Schlaglicht: Wie erforscht man die Atmosphäre(n) der antiken Stadt Pompeji? Decorative Prinzipien als Bausteine einer Rekonstruktion

Pompeji ist eine der am besten erhaltenen Ruinenstädte der Antike. Hier lässt sich unter anderem gut erforschen, wie Menschen im spätrepublikanischen Italien und zur Frühzeit von Kaiser Augustus gewohnt haben. Wie haben sie ihre Wohnräume gestaltet? Wie prägten Stadthäuser, Straßen und Heiligtümer die Atmosphäre in Pompeji? Sechs Jahre lang ist Akademiemitglied Prof. Dr. Annette Haug mit ihrem Team diesen Fragen nachgegangen – im Rahmen des Forschungsprojekts ERC Grant DECOR „Decorative Prinzipien der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Italien“. In Folge 8 des Akademie-Podcasts „Wissenschaft als Kompass“ berichtet Annette Haug von den Ergebnissen.

Im Gespräch: Prof. Dr. Annette Haug hat das ERC-Grant-Projekt „Decorative Prinzipien der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Italien“ geleitet und die Analyse-Kategorie der Atmosphäre genutzt. So lautet der Titel der Abschlussmonographie: „Öffentliche Räume in Pompeji. Zum Design urbaner Atmosphären“.

„Im Blick des Projekts war das zweite Jahrhundert vor Christus bis zum ersten Jahrhundert nach Christus. Und in diesen 200 Jahren hat sich die Decor-Welt, die man im Haus für Neu-Dekorationen gewählt hat, sehr stark geändert – so ungefähr einmal pro Generation“, erläutert Prof. Dr. Annette Haug im Podcast-Gespräch. Eine große Rolle spielt in dieser Zeit auch der Amtsantritt von Kaiser Augustus im Jahr 27 vor Christus – seine Herrschaft löst einen noch nie da gewesenen Bilderboom aus.

Die Konzepte des Wohnens und der Ausstattung von pompejanischen Stadthäuser: so sehr sie sich auch wandeln – leitend bleibt die Idee von Decor durch die Jahrhunderte. Ein Begriff, der in vielen Zusammenhängen auftaucht. „Der lateinische Terminus ‚Decor‘ oder eben ‚Decorum‘ meint die Angemessenheit von Gestaltung. Das kann die angemessene Kleidung für eine Veranstaltung sein. Das kann der angemessene Redestil für eine bestimmte Situation sein. Es kann eben auch die angemessene Gestaltung des Lebensambientes sein.“

Im Podcast berichtet Haug besonders ausführlich über eines der Teilprojekte, in dessen Mittelpunkt das Thema „Wohnen im spätrepublikanischen Italien“ steht. Näher erläutert sie Rolle und Funktion von Decor-Räumen in pompejanischen Stadthäusern. Insbesondere Fragen nach der ästhetischen und semantischen Relevanz von Architektur und Bildern sowie den Wechselbeziehungen untereinander konnte das Projekt beantworten. Zentral ist dabei auch die Frage, wie der antike Betrachter, die antike Betrachterin die Räume wahrgenommen und genutzt haben. Annette Haug resümiert im Gespräch, dass man „das antike Haus als sozialen Showroom betrachten“ kann.

Die Kieler Archäologin hat mit ihrem Team in das DECOR-Projekt auch Straßen und Heiligtümer einbezogen. Haugs Abschlussmonographie betrachtet Pompeji mit Blick auf das Design urbaner Atmosphären, angelehnt an den Begriff der Atmosphäre, wie er in der Philosophie sei den 1980er- und 1990er-Jahren eine Rolle spielt. So lautet der Titel der Abschlussmonographie: „Öffentliche Räume in Pompeji. Zum Design urbaner Atmosphären“.

Annette Haug ist an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Lehrstuhlinhaberin für Klassische Archäologie am Institut für Klassische Altertumskunde und seit 2017 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.

Neben der Gesprächsfassung bieten wir Ihnen immer ein kürzeres Schlaglicht auf zentrale Aspekte der langen Podcast-Fassung.

Zur langen Gesprächsfassung „Wohnen im spätrepublikanischen Italien und zur Frühzeit von Kaiser Augustus. Neue Erkenntnisse zu Häusern in Pompeji.“

Mehr über Prof. Dr. Annette Haug: https://www.awhamburg.de/mitglieder/ordentliche-mitglieder/detail/prof-dr-annette-haug.html

ERC Grant DECOR: Decorative Prinzipien der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Italien (No. 681269)

Frei zugängliche Bücher zur Podcast-Folge 
➤ Annette Haug: Decor-Räume in pompejanischen Stadthäusern. Ausstattungsstrategien und Rezeptionsformen (Berlin 2020). DOI: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110702705/html

➤ Annette Haug: Öffentliche Räume in Pompeji. Zum Design urbaner Atmosphären. DOI: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110988383/html#contents

Grande Progetto Pompei: http://pompeiisites.org/

„Ich habe auch versucht, der Qualität, der atmosphärischen Qualität einzelner Stadtviertel nachzuspüren, um auf diese Weise an eine solche atmosphärische Textur des antiken Pompeji heranzukommen.“

Sechs Jahre hat Prof. Dr. Annette Haug mit ihrem Forschungsteam intensiv die antike Stadt Pompeji untersucht: von 2016 bis 2022. Und zwar im Rahmen eines Forschungsvorhabens, das der Europäische Forschungsrat finanziert hat. Der Titel des Projekts lautet: „Decorative Prinzipien der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Italien“. Was „decorative Prinzipien“ mit Blick auf Pompeji und insbesondere mit Blick auf pompejanische Stadthäuser bedeuten, inwiefern dieses Wissen eine Rekonstruktion der Atmosphären der berühmten Stadt erlauben – darum geht es in diesem Schlaglicht zu Folge 8 unseres Podcasts „Wissenschaft als Kompass“. Sie hören Auszüge aus dem Gespräch mit Annette Haug.

Mein Name ist Dagmar Penzlin, ich bin Referentin für digitale Kommunikation an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg: Hallo!

Berühmt ist sie und bis heute viel besucht: die antike Stadt Pompeji. An der Westküste Italiens gelegen, in Kampanien am Golf von Neapel, am Fuße des Vesuvs. Und der Ausbruch dieses Vulkans sorgte 79 nach Christi dafür, dass diese Stadt verschüttet und zugleich unter der Vulkanasche konserviert wurde. Pompeji ist eine der am besten erhaltenen Ruinenstädte der Antike und deshalb ein wichtiger Ort für die wissenschaftliche Forschung, insbesondere für die Klassische Archäologie.

Eine ausgewiesene Kennerin von Pompeji und überhaupt der Lebenswelten im antiken Italien ist Prof. Dr. Annette Haug. Sie ist an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Lehrstuhlinhaberin für Klassische Archäologie am Institut für Klassische Altertumskunde und seit 2017 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.

Als Projektleiterin hat sie sich im Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojekts „Decorative Prinzipien der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Italien“ unter anderem intensiv mit Decor-Räumen in pompejanischen Stadthäusern befasst, wobei gerade mit Beginn der Herrschaft von Kaiser Augustus im Jahr 27 vor Christus ein regelrechter Bilderboom einsetzt. Zentral für Annette Haugs Arbeit waren dabei zwei Fragen:
Wie haben der antike Betrachter, die antike Betrachterin die Räume wahrgenommen?
Und: wie waren diese Räume überhaupt eingerichtet?

„Im Blick des Projekts war ja das zweite Jahrhundert vor Christus bis zum ersten Jahrhundert nach Christus. Ein langer Zeitraum. Und in diesen 200 Jahren hat sich die Decor-Welt, die man im Haus für Neu-Dekorationen gewählt hat, sehr stark geändert. So ungefähr einmal pro Generation. Und wir steigen im zweiten Jahrhundert vor Christus mit Hausausstattungen ein, die gar keine Bilder haben oder im Wesentlichen keine Bilder haben. Die letztlich in der Gestaltung Prunkräume inszenieren. Die Bilder kommen erst so allmählich in die Häuser hinein. Man experimentiert zu Beginn des 1. Jahrhunderts mit den unterschiedlichsten Bildkonzepten. Das sind aber zunächst viele Landschaftsbilder, Ausblicke, auch mal bukolische Bilder, so Hirtenbilder. Erotisches gibt es da zunächst noch nicht so viel. Und die Zahl der Bilder nimmt dann zur augusteischen Zeit hin massiv zu. Und zwar in allen Medien. Damit meine ich die Wandmalerei, aber genauso die Skulptur. Nicht zuletzt auch Bilder auf mobilen Objekten. Und im Zuge dieses neuen Bilderbooms gibt es auch neue Themen. Und eines dieser neuen prominenten Themen sind jetzt diese Liebesthemen. Es gibt zwar weiterhin Landschaftsbilder, aber dann hat man Landschaften und mittendrin diverse Liebespaare. Das heißt, man schreibt dann Bildideen, die es gab weiter, manchmal erfindet man auch neu. Neu in augusteischer Zeit ist zum Beispiel die Vorliebe für Bilder, die Landschaft dann ganz wegzulassen und die Liebespaare ganz prominent nach vorn in den Vordergrund zu stellen. Das heißt, man hat ein bestimmtes Repertoire an Ideen, an Konzepten, wie man Häuser ausstattet und kann das dann auch immer wieder neuen Formen und neuen Geschmacksvorstellungen anpassen.“

Die Konzepte des Wohnens und der Ausstattung von pompejanischen Stadthäuser: so sehr sie sich auch wandeln – leitend bleibt die Idee von Decor oder Decorum durch die Jahrhunderte. Ein Begriff, der in vielen Zusammenhängen auftaucht.

„Der lateinische Terminus ‚Decor‘ oder eben ‚Decorum‘ meint die Angemessenheit von Gestaltung. Das kann die angemessene Kleidung für eine Veranstaltung sein. Das kann der angemessene Redestil für eine bestimmte Situation sein. Es kann eben auch die angemessene Gestaltung des Lebensambientes sein. Und für diese Angemessenheit architektonischer Gestaltung ist unsere erste Quelle der antike Architekturtheoretiker Vetruv. Und was heißt jetzt für ihn Angemessenheit? Angemessenheit heißt, dass das einzelne Gestaltungselement beispielsweise ein Kapitell zur gesamten Architektur passt. Angemessenheit heißt auch, dass Gestaltung auf die praktischen und sozialen Erfordernisse und Bedürfnisse Bezug nehmen soll. Decor ist im Unterschied zu heute also nichts Oberflächliches, sondern bezeichnet die Vorstellung von ästhetischen, semantischen und funktionalen Gestaltungsprinzipien. Dieses Konzept hat dann auch Konsequenzen für meine eigene Forschungsfrage. Denn zum einen sollen Gestaltungsformen wie Architektur oder Mosaiken eben nicht isoliert betrachtet werden, sondern in ihrem Zusammenhang betrachtet werden. So wie es Vetruv auch empfiehlt. Zum anderen sollen Gestaltungsformen in ihrem Handlungskontext analysiert werden, um eben diese Passung von Gestaltung und Handlung untersuchen zu können.“

Und das haben die Archäologin Annette Haug und ihr Team ausführlich getan. Eine Kernerkenntnis: „Decor stiftet Orientierung.“ Das fängt damit an, dass eine angemessene Raumgestaltung den Blick der Besucherin, des Besuchers lenkt.

 „Es gibt eine Blickachse. Und natürlicherweise reagiert ein Mensch auf diese Blickachse, dass er ihr mit seinen Blicken folgt, wenn sie ihm angeboten wird. Das wäre eine sehr basale Ebene. Auf einer zweiten Ebene, und da kommt eben die inhaltliche Komponente von Decor zum Tragen, schafft Decor Anregungen für Unterhaltung. Das ist in gewisser Weise eine Vor-Orientierung. Das heißt, er gibt Themen vor. Darauf können natürlich Betrachter einsteigen - beim Gelage kann man sich an den Themen auf den Wänden orientieren, man muss das aber natürlich nicht tun.“

Besonders beliebt sind in Pompeji in der Zeit kurz nach Christi Geburt, in der augusteischen Zeit erotische Themen.

„Und diese erotischen Themen liegen in der Sichtachse von Räumen. Besonders gerne in Aufenthaltsräumen, so dass sich die Menschen bei ihrem Gelage beispielsweise von erotischen Lebenswelten stimulieren lassen, die dann ganz unterschiedliche Facetten gewinnen können: Da können Bilder mit verführerischem Potenzial neben diversen Liebesdramen stehen, in denen Liebe unerfüllt bleibt. Das heißt auch verschiedene Komponenten von Liebesgeschichten können in Kontrast zueinander treten. Und diese Untersuchung hat unter anderem ergeben: Erstens, dass Räume im antiken Haus nicht monofunktional sind, wie wir das jetzt aus dem bürgerlichen Wohnen seit dem 19. Jahrhundert und wie es sich in unserer Zeit gerade wieder auflöst. Und zweitens, dass Bilder ebenfalls keine ganz eindeutige, lineare Aussage haben, sondern ihrerseits polyvalent sind und verschiedene inhaltliche Anknüpfungspunkte bieten. Deswegen ist diese ganz klare Passung Funktion gleich Bildthema, diese ganz klare Passung funktioniert auf diese Weise nicht. Zugleich kann man aber natürlich thematische Welten beschreiben, mit denen sich antike Menschen in ihrem Haus umgeben. Und das wären in augusteischer Zeit insbesondere das große Feld der aphrodisischen und bacchischen Themen – kurz gesprochen: Liebe, Wein, Sex, Gesang, Feste. Also Themen des privaten Wohllebens. Und das ist im Kontext der augusteischen Zeit wiederum ganz interessant, weil im politischen Rahmen, in der öffentlichen Stadt ist der Trend ein anderer: Augustus hat eine Ehegesetzgebung, eine moralische Gesetzgebung auf den Weg gebracht. Seine Staatskunst zeigt andere Götter: Apollo beispielsweise oder Diana. Keusche Götter. Götter, die für das Staatswesen tragend und wichtig sind. Und da kann man auf so einer makroperspektivischen Ebene eben sehen, dass man in unterschiedlichen Aktionsfeldern unterschiedliche Bedürfnisse über Bilder ausartikuliert.“

Durch Bilder und Decor-Elemente in der Ausstattung des eigenen Hauses inszenierten sich die Familienmitglieder auch selbst, allen voran der Dominus, der Hausherr, aber ebenso seine Familie insgesamt. Und zwar auf verschiedenen Ebenen, sagt die Kieler Archäologie-Professorin Annette Haug.

Welche Akteure dann ganz konkret auf welches Gestaltungselement Einfluss nehmen, wissen wir nicht. Aber tatsächlich können wir natürlich gut greifen, dass Räume, die in besonderen Blickachsen liegen, die also für ein von außen kommendes Publikum sehr wahrscheinlich entweder sichtbar oder sogar begehbar waren, dass die besonders prominent ausgestattet sind. Und dass Prominenz eben bedeutet: reiche Materialien und in der Tendenz viele Bilder. Das heißt, es gibt Gradmesser, wie visuelle Wertigkeit in soziale Wertigkeit im Haus übersetzt wird. Und solche Prunkräume, ich nenne sie mal so, die sind naturgemäß in großen Häusern aufwändiger und häufiger als jetzt beispielsweise in kleinen Häusern. Insofern kann man auf jeden Fall das antike Haus als sozialen Showroom betrachten. Und zwar noch sehr viel mehr als heute, weil wir heute in unsere Häuser ja oft nur Freunde und Familienangehörige einladen, das Haus aber gar nicht so sehr gesellschaftlicher Treffpunkt ist. Diese sozialen, gesellschaftlichen Treffen, die sind ja oft ausgelagert in Restaurants oder in offizielle Räume.

Also ja, gerade für das antike Haus trifft in besonderer Weise dieser Aspekt der Selbstdarstellung zu. Und das ist eben nicht nur eine Frage des Prunks und des Aufwands, sondern auch der Auswahl der Bilder. Jetzt wissen wir eigentlich über kaum einen Hausbesitzer, wer er war und welchen Hintergrund er hatte. Insofern bleibt diese Relation zu seinen persönlichen Darstellungsinteressen leider etwas im Dunkeln. Aber trotzdem kann man natürlich manchmal greifen, dass ein Hausbesitzer besonders exklusive Mythen-Bilder auswählt, für die es ein bestimmtes Vorwissen braucht, also ein bestimmtes kulturelles Know-how, um sie überhaupt zu verstehen, während andere Hausbesitzer sich eher so auf gängige Liebesszenen fokussieren. Das heißt, zwar gibt es ein Spektrum an Mythen-Themen, das immer wieder in Häusern vorkommt. Die Haus-Ausstattungen rekurrieren also auf einen Bilder-Vorrat einer urbanen Gesellschaft. Ein Bilder-Vorrat, der auch nicht nur in Häusern vorkommt, sondern auch darüber hinaus. Durch die spezifische Auswahl und die spezifische Zusammenstellung entstehen dann aber natürlich jeweils spezifische, man könnte sagen, individuelle Settings aus bestimmten Versatzstücken.“

Annette Haug hat zu einem Teilprojekt des Forschungsvorhabens ein Buch verfasst. Titel: „Decor-Räume in pompejanischen Stadthäusern. Ausstattungsstrategien und Rezeptionsformen“; es ist auch als Open-Access-Publikation zugänglich – die genauen Angaben finden Sie in den Shownotes. In dem Buch sind auch Fallstudien zu finden zu so bekannten Gebäuden in Pompeji wie die Casa del Fauno – berühmt geworden etwa durch das große Alexander-Mosaik; in der Langfassung dieser Podcast-Folge berichtet Annette Haug auch von diesem Fallbeispiel.

Wichtig zum Verständnis des gesamten Forschungsprojekts ist, dass andere Teilprojekte sich mit Heiligtümern und Straßen befasst haben. Diese dreigeteilte Analyse von Pompeji dekliniert die Decor-Prinzipien auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Zusammenhängen durch und beleuchtet Wechselbeziehungen.

Ich greife noch mal zurück auf das, was Decor im antiken Sinn eigentlich meint. Decor meint eben auch die Passung für einen funktionalen und sozialen Zusammenhang. Wenn man nur das Haus als Fallbeispiel untersucht, dann ist die Perspektive natürlich eingeschränkt auf einen bestimmten sozialen Interaktionszusammenhang, nämlich einen privaten Rahmen. Zwar haben jetzt Forschungen hinreichend gezeigt, dass das Haus auch für semi-öffentliche und öffentliche Handlungen geöffnet worden ist. Im Haus ist es dann aber am Ende doch der Hausbesitzer, respektive die Familia, die Entscheidungen zum Decor trifft und umsetzen lässt. Und dadurch ist ein besonders kohärenter Zusammenhang einzelner Decor-Elemente gegeben. In den beiden anderen Kontexten hat man andere Entscheidungsträger und andere Rezipienten-Gruppen vorauszusetzen.

Mit den Straßen kommt ein besonders offener Interaktionsraum zum Tragen. Jeder Stadtbewohner, jede Stadtbewohnerin kann sich auf einer Straße quasi nach Belieben bewegen. Es gibt also kaum Einschränkungen bei der Nutzung der Straßen. Und gleichzeitig sind Straßen natürlich durch eine Vielfalt von Gestaltungsakteuren bestimmt. Es sind verschiedene Eigentümer der angrenzenden Häuser, die ihre Fassaden gestalten. Diese Eigentümer der angrenzenden Häuser nehmen im Zweifel auch Einfluss auf die Gestaltung des urbanen Mobiliars, beispielsweise Altäre oder auch Brunnen. Und schließlich ist es natürlich auch die öffentliche Hand, die gestaltend in den Straßenraum eingreift. Immerhin muss er ja auch für die Öffentlichkeit benutzbar bleiben.

Und die Heiligtümer als dritte Komponente, die liegen gewissermaßen dazwischen. Heiligtümer binden in den städtischen Raum ein, oftmals werden sie in Bezug auf städtische Architekturen gezielt inszeniert. Man denke beispielsweise an ein Forum, in dessen zentraler Achse das Kapitol platziert ist, sodass Platz-Anlage und Tempelbau in ihrer Gestaltung und Ausrichtung gezielt aufeinander Bezug nehmen können. Wohingegen der Innenraum von Tempeln keineswegs für alle und immer zugänglich war, sondern in der Zugänglichkeit sehr viel stärker reglementiert wurde, sodass hier wiederum Gestaltungsstrategien für geschlossene Innenräume zum Einsatz kommen konnten. Das heißt, hier haben wir so ein Zusammenwirken von Individuum und Kollektiv, von Offenheit und von Geschlossenheit und von öffentlichen und stärker reglementierten Publika vorauszusetzen.“

Als das Forschungsprojekt von Annette Haug im Jahr 2016 startete, stand ein anderes mehrere hundert Millionen Euro schweres Projekt in Pompeji gerade vor dem Abschluss: das sogenannte Grande Progetto Pompei. Durch Restaurierungs- und Dokumentationsarbeiten sollte der fortschreitende Verfall der Ruinenstadt gestoppt und die Befunde systematisch dokumentiert werden. So gab es aktuelle Pläne und 3D-Scans, die die Kieler Archäologin und ihr Team nutzen konnten.

Zentral war zudem das alte Korkmodell von Pompeji aus der Zeit der Ausgrabungen im 19. Jahrhundert; das Modell steht im Nationalmuseum in Neapel.

Das Besondere hier ist, dass nicht nur die Ruinen nachgebaut, sondern in Miniaturmalerei auch alle Bilder und Decor-Elemente dokumentiert sind. Laut Annette Haug handelt es sich heute um die beste dreidimensionale Rekonstruktion, weil sie eben alle Decor-Elemente im Moment der Ausgrabung dokumentiert. 

Auch wenn Pompeji vielfach erforscht ist, habe sich das sechsjährige Forschungsprojekt zu den Decor-Prinzipien in spätrepublikanischer und frühkaiserlicher Zeit gelohnt.

„Weil die Klassische Archäologie über viele Jahre der Meinung war, dass die großen Zentren – namentlich Rom, Athen und eben auch Pompeji – hinreichend beforscht sind, gab es so um die Jahrtausendwende eine Tendenz, dass sich die Klassische Archäologie mit Randgebieten beschäftigt. Das war zum Beispiel das Schwarze Meer oder die Indigenen in Süditalien. Eben nicht die ausgetrampelten Trampelpfade zwischen Pantheon und Parthenon.

Es hat sich eben aber auch gezeigt, dass sich besonders komplexe Fragestellungen sich an besonders gut erhaltenem Material besonders gut verfolgen lassen. Und mit der Weiterentwicklung von beispielsweise bildwissenschaftlichen Fragestellungen und urbanistischen Fragestellungen kehrt man dann eben zu diesen Spitzenbefunden wieder zurück, weil sie eine Tiefe an Informationen zur Verfügung stellen, die oftmals in Randgebieten eben nicht verfügbar ist. Und jetzt konkret für das Projekt würde das heißen: Wir haben wahrnehmungspsychologische Theoriebildungen integriert, wir haben praxeologische Theoriebildungen integriert und wir haben natürlich auch neue bildwissenschaftliche Zugänge mitberücksichtigt. Und aus diesen verschiedenen aktuellen Forschungstrends oder Theorie-Komponenten haben wir ein eigenes Theorie-Design für dieses Projekt gebaut, das dann eben zur Grundlage für die Fragestellungen in ihrer Ausdifferenzierung wurde.“

Für die Abschlussmonographie zu ihrem Pompeji-Projekt greift Annette Haug einen Begriff auf, der in der Philosophie in den 1980er- und 90er-Jahren auftauchte: und zwar die „Atmosphäre“. So lautet der Titel der Abschlussmonographie: „Öffentliche Räume in Pompeji. Zum Design urbaner Atmosphären“.

„Das Gesamtprojekt hat natürlich viele Facetten, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen Ergebnisse gebracht haben. Von der Erkenntnis, wie und in welcher Decor-Phase, in welchem Stil Bilder strukturiert sind .. wie sich einzelne Funktionskomplexe wie Häuser, Straßen und Heiligtümer voneinander abgrenzen. Diese Komplexität und Vielfalt der Ergebnisse stellte insbesondere mich dann vor die Schwierigkeit, das in einer Abschlussmonographie zusammen zu führen. Deswegen habe ich für diese Abschlussmonographie eine bestimmte Perspektive gewählt. Nämlich den Zusammenhang von Gestaltung und Wahrnehmung auf einer übergeordneten Ebene zu adressieren, nämlich indem ich den Begriff der ‚Atmosphäre‘ einführte. Atmosphäre sollte in dem Zusammenhang die Gesamtheit aller Eindrücke sein, die auf ein Individuum einwirken und städtische Räume erfahrbar machen. Nun stellte sich bei dieser Herangehensweise heraus, dass natürlich ein ganz großer Anteil von Elementen, die für Atmosphären wirksam sind, sich einer Analyse entziehen. Sie denken an das schöne Morgenrot oder den zwitschernden Vogel oder das zankende Geschrei auf der Straße von Pompeji. All das ist natürlich verloren, aber hochgradig atmosphärisch relevant. Deswegen ist mir deutlich geworden, dass ich das noch einmal zuspitzen muss. Die Abschlussmonographie fokussiert sich daher auf das Design von Atmosphären. Also die gezielte Gestaltung von Stadträumen im Hinblick auf ihre Wahrnehmungseffekte. Und mit diesem Zugriff wurde es dann tatsächlich möglich, verschiedene Funktionsräume – das Forum, die Straßen, die Heiligtümer und auch die Häuser – zueinander in Beziehung zu setzen und als unterschiedliche atmosphärische Räume zu beschreiben. Aber nicht nur einzelne Funktionskomplexe ließen sich auf diese Weise kontrastieren, sondern ich habe auch versucht, der Qualität, der atmosphärischen Qualität einzelner Stadtviertel nachzuspüren, um auf diese Weise an eine solche atmosphärische Textur des antiken Pompeji heranzukommen.“

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Dagmar Penzlin
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