Richard Heinzel: Briefe an Wilhelm Scherer

Hans-Harald Müller (Hg.), Felix Oehmichen (Hg.) , Christine Putzo (u. M. v.)

Kommentierte Briefedition in den Beiträgen zur Geschichte der Germanistik 11

Die Edition der Briefe Heinzels aus den Jahren 1859 bis 1886 – die Briefe Scherers gelten mit wenigen, hier gedruckten, Ausnahmen als verloren – stellt eine einzigartige Quelle dar nicht allein für die Herkunft, die intellektuelle Biographie und die Werkentwicklung der Korrespondenzpartner, sondern zugleich auch für die Geschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert.

Richard Heinzel (1838–1905), wohl einer der bedeutendsten österreichischen Altgermanisten des 19. Jahrhunderts, studierte Germanistik und Klassische Philologie in Wien und arbeitete zunächst als Lehrer und zeitweilig als Hofmeister einer Fürstenfamilie in Rumänien. 1873 wurde er Nachfolger seines Freundes Wilhelm Scherer (1841–1886) auf der germanistischen Lehrkanzel in Wien, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Dort prägte er die Fachgeschichte u. a. mit der Heranbildung weiterer bedeutender Germanisten wie August Sauer, Erich Schmidt, Rudolf Meringer, Samuel Singer, Oskar Walzel, Carl von Kraus. Heinzels eigene akademische Laufbahn wurde maßgeblich gefördert von seinem Lehrer Wilhelm Scherer, eine der zentralen Gründerfiguren der Germanistik im 19. Jahrhundert. Scherer und Heinzel verbanden übereinstimmende wissenschaftliche Ansichten – etwa ihr Positivismus – und eine Freundschaft, die sich u. a. in Form ihrer Korrespondenz von 1859 bis zu Scherers Tod 1886 äußerte.

Heinzel war konsequenter Empirist; er lehnte den Nationalismus der deutschen Germanistik ab. Selbst ein glänzender Schriftsteller, entwickelte er eine eigene Konzeption der Literaturgeschichte als Kunstgeschichte poetischer Formen, die seinen und den Arbeiten seiner Schüler ein eigenes Profil gegenüber der deutschen Germanistik verlieh. Heinzel forschte zur Grammatik und Literatur zahlreicher Sprachen und Literaturen des mittelalterlichen Europa, um von dessen Kultur ein umfassendes Bild zu gewinnen. Seine Studien zur formalen Beschreibung literarischer Werke wurden erst in jüngster Zeit in ihrer Bedeutung erkannt.


Die Briefe dieser Erstedition enthalten Informationen zu Heinzels Herkunft, seiner mentalen Prägung und politischen Orientierung, seiner Biographie inklusive der Station als Fürstenerzieher, seiner Ausbildung, akademischen Laufbahn und zur Werkgeschichte mit zahlreichen Publikations- und Editionsprojekten, zu Lebensführung (Finanzen, Geselligkeit, Reisen, Sport, Lektüren), intellektuellen und fachlichen Vernetzung, akademischen Aufgaben sowie seinen Stellungnahmen zur Fachentwicklung und Zeitgeschichte etc. Insbesondere bilden die Dokumente eine Grundlage, um Heinzels Stellung im germanistischen Panorama des 19. Jahrhunderts klarer zu ermessen.

Anders als die auf das »germanische Altertum« konzentrierte deutsche Germanistik orientierte sich sein Forschungskonzept für die alt- und mittelhochdeutsche Literatur an der lateinischen Tradition des Mittelalters und der Romania. Er forderte eine Quellenforschung und Kontextualisierung, die erst im 20. Jahrhundert zum Paradigma wurde. Vergleichbar innovativ – bzw. in den Augen der Zeitgenossen sogar revolutionär – war seine Auffassung der Literaturhistorie als Kunstgeschichte der Poesie, das heißt ihres Stils und ihrer literarischen Formen. In Studien zur isländischen Saga und zum mittelalterlichen Drama konzipierte Heinzel ein Beschreibungsprogramm literarischer Gattungen als möglichst umfassende Klassifikation nachweislicher ästhetischer Text-Merkmale, das auf Analyseinstrumentarien des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere die Narratologie, vorausweist. Schließlich können anhand von Heinzel exemplarisch Unterschiede der deutschen und österreichischen Germanistik herausgearbeitet werden. Während die reichsdeutsche Germanistik historistisch und von der nationalen Idee letztlich politisch geprägt war, entwickelte sich im Nationalitätenstaat Österreich ein universalistisch auf Integration zielender Positivismus, den Heinzel als einer der dezidiertesten Empiriker und zugleich begeisterungsfähig unverbissen vertrat.

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