbereich.

Geschlossene Grenze in Melilla (Spanien/Marokko)
Geschlossene Grenze in Melilla (Spanien/Marokko)

Die Freiheit der Anderen

Die Freiheit für die EU-Bürger im Inneren forderte bzw. fordert aber auch einen Tribut, oder anders ausgedrückt, verweist auch auf die andere Seite der Medaille. Denn die Verwirklichung und Sicherung der vier Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt sowie die Bewegungs- oder Reisefreiheit der EU-Bürger durch den Wegfall von Kontrollen an den Binnengrenzen mach(t)en zugleich als Kompensation einen Schutz nach außen notwendig. Bezogen auf den freien Warenverkehr im Binnenmarkt beispielsweise impliziert(e) dies einen gemeinsamen Außenzoll und den Rückgriff auf protektionistische Maßnahmen gegenüber Dritten.

Wenngleich auch seit den Anfangsjahren des Einigungsprozesses und unterstützt durch internationale Handelsvereinbarungen wie GATT/WTO (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen/Welthandelsorganisation)[4] der Abbau von Zöllen nach außen vorangetrieben und das Prinzip der weltweiten Handelsliberalisierung verstärkt anvisiert und verwirklicht wurde, so bewegten sich die Europäischen Gemeinschaften doch ständig „auf einem schmalen Grat zwischen ‚protection‘ einerseits und ‚protectionism‘ andererseits“.[5]  Dies trug den Gemeinschaften bereits Ende der 1980er Jahre den Vorwurf einer ‚Festung Europa‘ ein.[6] Dieser Vorwurf der Abschottung eines wohlhabenden Europas gegenüber Außenstehenden wurde verstärkt in den vergangenen Jahren erhoben, als immer mehr Flüchtlinge aus anderen Erdteilen den Weg nach Europa suchten und die EU den Schutz ihrer Außengrenzen verstärkte. Aber ebenso wie der freie Warenverkehr im Binnenraum Schutzmaßnahmen an den Außengrenzen erforderlich machte, so führten auch die Bestimmungen zum freien Personenverkehr sowie insbesondere die durch das Schengener Übereinkommen garantierte Bewegungsfreiheit der Unionsbürger innerhalb der EU zu Regelungen, um dieses hohe Gut zu schützen.

Freiheit in Europa

Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht
Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht

Bereits mit dem 1991 geschlossenen Vertrag von Maastricht, der die EU begründete, wurden die Asyl- und Einwanderungspolitik sowie die Angleichung von Kontrollen an den Außengrenzen auf Gemeinschaftsebene geregelt, wenngleich dieser Bereich zunächst dem intergouvernementalen Entscheidungsverfahren unterlag, d.h. Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten erforderte. Mit den EU-Folgeverträgen von Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) wurde dieser Regelungsbereich weiter vertieft und mit neuen Aufgaben und Strukturen versehen. So wurden u.a. gemeinschaftliche Regelungen zum Asylanspruch und Asylverfahrensrecht sowie zur Anerkennung und zum Schutz von Flüchtlingen und zum Einwanderungsrecht erlassen und 2004 mit ‚Frontex’ eine Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache geschaffen, die in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten für die Kontrolle der EU-Außengrenzen zuständig ist. Im derzeit gültigen Vertrag von Lissabon sind diese gesamten Regelungen unter dem bezeichnenden Titel „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Titel IV) zusammengefasst. Durch die Verbindung des Begriffs Freiheit mit den zu treffenden Regelungen in den Bereichen Asyl, Einwanderung, Schutz von Drittstaatsangehörigen, Bekämpfung illegaler Migration usw. wird schon deutlich, dass diese Maßnahmen die von mancher Seite heftig kritisierte Kehrseite für die Gewährung von Freiheit im Inneren darstellen. 

Freiheit in Europa – und für die Verwirklichung bzw. Sicherung dieses Anspruchs steht die EU seit ihren Anfängen – erfordert zugleich auch als Kompensation Schutz und partielle Abgrenzung nach außen.[7] Freiheit – und hier sei an die eingangs zitierten Worte aus der europäischen Einigungsbewegung der 1940er Jahre erinnert – ist zum Prinzip des europäischen Aufbaus geworden, eines Prinzips, das zutiefst europäisch und zugleich allgemein menschlich ist.

Fußnoten

  1. Kongreß der Union Europäischer Föderalisten (UEF) in Montreux: Entschließungen, 30. August 1947, in: Walter Ligpens (Hg.): 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984, Bonn 1986, S. 220.
  2. Siehe u.a. Le Franc-tireur. Organe du Mouvement de Libération Nationale, Edition Sud Nr. 29, 1.3.1944, abgedr. in Walter Lipgens (Hg.): Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-1945. Eine Dokumentation, München 1968, S 235-236, hier S. 236.
  3. Siehe dazu Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille: Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008.
  4. GATT=General Agreement on Tariffs and Trade; WTO=World Trade Organisation.
  5. Wolfgang Müller-Huschke: Eine „Festung Europa“? Das EG-Handelsschutzrecht als Instrument zur Sicherung des Europäischen Binnenmarktes, Baden-Baden 1991, S. 270.
  6. Siehe dazu ausführlich Gabriele Clemens: Festung Europa? Kleine Entwicklungsgeschichte der europäischen Integration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 72. Jg. (2022), H. 42, Bonn 2002, S. 4-10.
  7. Es sei denn, man vertrete, wie der Schweizer Philosoph André Cassee in seinem Buch „Globale Bewegungsfreiheit (Berlin 2016) die Ansicht, dass grundsätzlich jeder Mensch frei entscheiden soll, in welchem Land er leben will und daher Einwanderungsbeschränkungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind.

 

Prof. Dr. Gabriele Clemens

Gabriele Clemens studierte von 1972 bis 1977 Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Marburg, gefolgt von einem Studium der Germanistik von 1977 bis 1979. Sie wurde 1981 im Fach Geschichte an der Universität Marburg promoviert und war anschließend als wissenschaftliche Angestellte und Hochschulassistentin an der Universität Marburg tätig. Sie habilitierte sich 1994 an der Universität Marburg. Von 1995 bis 1998 vertrat Clemens einen Lehrstuhl an der Universität Hamburg, bevor sie 1998 auf eine C3-Professur für neuere europäische Geschichte mit einem Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien berufen wurde. Seit 2000 ist sie C4-Professorin für neuere europäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte: Europäische Integrationsgeschichte, Europäisierungs- und Sozialisierungsprozesse in intergouvernementalen Politikbereichen, Filme und Öffentlichkeitsarbeit für den europäischen Integrationsprozess, Europäische Identität, Großbritannien und Europa.

Gabriele Clemens ist Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.