„Aktuelle und zukünftige Sicherheitsarchitektur für die baltischen Staaten und Europa“

Stellungnahme zur internationalen Konferenz in der Vertretung der Freien und Hansestadt Hamburg, Jägerstraße 1-3, 10117 Berlin, 20 bis 21. März 2025
An der Konferenz nahmen mehr als 20 Expertinnen und Experten aus den baltischen Staaten und Deutschland teil. Im Zentrum stand die Frage, was eine Sicherheitsarchitektur in Europa ausmacht. Die Vorträge und Diskussionen orientierten sich an vier Hauptthemen:
• konzeptionelle Überlegungen;
historische Hintergründe und Entwicklungen in Russland, den baltischen Staaten und Europa;
• der Zerfall der europäischen Sicherheits- und Friedensarchitektur nach den 1990er-Jahren;
• mögliche Zukunftsszenarien.
In einer Grundsatzrede am Vorabend des ersten Konferenztages vermittelte die ehemalige Außenministerin der Republik Estland und jetzige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Marina Kaljurand, lehrreiche persönliche Erfahrungen und politische Einblicke in historische Wendepunkte mit einem Blick aus Tallinn und Brüssel.
Ungeachtet früherer Verschlechterungen der Beziehungen, die sich abzeichneten, waren sich alle Teilnehmende über die dramatischen Auswirkungen einig, die der umfassende russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 ausgelöst hat. Damit wurden fast alle verbliebenen gemeinsamen Elemente der kollektiven Sicherheit in Europa, wie sie sich über viele Jahrzehnte entwickelt hatten, zerstört.
Die Herausforderungen für kleine Länder, vor allem die baltischen Staaten, standen im Mittelpunkt der Konferenz, wenn es darum geht, deren Interessen zu schützen und ihre Empfehlungen in einer Sicherheitsarchitektur voranzubringen. Solche Arrangements werden oft von großen und mächtigen Staaten dominiert, und sei es nur durch ihre größeren militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen. Kleine Staaten laufen Gefahr, nicht gehört oder sogar vergessen und an die Seitenlinie gedrängt zu werden. In den baltischen Staaten ist die Erfahrung, Entscheidungen hinter ihrem Rücken ertragen zu müssen, nicht vergessen. Wer jahrhundertelange Erfahrungen damit gemacht hat, wie es ist, wenn Entscheidungen ohne ihre Mitwirkung getroffen werden, ist in besonderer Weise sensibilisiert. Russland hat als imperiale und koloniale Macht Spuren hinterlassen, die deutlich nachwirken.Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation Anfang der 1990er-Jahre wurden in anderen Teilen Europas Warnungen vor revisionistischen russischen Absichten allzu leicht ignoriert oder verdrängt, während die baltischen Staaten schon früh wachsam und besorgt blieben. Die Menschen in den baltischen Staaten ließen sich weniger leicht von der russischen Propaganda täuschen und waren sich der Notwendigkeit bewusst, in der NATO und der EU fest zusammenzustehen. Freiheit ist ebenso schwer zu erlangen wie zu erhalten.
Die deutschen Redner waren sich weitgehend einig, dass die Ansichten der baltischen Staaten aufmerksam zur Kenntnis genommen werden müssen. Einige mahnten jedoch auch, die expliziten oder impliziten Beiträge einiger westlicher Politiken zur Verschlechterung der Beziehungen zu Russland nicht zu übersehen. Zwar dürfe man sich angesichts der Rücksichtslosigkeit und der revisionistischen Absichten der derzeitigen Regierung in Russland keine Illusionen machen, doch dürfe man sich weder von russischen Drohungen täuschen lassen noch die Gefahren einer nuklearen Eskalation ignorieren.
Mit Blick auf die fernere Zukunft nach einer Beilegung des gegenwärtigen Krieges, wie auch immer diese aussehen mag, muss es eine Rückkehr zu Rüstungskontrollvereinbarungen und zu kollektiven Formen der Begrenzung der Risiken einer militärischen Konfrontation in Europa geben. Der Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur ist weit davon entfernt, gesichert zu sein, zumindest wenn man sie als stabiles und resilientes Gefüge von Institutionen versteht, das den Frieden bewahren kann. Selbst wenn man die Erwartungen auf ein akzeptiertes Verhalten in den zwischenstaatlichen Beziehungen und auf Maßnahmen zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines nicht beabsichtigten Krieges zurückschraubt, wird ein solches System zweifellos schwer zu erreichen sein. Den Herausforderungen der Gegenwart muss Vorrang eingeräumt werden.
Eine weitere etwas umstrittene Frage betrifft die Wahrscheinlichkeit, das Ausmaß und die Phasen eines möglichen Rückzugs der USA aus Europa. Die plötzlichen Verschiebungen und Richtungswechsel in der US-Politik durch die zweite Trump-Administration ließen reichlich Raum für kontroverse Interpretationen der US-Absichten. Während sich der Schwerpunkt der strategischen Interessen der USA auf den indopazifischen Raum verlagert hat, waren sich die meisten Teilnehmer einig, dass Europa ein Stützpunkt für ein mit ziemlicher Sicherheit reduziertes, aber nichtsdestotrotz immer noch bedeutendes nukleares und konventionelles Engagement der USA bleiben wird.
Die Ergebnisse der Konferenz führen zu vier wesentlichen Erkenntnissen, wenn die Interessen und Herausforderungen der baltischen Staaten ernst genommen werden. Eine erste ist die dringende Notwendigkeit, die militärische Abschreckung des Westens durch eine entschlossene Stärkung der Rolle Europas zu erhöhen. Zweitens müssen Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung der hybriden Kriegsführung und der Angriffe russischer Akteure (im Cyberspace, auf die Infrastruktur, durch Desinformation und Täuschung usw.) bewusst gemacht und rasch umgesetzt werden. Diese bedrohen nicht mehr nur die baltischen Staaten, sondern haben sich auch zu einem Fluch für das übrige Europa entwickelt. Ein dritter Punkt ist die dringende Forderung nach einem noch stärkeren Engagement der europäischen Staaten bei der Gewährleistung von Sicherheit und der Unterstützung der Ukraine. Es liegt an einem stärkeren Europa, dafür zu sorgen, dass die Ukraine weiterhin in der Lage ist, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen, und dass sie nicht nur auf dem Papier steht, sondern einen Platz am Tisch hat, wenn es um ernsthafte Gespräche über eine Konfliktlösung geht, die durch europäische Sicherheitsverpflichtungen gestützt werden. Dazu gehört eine stärkere Rolle der Europäischen Union (EU) zusammen mit Großbritannien, Norwegen und anderen willigen und gleichgesinnten Ländern, solange eine Vertiefung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Militärintegration durch Vetoakteure innerhalb der EU verhindert wird. Gleichzeitig, und viertens, besteht ein starkes gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung der Unterstützung der USA und ihrer fortgesetzten Integration in die NATO. Die USA bleiben, zumindest kurzfristig, für die europäische Sicherheit unverzichtbar. Selbst wenn die europäischen Staaten entschlossen das Ruder herumreißen, wird es Jahre dauern, bis sie den Beitrag der USA zur europäischen Sicherheit ersetzen können. Aber sie sollten besser schnell damit anfangen.
„Current and Future Security Architecture for the Baltic States and Europe”

Summary of the conference results at the Representation of the Free and Hanseatic City of Hamburg, Jägerstraße 1-3, 10117 Berlin,
March 20 – 21 2025
The conference brought together more than 20 speakers and panelists from the Baltic States and Germany to discuss questions of what constitutes a security architecture in Europe. The presentations and discussions proceeded along four major themes:
• conceptual considerations,
• historical backgrounds, and developments in Russia, the Baltic States and Europe,
• the disintegration of the European security and peace architecture after the 1990s,
• possible future scenarios.
In a keynote speech on the eve of the first day of the conference, former Minister of Foreign Affairs of the Republic of Estonia and current member of the European Parliament Marina Kaljurand provided rich and instructive personal and political insights from historical turning points with a view from Tallinn and Brussels.
Earlier deterioration and signs on the wall notwithstanding, all participants agreed on the dramatic impact triggered by the full-scale Russian military invasion of Ukraine in February 2022. This destroyed almost all remaining core elements of collective security in Europe, as it had developed over many decades.
The challenges for small countries, in particular the Baltic States, were a focus of the conference with respect to the protection of their interests and advancing their recommendations in a security architecture. Such arrangements are often dominated by large and powerful states, even if only by their larger military and economic resources. Small states are in danger not to be heard or even forgotten and shoved to the side lines. The history of having to bear with decisions taken behind their back is not forgotten in the Baltic States. Centuries of experience with Russia as an imperial and colonizing power have left their mark. After the end of the East-West confrontation at the beginning of the 1990s, warnings over revisionist Russian intentions were too easily ignored or wished away in other parts of Europe, whereas the Baltic States remained alert and worried early on. People in the Baltic States were less likely to be fooled by Russian propaganda and aware of the need to stand firmly together in NATO and the EU. Freedom is as hard to get as it is to maintain.
German speakers widely agreed on the need to listen carefully to the views from the Baltic States. However, there was also an admonition by some not to overlook the explicit or implicit contributions by some Western policies to the deterioration in the relationship with Russia. While one must not hold any illusions given the ruthlessness and revisionist intentions of the current administration in Russia, one should also neither be fooled by Russian threats nor ignore the dangers of nuclear escalation.
Looking into the longer distant future after a settlement of the current war, however that may look like, there has to be a return to arms control agreements and to collective forms of limiting the risks of military confrontation in Europe. This buildup of a new European security architecture is far from assured, at least when this is seen as a stable and resilient assemblage of institutions able to preserve peace. Even with expectations lowered to an order of accepted behaviour in interstate relations and measures to reduce the likelihood of non-intended warfare, such a system will undoubtedly be difficult to achieve. Priority has to be given to the challenges of the present.
Another somewhat contentious issue is related to the likelihood, extent and stages of a possible U.S. withdrawal from Europe. The sudden shifts and changes in directions in U.S. policy by the second Trump administration left ample room for controversial interpretations on U.S. intentions. While the focus of U.S. strategic interests has shifted to the Indo-Pacific, most participants agreed that Europe will remain a base for an almost certainly reduced but nonetheless still significant nuclear and conventional engagement by the U.S. But by seriously putting the U.S. engagement in NATO in doubt, Trump has achieved what decades of complaints about an unjust burden-sharing have failed to do: the wakeup call has finally been heard in Europe.
The results of the conference consist of four main insights. Taking the interests and challenges of Baltic States seriously has several implications. A first one is the urgent need to increase Western military-based deterrence via radically increasing the role of Europe in it. A second one is to become more aware of and quickly implement measures to prevent and counter hybrid warfare and attacks by Russian actors (in cyber space, on infrastructure, disinformation and deceit etc.). Those are no longer threatening the Baltic States alone, but have developed into a curse for the rest of Europe as well. A third one is an urgent call for further increased agency by European states in the provision of security and in the support for Ukraine. It is up to a stronger Europe to make certain that Ukraine continues to be able to defend itself against Russian aggression and is not just on the menu but holds a seat at the table when it comes to earnest talks about conflict settlement backed up by European security commitments. This includes a greater role for the European Union (EU) in conjunction with Great Britain, Norway and other willing and like-minded countries as long as a deepening of a common European defence and military integration is prevented by veto players inside the EU. At the same time, and fourthly, there is a strong common interest in maintaining U.S. support and integration into NATO. The U.S. remains, certainly in the short run, indispensable for European security. Even if they get their act together, it will take years for European states to substitute the U.S. contribution to European security. But they better get started quickly.
➤ „Current and Future Security Architecture for the Baltic States and Europe” Summary of the conference results (60 KB)
➤ „Aktuelle und zukünftige Sicherheitsarchitektur für die baltischen Staaten und Europa“ Stellungnahme zur internationalen Konferenz (66 KB)
➤ Beitrag auf Website des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
➤ Konferenz-Bericht auf der Seite der Lettischen Akademie der Wissenschaften
➤ Konferenz-Bericht auf der Seite der Litauischen Akademie der Wissenschaften