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Schlaglicht: Wie lässt sich Musikgeschichte neu schreiben? Einblicke in das Langzeitforschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“

Wie lässt sich Musikgeschichte neu schreiben? Für das Langzeitforschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ bedeutet das zunächst einmal, Biographien von verfolgten Musikerinnen und Musikern der NS-Zeit zu rekonstruieren und auch Geo-Daten der Lebenswege zu analysieren. Wie lassen sich die Biographien recherchieren? Welche Fragen erwachsen aus dieser Grundlagenforschung? Und mit welchen Zielen startet das noch neue Langzeitforschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in die 18 Jahre Laufzeit? Diese und andere Fragen beantwortet Prof. Dr. Friedrich Geiger als Projektleiter in Folge 14 des Akademie-Podcasts „Wissenschaft als Kompass“.

Im Gespräch: Prof. Dr. Friedrich Geiger, Leiter vom Langzeitforschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte. Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“

Die Zeit des Nationalsozialismus ist auch mit Blick auf die Musikgeschichte eines der düstersten historischen Kapitel. Die Musikgeschichtsschreibung sähe anders aus, hätte es den Terror des NS-Regimes nicht gegeben. Reichhaltige, aber bisher nicht ausgeschöpfte Quellen warten darauf erschlossen zu werden, um eben die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu revidieren, das heißt unter anderem, sie zu korrigieren und zu präzisieren. Gerade auch verfolgte und ermordete Personen können so mit ihrem Schaffen einen angemessenen Platz in der Musikgeschichte einnehmen. Die Forschung auf diesem Feld bekommt jetzt einen neuen Schub: Seit Beginn des Jahres 2025 gibt es an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg das neue Langzeitvorhaben „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“: Das neue Projekt wird bis Ende des Jahres 2042 laufen, also 18 Jahre.

In Folge 14 des Akademie-Podcasts „Wissenschaft als Kompass“ gibt Prof. Dr. Friedrich Geiger als Projektleiter Einblicke in die konkrete Forschungsarbeit, die methodischen Werkzeuge und die übergeordneten Themen, die auf Basis der vorgenommenen Grundlagenforschung zu bearbeiten sind. So lassen sich durch gruppenbiographische Erkenntnisse präzisere Aussagen treffen zu bestimmten Berufsgruppen beispielsweise im Bereich Komposition, Oper oder auch Jazz. Auf Grundlage der Geo-Daten in den recherchierten Biographien erfolgen raumzeitliche Analysen der Musikerverfolgung: Spezielle Kartographien machen so etwa sichtbar, wie sich Musikerinnen und Musiker auf der Flucht und im Exil beeinflusst haben.

„NS-Verfolgung und Musikgeschichte. Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“: So lautet der vollständige Titel des Projekts, das im Rahmen des Akademienprogramms angesiedelt ist; Kooperationspartnerinnen sind die Universität Hamburg und die Hochschule für Musik und Theater München. Hier arbeitet Friedrich Geiger als Professor für Historische Musikwissenschaft. Die Forschung zu Musik in Diktaturen und im Exil gehört seit rund 30 Jahren zu seinen Arbeitsschwerpunkten.

Sie hören Auszüge aus dem Gespräch mit Professor Dr. Friedrich Geiger; die Podcast-Folge haben wir am 12. Mai 2025 aufgenommen. Neben der Gesprächsfassung unseres Podcasts „Wissenschaft als Kompass“ bieten wir immer ein kürzeres Schlaglicht auf zentrale Aspekte der langen Gesprächsfassung.

Mehr zum Langzeitvorhaben „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“: https://www.awhamburg.de/forschung/langzeitvorhaben/ns-verfolgung-und-musikgeschichte.html

Zum Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM): https://www.lexm.uni-hamburg.de/content/index.xml

Mehr über Prof. Dr. Friedrich Geiger: https://mw.hmtm.de/index.php/personen2/25-prof-dr-friedrich-geiger

Wie lässt sich Musikgeschichte neu schreiben? Für das Langzeitforschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ bedeutet das zunächst einmal, Biographien von verfolgten Musikerinnen und Musikern zu rekonstruieren, auch Geo-Daten dieser Lebenswege zu analysieren und Kompositionen neu zu entdecken.

Die Zeit des Nationalsozialismus ist auch mit Blick auf die Musikgeschichte eines der düstersten historischen Kapitel. Die Musikgeschichtsschreibung sähe anders aus, hätte es den Terror des NS-Regimes nicht gegeben. Die Verfolgung von Musikerinnen und Musikern in den Jahren von 1933 bis 1945 hat massiven, auch weltweiten Einfluss auf das immaterielle Kulturgut Musik genommen. In Deutschland ebenso wie in den annektierten und besetzten Ländern kam es zu erheblichen Verlusten, im Exil aber auch zu produktiven Entwicklungen in allen Bereichen des Musiklebens – geflüchtete Musikerinnen und Musiker komponierten, musizierten, unterrichteten.

Reichhaltige, aber bisher nicht ausgeschöpfte Quellen warten darauf erschlossen zu werden, um eben die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu revidieren, das heißt unter anderem, sie zu korrigieren und zu präzisieren. Gerade auch verfolgte und ermordete Personen können so mit ihrem Schaffen einen angemessenen Platz in der Musikgeschichte einnehmen.

Die Forschung auf diesem Feld bekommt jetzt einen neuen Schub: Seit Beginn des Jahres 2025 gibt es an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg das neue Langzeitvorhaben „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“: ein Forschungsprojekt im Rahmen des Akademienprogramms; das neue Projekt wird bis Ende des Jahres 2042 laufen, also 18 Jahre.

Der zweite Teil des Projekttitels lautet: „Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“. Was ist damit gemeint? Wie gestaltet sich diese Forschungsarbeit genau? Diese und andere Fragen hat der Projektleiter Prof. Dr. Friedrich Geiger in unserem Podcast „Wissenschaft als Kompass“ beantwortet: Er ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater München; die Hochschule ist ebenso wie die Universität Hamburg Kooperationspartnerin bei diesem Langzeitforschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Die Forschung zu Musik in Diktaturen und im Exil gehört seit rund 30 Jahren zu den Arbeitsschwerpunkten von Friedrich Geiger. Sie hören Auszüge aus der Gesprächsfassung der Podcast-Folge, die wir am 12. Mai 2025 mit ihm aufgenommen haben.

Mein Name ist Dagmar Penzlin, ich bin Referentin für Kommunikation an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg: Hallo!

„Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“: Der Projekt-Untertitel benennt zwei der Kern-Aufgaben, die bis 2042 die Arbeit des Langzeitvorhabens „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ bestimmen. Wobei die Recherche von Biographien verfolgter und ermordeter Musikerinnen und Musiker Ausgangspunkt für einen neuen Blick auf die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, betont Projektleiter Friedrich Geiger.

„Man kann das eigentlich nur über die Biographien nachzeichnen. Die Biographien sind für uns die roten Linien sozusagen, anhand derer wir auch bestimmte Themen überhaupt erst dingfest machen können. Also wenn wir eben eine kritische Anzahl von Biographien haben, stellen wir fest, das ist offenbar ein wichtiges Thema gewesen, das wir dann auch auf der Basis mehrerer Biographien – prosopographisch würde man im Wissenschaftsjargon sagen, also gruppenbiographisch – eigentlich auch auf einer etwas abstrakteren Ebene angehen können. Und das kann man aber erst eigentlich identifizieren, wenn man über genügend Personen Bescheid weiß. Und es ist eben vielfach so, dass wir erst auf der Basis dieser Lebenswege bestimmte Dinge überhaupt bemerken.“

Ein Anliegen des Projekts ist es, wie Geiger sagt, die „weißen Flecken auf der Landkarte des musikalischen Exils“ zu identifizieren, auch insbesondere für die Zeit vor 1933.

„Da versuchen wir jetzt eben mit einer gewissen Systematik, diese Flecken noch zu bearbeiten und einfach zusammenzutragen, was uns noch fehlt, um auch bestimmte Zusammenhänge herstellen zu können und bestimmte Sachen auch in ihrer langfristigen Auswirkung bis heute zum Teil zu verstehen.“

Da solche weißen Flecken schwer zu orten seien, ist das LexM, das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Dreh- und Angelpunkt der biographischen Forschung im Rahmen vom Langzeitvorhaben „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“. Das LexM besteht seit 2005 und ist als Online-Lexikon schnell zu aktualisieren. Friedrich Geiger ist einer der Herausgeber.

„Wir haben insgesamt 5500 Namen dort eingetragen. Das betrifft jetzt nur Musikerinnen und Musiker aus Deutschland und Österreich mit ein paar Ausnahmen, aber in der Hauptsache aus Deutschland und Österreich. Von diesen 5500 Namen konnten wir bis jetzt knapp 1000 zu ausführlichen Biographien ausarbeiten. Also es fehlen uns hier schon 4500 Namen. Und dann muss man sich vorstellen, kommen ja noch dazu die ganzen annektierten Gebiete, die eroberten besetzten Gebiete nach 1938, als der Nationalsozialismus begonnen hat, sich expansiv aggressiv auszuweiten. 1942 war das territorial auf dem Höhepunkt und fast ganz Europa war im Prinzip unter NS-Einfluss. Das heißt, diese ganzen Zahlen muss man enorm hochrechnen, so dass es einfach schon um eine unglaublich große Zahl an Biographien geht. Die werden wir auch in diesen 18 Jahren leider nicht alle zu fassen bekommen. Aber wir können akkumulieren. Und je mehr man natürlich über einzelne Personen weiß, je mehr Einzelbiographien man hat, desto besser kann man auch feststellen: Wo sind vielleicht gruppenbiographische Themen, die relevant sind? Man kann also einfach identifizieren: Was war denn überhaupt eigentlich wichtig? Und auf diese Weise kann man diese weißen Flecken etwas besser eingrenzen.“

Durch den gruppenbiographischen Ansatz hoffen Musikwissenschaftsprofessor Friedrich Geiger und sein Team, grundsätzlichere Aussagen zu bestimmten Berufsgruppen im Bereich beispielsweise der Komposition und der Oper zu treffen, ebenso zu Entwicklungen im Jazz oder der Wagner-Interpretation. Um hier zu fundierten Ergebnissen zu kommen, braucht es die akribische Recherche von Einzelbiographien. Jede dieser Recherchen verlangt beides: Forschungsroutinen und geradezu detektivische Kreativität.

„Natürlich hat man nach vielen Jahren auf dem Gebiet so eine gewisse Routine, was man so an Institutionen absucht. Also wir müssen mal uns den Fall vorstellen, der eigentlich in vielerlei Hinsicht ein Normalfall ist. Man hat wirklich nur einen Namen und Lebensdaten. Im Idealfall hat man ein Todesdatum. Meist hat man aber auch nur ein Geburtsdatum und weiß eben zum Beispiel, dass diese Person auf irgendeiner Deportationsliste stand. Und dann gibt es verschiedene Dinge, die wir routinemäßig machen. Also man guckt bei Einwohnermeldeämtern nach in der Region, wo diese Person herstammt. Wir konsultieren eben häufig Yad Vashem und andere Institutionen, die Auskunft geben könnten über potenzielle Todesdaten in Vernichtungslagern oder Konzentrationslagern. Wir versuchen dann eben, wenn man weiß, eine Person hat eine bestimmte Ausbildung, zum Beispiel, ich greife jetzt mal ein Beispiel heraus, am Konservatorium in Leipzig oder so was gemacht, dann kontaktiert man diese Institutionen und versucht Schülerakten oder so etwas zu finden, die dann ja häufig wiederum auch Lebensläufe enthalten, aus denen man dann wiederum Daten gewinnt, die man aber natürlich alle wieder prüfen muss, ob die so stimmen. Und eine ganz wichtige Quelle für uns sind auch Entschädigungsakten. Das ist eine sehr spezielle Aktensorte, die normalerweise in der Musikwissenschaft nicht so unbedingt herangezogen wird, für uns aber eine ganz große Rolle spielt. Das sind Akten, wo verfolgte Menschen nach 1945 an die Bundesrepublik Deutschland Entschädigungsansprüche gestellt haben aufgrund eines entsprechenden Gesetzes. Und die waren aber genötigt, um diese Entschädigungen bemessen zu können, sehr genau nachzuweisen: Welcher Schaden ist mir eigentlich entstanden durch das NS-Regime? Und das wiederum erforderte dann darzustellen, was man eigentlich beruflich vorher gemacht hatte und das auch nachzuweisen. Und das ist in vielerlei Fällen eine außerordentlich beklemmende Lektüre, weil man merkt, wie schwierig das für diese Leute zum Teil war, diese Unterlagen überhaupt beibringen zu können.“

Denn der Krieg hat auch solche Akten zerstört. Hinzukommen die Umstände der Flucht, die ebenfalls für Lücken in den Unterlagen der Musikerinnen und Musiker sorgten.

„Weil die ja teilweise geflüchtet waren von einem Tag auf den anderen und dann zum Beispiel irgendwelche Anstellungsverträge nicht mehr hatten. Und dann ist aber an dem Opernhaus, wo beispielsweise jemand beschäftigt war, das Archiv ausgebombt worden und es ist quasi nicht mehr möglich gewesen, eine genaue Anstellungszeit nachzuvollziehen, was dann in vielen Fällen auch zur Ablehnung von Entschädigungsansprüchen geführt hat, aus einem bürokratischen Gestus heraus. Und dieser enorme Aufwand, der für diese Person damals ganz schrecklich gewesen sein muss, ist aber, das soll jetzt nicht zynisch klingen, aber sozusagen aus einer Historikerperspektive natürlich insofern ein Gewinn, als wir dadurch sehr viele Daten, sehr genaue Beschreibungen der Tätigkeiten unter Umständen erhalten. Und dann wieder Ansatzpunkte haben, die wir verifizieren können und eben feststellen können, was dann jemand gemacht hat. Und ein Berliner Kollege, Matthias Pasdzierny, hat mal in einem Aufsatz diese Entschädigungsakten deshalb mit der schönen Formulierung bezeichnet, das sei eine Art ‚Ersatzüberlieferung der Musikgeschichte der 20er und 30er Jahre‘. Das ist wirklich so! Also große Teile erfahren wir wirklich nur aus diesen Akten.“

Schwieriger gestaltet sich in der Regel die Recherche von Biographien der Musikerinnen und Musiker, die das NS-Regime ermordet hat.

„Da hat sich ja in den allermeisten Fällen kein Nachlass oder etwas Ähnliches erhalten. Manchmal hat man das große Glück, dass man recherchieren kann, dass diese Menschen, die ja in vielen Fällen ziemlich genau wussten, was ihnen bevorsteht. Also viele auch nicht, aber viele wussten doch sehr genau: ‚Das ist jetzt ein Weg, der mich sozusagen ins Verderben führt.‘ Auch wenn man sich sozusagen so etwas wie Ausschwitz vielleicht nicht vorstellen konnte. Aber viele ahnten, dass sie nicht zurückkommen und haben dann vorsorglich an Verwandte, Freunde, Bekannte, große Teile ihres Nachlasses, Manuskripte beispielsweise oder so was, gegeben. Also in vielen Fällen hatte man das Glück, dass man das irgendwo aufspüren kann. Das ist aber eine wirkliche Detektivarbeit, wo man einfach genau nachgucken muss: Wann hat diese Person diesen Sammelbefehl erhalten? Was hat die dann vorher gemacht? Dann klappert man systematisch ab: Aus welchen Personen bestand dieser Bekanntenkreis? Versucht da auch Nachfahren zu kontaktieren und so. Also das ist schon enormer Rechercheaufwand, der sich aber in vielen Fällen dann tatsächlich lohnt. Es gelingt dann doch immer wieder, auch so etwas aufzufinden.“

Nicht selten spielen dabei Funde auf Dachböden eine zentrale Rolle.

„Das klingt immer wie so ein völliges Klischee. Aber das ist tatsächlich ganz oft so, auch. Manchmal haben wir auch das Glück, dass wir kontaktiert werden von Leuten, die sagen: ‚Ich habe hier auf dem Dachboden tatsächlich so einen Koffer, da sind lauter Noten drin und Aufzeichnungen. Wollen Sie sich das mal angucken?‘ Und das sind oft dann unglaubliche Funde, die uns dann eben tatsächlich die berufliche Existenz einer Musikerperson erschließen bis zu diesem Zeitpunkt.“

Die neu recherchierten Biographien präzisieren den Blick auf die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: Das ist die biographische Perspektive. Durch die Vertreibung und insbesondere Flucht sind zahlreiche Musikerinnen und Musiker in fast alle Länder der Welt gelangt. Auch diese Flucht-Bewegungen analysiert das Projekt mit der geplanten Revision der Musikgeschichte aus geographischer Perspektive.

Das heißt, die geographischen Daten in den recherchierten Biographien ermöglichen raumzeitliche Analysen der Musikerverfolgung. Projektleiter Friedrich Geiger hat hierfür ein Kartographie-Verfahren als musikhistorische Methode mit entwickelt.

„Also da ist ganz wichtig, dass wir Kartographie als ein methodisches Instrument sozusagen mit heranziehen, das ein methodisches Instrument ist. Heuristisch würde man sozusagen aus wissenschaftlicher Perspektive sagen, das uns also hilft, überhaupt erst mal Fragestellungen zu entdecken, aufzufinden. Und das ist eben mit Karten, gerade wenn man es mit so Fragen zu tun hat, die kulturgeographisch sind, sehr viel einfacher möglich, als wenn man reine Datenbanken hat. Das LexM als Online-Lexikon ist ja in einer bestimmten Ebene nichts anderes als eine riesengroße Datenbank, in der ganz viele biographische Daten stecken, aber eben auch Geo-Daten. Also wo sind Menschen geboren? Wo sind sie ausgebildet worden? Wo haben sie gewirkt, als sie vertrieben wurden? Wo sind sie dann hingegangen? Dann sind sie vielleicht in ein Land gegangen wie Frankreich, das aber dann 1940 auch vom NS-Terror überrollt wurde, mussten noch mal emigrieren. Wo sind sie dann hingegangen? Und so weiter. Und wo sind sie vielleicht dann auch nach 1945 noch mal gewesen und haben vielleicht auch noch mal den Standort gewechselt? Also da ist eine Unzahl von Geo-Daten. Und wenn man die einfach in einer Datenbank hat, sind sie unanschaulich und führen nicht zu weiteren Erkenntnissen, sondern dann ist das ein Datenspeicher, der erst mal sozusagen, ist zwar gut, dass man das hat, aber man zieht erst mal noch keine Schlüsse daraus, weil wir einfach nicht in der Lage sind, es auf diese Weise zu überblicken. Aber in dem Moment, wo ich sozusagen eine kartographische Darstellung dieser Daten habe, und da arbeiten wir eben sehr produktiv mit der Hafencity Universität zusammen, mit dem Kollegen Jochen Schiewe, der dort eine Professur für Geovisualisierung hat. Und das Geo Lab an der HCU beschäftigt sich mit nichts anderem als der Sichtbarmachung geographischer Daten. Und wir haben jetzt erfreulicherweise die Möglichkeit gehabt, eben auch eine Stelle für die Kartographie bei uns im Projekt einzurichten. Das macht der Kollege Bonan Wei, der auch ein Schüler ist von Jochen Schiewe und dort ausgebildet worden ist zu großen Teilen. Das sind Spezialisten, die eben, was die Sichtbarmachung von solchen Geo-Daten angeht, ungeheuer einfallsreich sind.“

Die Kartographien machen gerade auch sichtbar, wie sich Musikerinnen und Musiker auf der Flucht und im Exil beeinflusst haben, welche Rolle der Aufenthalt in Exilländern gespielt hat. Kurz: Die Kartographien machen musikkulturelle Transferdynamiken sichtbar.

„Welche Quantitäten von Menschen sind wann wo hingegangen und so weiter. Dann erkennt man überhaupt erst: An der Stelle müssen wir mal genauer hinsehen. Da haben sich offenbar auch Leute getroffen, die sich von woanders kannten, zum Beispiel. Oder Leute haben sich an einer bestimmten Stelle kennengelernt und sind dann wieder in verschiedene Richtungen verstreut worden. Inwieweit haben sich auch die Ideen verteilt, die dort gemeinsam von den Leuten vorher entwickelt worden sind. Und so weiter.“

In der biographischen Forschung zu verfolgten Musikerinnen und Musikern ist es nicht selten, dass Friedrich Geiger und sein Projekt-Team bisher unbekannte Musikwerke entdecken. Diese wieder aufzuführen ist möglich durch die Professur Geigers an der Hochschule für Musik und Theater München. So sind sogenannte Research Concerts geplant.

„Wenn wir beispielsweise von einer Komponistin oder einem Komponisten Werke entdeckt haben, was ganz oft der Fall ist, die noch niemand kennt. Also wir haben ganz, ganz, ganz viel Repertoire von Stücken, die überhaupt noch nie aufgeführt worden sind oder die einmal aufgeführt worden sind und dann nie wieder. Aber dieses auch etwas klischeehaft anmutende Für-die-Schublade-Komponieren, das war natürlich in dem Kontext ungeheuer verbreitet. Teilweise, weil es sich um Kompositionen handelte, von denen man wusste, dass sie in NS-Deutschland nicht aufgeführt werden konnten. Das betrifft Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann zum Beispiel, der mittlerweile etwas bekannter ist. Da gab es aber noch mehr solche Fälle. Oder eben Kompositionen von Menschen im Exil, die eine Riesensymphonie komponiert haben, aber nicht die Kontakte, um jetzt an irgendein Orchester zu kommen, dass die vielleicht aufführen könnte. Also da haben wir ein riesiges Repertoire an Musik, die niemand kennt, die aber in vielen Fällen qualitativ absolut erstrangig ist. Und solche Stücke erarbeiten wir dann gemeinsam mit Studierenden und führen die in solchen Konzerten auf und informieren dann natürlich auch über die Personen, die die komponiert haben.“

Wesentlich für die Gesamt-Konzeption des Langzeitvorhabens „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ sind ebenso fünf internationale Kongresse zu übergeordneten Themen der Exil-Musikforschung. Geplant ist etwa im Jahr 2027 ein Kongress zur musikalischen Interpretation im Exil.

Die vielfältigen Pläne des Akademieprojekts zielen laut Projektleiter Friedrich Geiger auch darauf ab, ein Bewusstsein für die herrschende Sicht auf die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schaffen und für deren Lücken. Aktuell bezieht die Musikgeschichtsschreibung die globalen Verwerfungen durch den NS-Terror zu wenig ein. Insbesondere die langfristigen Konsequenzen der Zwangsmigration von Musikerinnen und Musikern sind in weiten Teilen unerschlossen. Das Forschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ hat sich entsprechend zum Ziel gesetzt, hierüber aufzuklären und Musikgeschichte zu revidieren ebenso wie zu vervollständigen.

„Das ist für uns ein ganz starker Impuls. Also in gewisser Weise tatsächlich Dinge, die der Nationalsozialismus versucht hat, in eine bestimmte Richtung zu treiben, zu biegen, auch möglichst vielleicht ein Stück weit wenigstens wieder zurückbiegen zu können. Da geht es ganz stark einfach auch um verweigerte Öffentlichkeit, also dass eben Musikerinnen und Musikern die Öffentlichkeit verweigert wurde. Und Musik kann ohne Öffentlichkeit fast nicht existieren. Es braucht immer die Hörerinnen und Hörer, es braucht immer die Darbietungsmöglichkeit und eine freie Diskussion über ästhetische Fragen. Und wir hoffen, dass wir zumindest ein kleines Stück diese Öffentlichkeit eben wieder herstellen können und auf diese Weise Musik zur Diskussion stellen können und musikalische Traditionen, Ideen, Diskurse, denen diese Öffentlichkeit verweigert worden ist.“

Sagt Friedrich Geiger, Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater München. Als Leiter des Langzeitvorhabens „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ hat er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch im Blick, welche Funktion Musik gerade auch an Orten des NS-Terrors wie in Ghettos und Konzentrationslagern zukam. Hier – wie auf allen Forschungsfeldern des Projekts – gelte es laut Geiger, den Blick auch in die Gegenwart zu richten und Bezüge zu aktuellen Entwicklungen herzustellen.

„Wir hoffen eben einfach, dass, auch was den Missbrauch von Musik durch solche autoritären Regime angeht, wir in unserem Projekt Erkenntnisse gewinnen können, die uns eben helfen, auch heutzutage und in Zukunft mit solchen Fragen umzugehen.

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