„Der Kompass der Nordfriesen“: Wie Landmarken, Himmelsrichtungen und mentale Karten des nordfriesischen Milieus Sprachgebrauch beeinflussten

Frisist Christoph Winter im Gespräch

Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg verleiht den Elise-Reimarus-Preis 2023 an den Frisisten Christoph Winter. Er überzeugte die Jury mit seiner Dissertation „Der Kompass der Nordfriesen. Sprachliche Kodierung absoluter Orientierung am Beispiel der Himmelsrichtungen und Richtungspartikeln im Nordfriesischen“. Der junge Wissenschaftler vom Institut für Skandinavistik, Frisistik und allgemeine Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat mit seiner Arbeit bisherige Annahmen auf dem Gebiet der Raumlinguistik in ein neues Licht gerückt.

Im Gespräch gibt Christoph Winter Einblicke in seine Forschungsarbeit und erzählt von seinen persönlichen Bezugspunkten zum Thema.

Welchen Einfluss hatte Ihr Geburtsort in Schleswig-Holstein auf Ihre Begeisterung für die friesische Sprache?

Ich stamme gebürtig aus Niebüll, einer Kleinstadt auf dem nordnordfriesischen Festland. Historisch haben in dieser Gegend eine Reihe von Varietäten verschiedener Sprachen nebeneinander existiert. Dazu gehören neben Hochdeutsch, Niederdeutsch und Rigsdansk, der Standardvarietät der dänischen Sprache, auch die beiden autochthonen, also alteingesessenen Sprachen Nordfriesisch und Sønderjysk. Nordfriesisch untergliedert sich auf kleinstem Raum in zahlreiche lokale Mundarten und Sønderjysk ist die dialektale dänische Varietät der deutsch-dänischen Grenzregion.

Ich selbst bin zwar einsprachig mit Hochdeutsch aufgewachsen, habe aber in der Grundschule am Unterricht in der lokalen nordfriesischen Mundart (Mooring) teilgenommen. Ich konnte den Friesisch-Unterricht im Rahmen eines freiwilligen Zusatzangebotes belegen. Später am Gymnasium habe ich mich ganz bewusst dafür entschieden, Rigsdansk zu lernen. Mein Großvater sprach, wenn ich ihn über die Grenze nach Dänemark begleitete oder wenn der dänische Teil der Verwandtschaft ("Die Dänemarker") zu Besuch waren, Sønderjysk. Das hatte sein Vater an ihn weitergegeben. Mein anderer Großvater stammte aus der Gegend um Flensburg und sprach ein auffällig dänisch und niederdeutsch interferiertes Hochdeutsch, das man dem Spektrum der Flensburger Mischsprache Petuh zuordnen kann. Ich erinnere mich noch sehr gut an Fragen und Aussagen wie "Kannst du satt kriegen in Kiel?" oder "Ich soll sehen und kommen in die Gänge!".

Aufgewachsen mit der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit Nordfrieslands

Ebenso erinnere ich mich, dass meine Großmutter mich zu verschiedenen Veranstaltungen ihres Handarbeiterinnenvereins mitnahm, wo die Anwesenden lebhaft auf Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch und manchmal auch Dänisch miteinander kommunizierten. Damals konnte ich diese Sprachen- beziehungsweise Varietätenvielfalt natürlich noch nicht einordnen. Heute weiß ich, dass sie eine historische Besonderheit des deutsch-dänischen Grenzraums ist. Eine Besonderheit, die sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzieht und im Schwinden begriffen ist. Bezeichnend dafür ist wahrscheinlich, dass ich erst herausfand, dass nicht nur direkte Nachbarn, sondern auch Verwandte aus Rodenäs Friesisch sprachen, nachdem ich angefangen hatte, Friesisch zu studieren. Die Wahl meiner Studienfächer Friesische Philologie und Skandinavistik kann ich jedenfalls direkt auf meine persönlichen Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit Nordfrieslands zurückführen: Ich wollte mehr über den deutsch-dänischen Grenzraum erfahren, vor allem im Hinblick auf die dort gesprochenen Sprachen, insbesondere in Nordfriesland.

Was begeistert Sie an Friesisch? 

Angenehm finde ich persönlich, dass die nordfriesische Sprache keine förmliche Ausdruckweise kennt, also dass man sich nur duzt und es keinen formalen Unterschied zwischen gesprochenem und geschriebenem Friesisch gibt. Ich habe auch deshalb immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Nordfriesisch im Gespräch unmittelbar Distanz abbaut. Ansonsten betrachte ich seit dem Studium das Nordfriesische vor allem durch die Augen der Sprachgeschichts- und Grammatikforschung. Spannend fand ich schon immer die Frage, welche Faktoren zur auffällig kleinräumigen dialektalen Zersplitterung des Nordfriesischen geführt haben, welche Merkmale die einzelnen Mundarten auszeichnen, wie sie sich jeweils zum überlieferten Altfriesisch aus West- und Ostfriesland verhalten und was sie uns über den historischen Kontakt mit anderen Sprachen verraten – beispielsweise über den Einfluss des Englischen auf das Helgoländische, des Niederländischen auf die inselnordfriesischen Mundarten und das Halligfriesische oder des Sønderjysk auf die festlandnordfriesischen Mundarten.

Auffällig kleinräumige dialektale Zersplitterung des Nordfriesischen

Mich begeistern sprachliche Charakteristika des Nordfriesischen wie die Tatsache, dass etwa im Bökingharder Friesischen noch einige Zahlwörter nach Genus flektieren: so tou wüste – „zwei Frauen“ im Vergleich zu twäär mååns – „zwei Männer“. Oder dass im Sylter Friesischen neben Singular und Plural bis in die jüngere Vergangenheit auch der Dual überlebt hat: so wat – „wir beide“ oder unk – „uns beiden“. Auch dass unzählbare Objekte wie Flüssigkeiten und Substanzen im Nordfriesischen offenbar mal zählbar waren: so dä Bööder sen goo(d) – „die Butter ist gut“ (wörtlich: „die Butter sind gut“) oder dass es im Karrharder Friesischen früher Sätze mit zwei finiten Verben gab: so Huum wert'n namt? – „Wer nimmt ihn?“ (wörtlich: „Wer tut ihn nimmt?“).

Am Studium der Friesischen Philologie (heute „Frisistik“) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat mir ganz besonders gefallen, dass Studierende schon früh sehr nah an die Forschung herangeführt werden. Gerade weil die Zahl derer, die sich wissenschaftlich mit dem Nordfriesischen beschäftigen, nie sonderlich groß war, gibt es noch immer sehr viel zu entdecken und zu erforschen. Vor ein paar Jahren hatte ich beispielsweise das große Glück, im Nachlass der Brüder Grimm in Berlin eine bis dahin unbekannte Fassung der föhrerfriesischen Ballade Bai Reder aufzufinden. Es ist das einzige überlieferte nordfriesische Lied, dessen Ursprung ins Mittelalter datiert werden kann. Dass es insgesamt relativ leicht ist, innerhalb des Faches eigene Forschungsschwerpunkte zu setzen, hat letztendlich auch dazu beigetragen, dass ich meine Dissertation einer raumlinguistischen Fragestellung gewidmet habe. Denn zu diesem Bereich der Sprachwissenschaft gab und gibt es speziell in Bezug auf das Nordfriesische fast gar keine Forschungsliteratur.

Wie haben Sie Ihr Dissertationsthema „Der Kompass der Nordfriesen“ entdeckt?

Maßgeblich inspiriert wurde meine Arbeit von Orts- und Richtungsbeschreibungen wie wie del tod Nôarden („runter nach Norden“), ep jitter Horbel ta („rauf nach Horsbüll“) oder Det wiar de Hukstuul üüb e Waastereeg faan e Boosel („Das war der Eckstuhl auf der Westseite des Tischs“), die mir in nordfriesischen Texten begegnet sind. Und aus der standardsprachlichen Perspektive des Hochdeutschen werfen sie durchaus Fragen auf:

• Heißt es nicht „rauf nach Norden“?
• Wieso ist Horsbüll oben, obwohl das Kirchspiel weniger als ein Meter über dem Meeresspiegel liegt?
• Und warum kann die Position von Möbeln mit Himmelsrichtungen beschrieben werden, wenn laut gängiger Lehrmeinung nur geographische oder größere immobile Objekte auf diese Weise lokalisiert werden?

„Eckstuhl auf der Westseite des Tischs“

Um Antworten auf diese und vergleichbare Fragen finden zu können, habe ich sämtliche mir zur Verfügung stehenden schriftlichen Quellen aller nordfriesischen Mundarten aus raumlinguistischer Perspektive auf den Gebrauch der Begriffe für die Himmelsrichtungen und die Verwendung der Richtungspartikeln untersucht – besonders rauf, runter, raus, rüber und rum, die etwa im Bökingharder Friesischen ap, dil, üt, ouer und am lauten. Später konnte ich das Material um mündliche Daten ergänzen, die ich im Rahmen semistrukturierter Interviews mit 19 Gewährsleuten in Nordfriesland erhoben habe. So in der Bökingharde und der Wiedingharde sowie auf Föhr, Amrum und Sylt.

Können Sie kurz zusammenfassen, um was es in Ihrer Arbeit genau geht?

Um erklären zu können, welche Schlüsse ich aus dem so zusammengestellten Korpus nordfriesischer Orts- und Richtungsbeschreibungen gezogen habe, muss ich an dieser Stelle doch etwas ausholen.

Wir Menschen können unsere räumliche Orientierung unter anderem durch Gestik ausdrücken, mit Karten abbilden oder auch mit Sprache ausdrücken – beispielsweise, wenn wir darüber sprechen, wo sich jemand oder etwas befindet oder hinbewegt. Für diesen Vorgang der Objekt-Lokalisation stehen uns eine ganze Reihe von lokalisierenden Ausdrücken und grammatischen Strategien zur Verfügung. Obwohl diese sich von Sprache zu Sprache stark voneinander unterscheiden können, geschieht die Objekt-Lokalisation operational immer auf dieselbe charakteristische Art und Weise: Das zu lokalisierende Objekt wird in Relation zu einem Vergleichsobjekt lokalisiert. In der Objekt-Lokalisation Die Leute sitzen vor dem Bildschirm sind beispielsweise die Leute das lokalisierte Objekt, dessen Ort im Verhältnis zum Vergleichsobjekt Bildschirm beschrieben wird.

Innerhalb dieser sehr engen definitorischen Grenzen stehen nun mehrere Strategien zur Spezifizierung der Lokation eines Objekts zur Verfügung. Und diese können in Sprachen unterschiedlich dominant und ausdifferenziert zur Anwendung kommen. Dazu gehören auch Lokalisationen, denen ein sogenannter Referenzrahmen zugrunde liegt. Dabei handelt es sich um ein Koordinatensystem, das alle involvierten Argumente einer sprachlichen Objekt-Lokalisation auf spezifische Weise in ein Raster einordnet und so die Orientierung festlegt. Wichtig ist, dass typologisch insgesamt drei Referenzrahmen anhand verschiedener Kriterien, zu denen unter anderem die Art der Verankerung des Koordinatensystems gehört, voneinander zu unterscheiden sind: der intrinsische, der relative und der absolute.

Strategien zur Objekt-Lokalisation und Referenzrahmen

Ein intrinsischer Referenzrahmen liegt beispielsweise einer Lokalisation wie Er steht vor dem Haus zugrunde. Hier wird dem Vergleichsobjekt Haus auf Grundlage seiner konzeptuellen Eigenschaften Seiten zugeordnet: eine Vorderseite, eine rechte, eine Hinter- und eine linke Seite – wobei die Seiten etwa durch die Lage der Haupteingangstür oder den Zugang zur Straße festgelegt sein können. Das Koordinatensystem mit den Quadranten vor / rechts / hinter / links ist hier also am Vergleichsobjekt selbst verankert, ordnet so die Argumente der Objekt-Lokalisation in ein Raster ein und legt die Orientierung fest.

Bei relativem Referenzrahmen wird dem Vergleichsobjekt stattdessen in Abhängigkeit von einem dritten Argument – der Perspektive einer wahrnehmenden Entität, die weder mit dem Vergleichsobjekt noch dem lokalisierten Objekt identisch ist – Seiten zugeordnet. In der Objekt-Lokalisation Er steht [aus einer bestimmten Perspektive] vor dem Baum handelt es sich bei dem Vergleichsobjekt Baum um ein Objekt, das auf der Horizontalen rund ist und keine intrinsischen Seiten besitzt. Auch in diesem Fall liegt ein Koordinatensystem mit den Quadranten vor / rechts / hinter / links vor. Es ist hier allerdings von den intrinsischen Seiten des dritten Arguments, des Wahrnehmenden abgeleitet, deshalb nicht am Vergleichsobjekt, sondern am Wahrnehmenden verankert und auf das Vergleichsobjekt übertragen worden. Die Vorderseite des Baumes ist also eine pseudointrinsische, relative Seite.

Ein absoluter Referenzrahmen liegt wiederum vor, wenn das Koordinatensystem stattdessen an einem Merkmal oder Merkmalbündel des Milieus verankert ist, in dem die Sprache gesprochen wird –  beispielsweise an Landmarken wie einem Küstenverlauf oder einem Berghang. Im Tzeltal, das in Mexiko gesprochen wird, ist das absolute Koordinatensystem beispielsweise vom Gefälle eines Gebirges abgeleitet. Objekte können hier in fast allen räumlichen Kontexten mit Begriffen in Relation gesetzt werden, die sich auf dieses Gefälle beziehen: Zwei Tassen auf einem ebenen Tisch würden also danach unterschieden werden, welche weiter „bergauf“ oder „bergab“ steht. Objekt-Lokalisationen, die auf dieser Strategie basieren, setzen voraus, dass ihre Urheber nicht nur über mentale Karten ihres Milieus, sondern auch über einen geschärften Sinn für innere Koppelnavigation verfügen, der regelmäßig mit visuellen oder anders wahrnehmbaren Informationen des Milieus und kontinuierlichen Hintergrundkalkulationen räumlicher Relationen versorgt wird. Dieses absolute Orientierungsvermögen ermöglicht unter anderem, dass sich jederzeit spontan der Ort und die Bewegungsrichtung jedes beliebigen Punktes in Relation zu jedem anderen beliebigen Punkt spezifizieren lässt.

Und wie baut Ihre Untersuchung des Nordfriesischen nun auf diese theoretische Grundlage auf?

In meiner Dissertation habe ich mich der Frage gewidmet, ob auch die Sprecher des Nordfriesischen über absolute Orientierung verfügten und welche Merkmale ihres Milieus diese gegebenenfalls ermöglichten.

Hinsichtlich meiner Forschungsfrage erwiesen sich unter anderem die Richtungspartikeln als vielversprechender Untersuchungsgegenstand. Diese sind im Nordfriesischen bei der Beschreibung der Bewegung eines Objekts obligatorisch und werfen gerade in geographischen Zusammenhängen verschiedene Fragen auf, die sich ohne eine gesamtheitliche vergleichende Betrachtung nicht ohne Weiteres beantworten lassen. Wie sich herausstellte ist dieser geographische Gebrauch der Richtungspartikeln für Ortsfremde oft unverständlich und nicht fehlerlos reproduzierbar. Wieso unterscheidet ein gebürtig aus Norddorf stammender Amrumer beispielsweise zwischen ap uun Dünam ‚[von Norddorf aus] hinauf in die Dünen‘ und ütj uun Dünam ‚[von Norddorf aus] hinaus in die Dünen‘? Eben weil diese Strategie der Objekt-Lokalisation mentale Karten des nordfriesischen Milieus und ein darauf beruhendes absolutes Orientierungsvermögen voraussetzt.

Mentale Karten des nordfriesischen Milieus

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die geringen, mit bloßem Auge oft kaum zu erkennenden Höhenunterschiede der vor allem als flach wahrgenommenen Landschaft eine besondere Bedeutung im Leben der Nordfriesen besaßen. Der Grund liegt darin, dass sie die räumlichen Verhältnisse ihrer Heimat genau kennen und das Risiko einschätzen können mussten, in welchem Maße eine zu besiedelnde oder landwirtschaftlich zu nutzende Fläche von Stauwasser oder Sturmfluten bedroht war, um in ihrem extremen Milieu dauerhaft überleben zu können. Landverlust, Landgewinn und Landsicherung sind zentrale Themen der nordfriesischen Geschichte. Zu den soziokulturellen Praktiken und siedlungsstrategischen Traditionen, die aus der Adaption an dieses topographische Merkmal der zwar relativ geringen, jedoch existenziell bedeutsamen Höhenunterschiede hervorgegangen sind, gehörte unter anderem, bevorzugt an der Kante zwischen der niedrigeren Marsch und etwas höher liegenden Geest zu siedeln oder auf künstlich aufgeschütteten Warften in der Marsch. Hier legte man außerdem komplexe Deich- und Drainagesysteme an. Die topographischen Höhenunterschiede seines Lebensraums gehörten dementsprechend zum Weltwissen des Nordfriesen. Sie prägten seinen Alltag auf vielfältige Art und Weise und das Gefälle stellte das zentrale Element bzw. Raster seiner mentalen Karte des Milieus dar.

Kenntnis räumlicher Verhältnisse als Überlebensgrundlage

Nun hat sich gezeigt, dass sich diese erzwungene natürliche Anpassung an die Topographie des extremen Lebensraums im geographischen Gebrauch der Richtungspartikeln seiner Bewohner widerspiegelt. So geht aus den zahlreichen schriftlichen und mündlichen – oft spontansprachlichen – Belegen für diese Strategie der Objekt-Lokalisation hervor, dass die Nordfriesen die Richtungspartikeln rauf, runter, raus, rüber und rum in Abhängigkeit vom topographischen Gefälle zur Beschreibung der vier Richtungen eines Achsenkreuzes verwendeten. Diese fünf Richtungspartikeln formten ein Koordinatensystem mit einer gesamtnordfriesisch einheitlichen, prototypischen Grundstruktur, das – dem absoluten Referenzrahmen entsprechend – an einem Merkmal des nordfriesischen Milieus verankert war. Seine Primärachse, auf der mit den Richtungspartikeln rauf einerseits und runter / raus andererseits zwischen den beiden Richtungen diskriminiert wurde, korrespondierte immer mit dem Gefälle des Terrains, während die beiden Richtungen der kreuzenden, unterspezifizierten Sekundärachse jeweils mit den Richtungspartikeln rüber und rum beschrieben wurden. Bemerkenswert ist in diesem Fall, dass die Primärachse auf einer Vertikalen basierte, die wegen des so geringen Gefälles eine extrem bzw. annähernd horizontale Neigung besaß. Die Ausdrücke rauf und runter wurden also zur Beschreibung räumlicher Verhältnisse herangezogen, die auf der Vertikalen oft kaum wahrzunehmen waren. In der festländischen Wiedingharde verwendeten die Nordfriesen beispielsweise zur Beschreibung einer Bewegung nach Westen rauf, nach Osten entweder runter oder raus und nach Norden und Süden jeweils rüber und rum. Dabei beträgt der Höhenunterschied zwischen Horsbüll im Westen und dem Tief im Osten nicht mal einen Meter.

Ein weiterer wichtiger Untersuchungsbefund ist, dass dieses absolute Koordinatensystem in Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten und der Weite des räumlichen Kontextes, in die eine Objekt-Lokalisation eingebettet war, variieren konnte. In Bezug auf ganz Nordfriesland war die Primärachse des Koordinatensystems etwa gegenteilig ausgerichtet: zur Beschreibung einer Bewegung nach Westen wurde entweder runter oder raus und nach Osten rauf verwendet.

Topographische Höhenunterschiede als Weltwissen der Nordfriesen

Welche Richtungspartikel gebraucht wurde, war letztendlich dadurch bestimmt, wo genau der Urheber der Objekt-Lokalisation aufgewachsen war und mit welcher Ausrichtung die Sprechergruppen das Koordinatensystem von den topographischen Gefällen der nordfriesischen Landschaft abgeleitet hatten. Die absolute Orientierung oder – genauer gesagt – die Einordnung eines Objekts in das Raster der mentalen Karte wurde also durch visuelle oder erinnerte visuelle Informationen ermöglicht, die unmittelbar dem Gefälle selbst entnommen wurden, oder aber auch sekundär durch zuverlässige Hinweise, d. h. andere beständige immobile Landmarken, die Rückschlüsse auf das Raster gestatteten. Dazu gehörten natürliche, insbesondere aber auch immobile anthropogene Objekte, deren Position, Form oder Funktion aus soziokulturellen, siedlungsstrategischen Traditionen hervorgegangen sind, die sich in Anpassung an das topographische Gefälle entwickelt haben. So unter anderem die Form der Geestranddörfer und ihr charakteristisches Wegnetz oder Deichlinien und das besonders in der Marsch markante gleichmäßige Drainagesystem sowie vergleichbare Ackerparzellierungen auf der Geest. Diese absolute Orientierung ließ jederzeit die korrekte geographische Verwendung der Richtungspartikeln auch bei der spontanen Beschreibung erinnerter oder imaginierter Raumrelationen zu. Während dieser geographische Gebrauch der Richtungspartikeln früher einen natürlichen Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs der Nordfriesen darstellte, ist er mittlerweile beinahe geschwunden. Ein wichtiger Grund dürfte darin liegen, dass das topographische Gefälle der nordfriesischen Landschaft heute nicht mehr dieselbe Bedeutung für seine Bewohner hat wie in vergangenen Jahrhunderten. Es prägt kaum noch den Alltag der Einheimischen und ist weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden. Sie verfügen dementsprechend nur noch in seltenen Fällen über absolute Orientierung, mentale Karten und Koordinatensysteme, die auf der Topographie basieren.

Was haben Sie über den Gebrauch der Himmelsrichtungen herausgefunden?

Die Himmelsrichtungen werden in der raumlinguistischen Literatur häufig als Beispiel für ein sehr abstraktes System, das auf absolutem Referenzrahmen beruht, angeführt. Operational basieren Objekt-Lokalisationen anhand der Himmelsrichtungen zweifellos auf absolutem Referenzrahmen – nur woran ist das Koordinatensystem verankert? Wie orientierten sich die Sprecherinnen und Sprecher?

Heutzutage lokalisieren die Sprecher der germanischen Standardsprachen Objekte anhand der Himmelsrichtungen im Regelfall durch die Einordnung in ein Raster, das die festgelegten und mit den Himmelsrichtungen assoziierten Seiten einer zweidimensionalen Landkarte definieren – physisch präsent oder internalisiert. Von Bedeutung ist, dass dieser „Landkarten“-Gebrauch der Himmelsrichtungen weder eine mentale Karte des Gebietes, in das die Argumente der Objekt-Lokalisation eingebettet sind, noch ein absolutes Orientierungsvermögen erfordert. Er setzt deshalb nicht voraus, dass die Kommunikationsteilnehmer spontan in die Richtung weisen können, über die sie sprechen.

Mit anderen Worten basiert die Objekt-Lokalisation anhand der Himmelsrichtungen und die zugrunde liegende Orientierung nicht auf der wahrgenommenen räumlichen Relation physischer Objekte, sondern auf dem schulisch erlernten Umgang mit Karten und dem daraus generierten Wissen über mediale Repräsentationen geographischer Relationen. Dementsprechend werden vor allem großskalige und immobile geographische Objekte wie Länder, Gebirge, Städte usw., deren Lokationen üblicherweise auch im Rahmen des Geographieunterrichts besprochen werden, anhand der Himmelsrichtungen lokalisiert. Zwar dürfte in Nordfriesland gegenwärtig auch dieser „Landkarten“-Gebrauch die Verwendung der Himmelsrichtungen dominieren, allerdings offenbart eine genauere Betrachtung verschiedener (älterer) Sprachquellen, dass die Nordfriesen die Himmelsrichtungen tatsächlich häufig nutzten, um besonders kleinskalige oder auch mobile Objekte sogar innerhalb von Gebäuden zu lokalisieren – während gleichzeitig völlig unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist, dass dabei Hilfsmittel wie Kompasse, Landkarten o. ä. zum Einsatz kamen (siehe Info-Kasten unten).

Gebäude in Nordfriesland nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet

Die vorhin schon genannte Lokalisation Det wiar de Hukstuul üüb e Waastereeg faan e Boosel („Das war der Eckstuhl auf der Westseite des Tischs“) scheint dabei die Lehrmeinung, dass ein Buch in europäischen Sprachen eher nicht am Nordende eines Tisches liegen könne, direkt herauszufordern. Gesamtheitlich legen meine Daten schließlich nahe, dass die Nordfriesen die Himmelsrichtungen auch in ganz alltäglichen Situationen spontan ohne Hilfsmittel gebrauchten und über absolute Orientierung verfügten. Von essenzieller Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass früher nahezu alle Gebäude in Nordfriesland aufgrund von siedlungsstrategischen Traditionen, die sich im Zuge der Adaption an die Naturgewalten des extremen Milieus und im Einklang mit der lokalen Topographie entwickelt hatten, eine längliche Form besaßen und auf charakteristische Weise regional übereinstimmend mit den Kurzseiten nach Westen und Osten ausgerichtet waren. Diese einheitliche Bauweise prägte das Erscheinungsbild der nordfriesischen Siedlungen bis weit in das 19. Jahrhundert und mancherorts auch darüber hinaus. Dadurch konstituierten die Gebäude gesamtheitlich ein Netz aus beständigen, immobilen Landmarken, das aufgrund der freien Sicht in der flachen Küstenlandschaft von jedem beliebigen Ort innerhalb oder in der näheren Umgebung des Dorfs visuell zugänglich war. Es konnte also die Einwohner zuverlässig und vor allem auch ununterbrochen mit Informationen des Milieus versorgen. Dass das Gebäude als zentrales Element und Raster der mentalen Karte diente, die die absolute Orientierung und die darauf beruhende extreme, spontane Verwendung der Himmelsrichtungen ermöglichte, wird unter anderem durch vergleichbare Fälle in anderen Sprachen untermauert. Beispielsweise verfügten die Hova in Madagaskar ebenfalls über absolute Orientierung, die durch die charakteristische, einheitliche Bauweise ihrer Häuser ermöglicht wurde und auf der siedlungsstrategischen Adaption an Merkmale des Milieus beruhte. Der Schwund der extremen, spontanen Verwendung der Himmelsrichtungen im Nordfriesischen zugunsten des in den germanischen Standardsprachen verbreiteten „Landkarten“-Gebrauchs der Himmelsrichtungen steht unter anderem im Einklang mit der im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmenden Verdrängung traditioneller Gebäudetypen durch moderne Baustile, die Konstanten wie die charakteristische längliche Form und die einheitliche Ausrichtung nicht mehr aufgreifen.

Landmarken als Kompass der Nordfriesen

Meine Untersuchung lässt sich mit der Feststellung zusammenfassen, dass beide nordfriesischen Strategien der Objekt-Lokalisation, also die extreme, spontane Verwendung der Himmelsrichtungen und daneben auch der spontane geographische Gebrauch der Richtungspartikeln auf absolutem Referenzrahmen basierten. In beiden Fällen verfügten die Sprecher über mentale Karten, deren zentrales Element und Raster ein spezifisches, markantes, visuell wahrnehmbares Merkmal der nordfriesischen Landschaft darstellte. Diese Landmarken sind der Kompass der Nordfriesen gewesen.

Welche Relevanz haben die Ergebnisse Ihrer Untersuchung, vor allem für das Forschungsfeld der Raumlinguistik?

Nachdem jüngere raumlinguistische Studien etwa zum Isländischen, Färöischen und Dänischen bereits darauf aufmerksam gemacht hatten, dass absolute Orientierung entgegen der lange vorherrschenden Lehrmeinung auch in den nordgermanischen Sprachen eine Rolle gespielt hat, konnte ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts zweifelsfrei belegen, dass absolute Orientierung (zumindest in der Vergangenheit) auch bei verschiedenen Strategien der sprachlichen Objekt-Lokalisation im Nordfriesischen zum Ausdruck kam –  das heißt, im Westgermanischen zum Ausdruck kam. Mit diesem Ergebnis trägt die Arbeit zur Revidierung der etablierten raumlinguistischen Lehrmeinung bei, dass absolute Orientierung nur in exotischen Sprachen außerhalb Europas zum Ausdruck kommt. „Der Kompass der Nordfriesen“ stellt außerdem die erste größere Auseinandersetzung mit der nordfriesischen Raumsprache dar und mag, so die Hoffnung, weitere Forschung in diesem Fachbereich anregen.

Das Interview führte Dagmar Penzlin.

Veröffentlicht am 17. Juli 2023

Vielfältiger Gebrauch der Himmelsrichtungen im Nordfriesischen

Die Nordfriesen nutzten die Himmelsrichtungen häufig, um besonders kleinskalige und auch mobile Objekte sogar innerhalb von Gebäuden zu lokalisieren. Beobachtet wurde dies bereits im 19. Jahrhundert, was unter anderem zahlreiche metasprachliche Kommentare aus der deutschsprachigen Literatur zeigen. So wie der folgende aus Georg Weigelts Beschreibung der Insel Föhr von 1873:

[N]icht von der Person und ihrer zufälligen Richtung aus, sondern nach den unverrückbaren Himmelsgegenden des weiten Horizontes bestimmt und ordnet er [= der Föhrer Friese] die Dinge der Welt. Darum biegen die Strassen nach Osten oder Westen ab; das Fahren und Reiten „nördlich und südlich des Weges“ ist verboten; ja im Hause selbst gruppiren sich die Zimmer nach dem Weltall, wie auf der Landkarte die Länder und Städte; man hat nicht Hinter- und Vorder-, sondern Norder- und Süderstuben. Ich sah dem Durchsägen eines Balkens zu, und die Säge wich ein wenig von der graden Linie ab; da ermahnte der oben Stehende seinen Gehülfen unten [auf Niederdeutsch]: „Meer umme na de Süd!“ lass die Säge mehr südlich gehen. Wie correct und präcise! Rechts oder links hätte hier nichts bedeutet, weil die Arbeiter gegen einander standen. 

Aus den Sprachdaten geht beispielsweise hervor, dass in Nordfriesland Dorfbewohner anhand der Himmelsrichtungen unterschieden wurden: so füng se Paul Hinerịsen, dị wääster – „dann heiratete sie Paul Hinerịsen, den westlich(er)en“.

Zu den unzähligen, extremen Beispielen für den Gebrauch der Himmelsrichtungen gehören außerdem:

  1. Nü hed wi al nooch sän, dat diar en Blankstian tu e Waastereeg foon e Oonk uunstaken wiar – „Nun hatten wir alle wohl gesehen, dass da eine Fliese auf der Westseite des Ofens kaputt war“;
  2. dat ååster likapundāl Boord – „das östliche senkrechte Brett“: Hier geht es um Bretter, mit denen die Seiten eines Tisches verkleidet sind;
  3. Di uastermuar Biin – „das östlichere Bein“: Hier geht es tatsächlich um ein Körperteil, allerdings stammt das Beispiel aus einem humoristischen Kontext.
Die geförderte Publikation

Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg verleiht den Elise-Reimarus-Preis 2023 an den Frisisten Christoph Winter für seine herausragende Dissertation. Mit der Auszeichnung ist ein Druckkostenzuschuss von 4.000 Euro verbunden. Das Buch ist im Juli 2023 erschienen.

Christoph Winter: „Der Kompass der Nordfriesen. Sprachliche Kodierung absoluter Orientierung am Beispiel der Himmelsrichtungen und Richtungspartikeln im Nordfriesischen“
Band Nr. 194 in den Beiheften der Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (Franz Steiner Verlag, Stuttgart).
ISBN 978-515-13482-8
559 Seiten.
94 Euro.