Mittelhochdeutsche Lyrik: Fassungsvarianz und Edition
Es herrscht Einigkeit darin, dass die mittelhochdeutsche Lyrik (12.–14. Jh.) zwar schriftlich – wohl von den Autoren selbst – notiert wurde, dass die Texte aber für den Gesangsvortrag bestimmt waren. Die Lieder konnten zu Lebzeiten der Autoren variiert werden, was allein der Vortragspraxis geschuldet ist. Für die Lyrik wird ein Spiel von Freiheit und poetologischen Gesetzmäßigkeiten angenommen, das Fassungsvarianz produziert hat, die sogenannte Mouvance. Für viele mittelhochdeutsche Lyriker verhält es sich dennoch so, dass bis heute keine Ausgaben vorliegen, die unterschiedliche Fassungen der Lieder präsentieren. Stattdessen wird die Rekonstruktion von Fassungsvarianz zumeist als ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen angesehen.
In dem Vortag werden am Beispiel der Überlieferung der Lieder des späthöfischen Minnesängers Neidhart (erste Hälfte 13. Jh.) Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion von primären Vortragsfassungen erprobt. Einen Anhaltspunkt dafür liefern spezifische Verteilungsverhältnisse von Wort- und Versvarianten in den voneinander unabhängigen Überlieferungszeugen. Diese nämlich weisen darauf hin, dass die Neidhart-Überlieferung auf eine schriftliche Vorlage mit Wahlmöglichkeiten zurückgeht – d. h. auf eine Vorlage, die zu einzelnen Textelementen alternative Lesarten bot, zwischen denen bei der Liedproduktion gewählt werden konnte. Auf der Basis dieses Textentstehungsmodells lässt sich – so die These – die Fassungsvarianz von Neidharts Liedern in vielen Fällen weitgehend rekonstruieren.
Anna Kathrin Bleuler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf die deutschsprachige Literatur des 12.–16. Jahrhunderts und deren Überlieferung.
Dienstag, 2. Juli 2024, 18:00 Uhr s.t.
Universität Hamburg, Centre for the Study of Manuscript Cultures
Warburgstraße 26, Raum 0001 (Pavillon), 20354 Hamburg
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