Der weltweite Siegeszug von westlichen Standards für das, was als Wissen oder als Wissenschaft gilt, führt dazu – wie der Weltbildungsbericht der UNESCO bereits 2005 feststellte – , dass andere Wissensformen wie indigenes Wissen oder mündlich überlieferte Traditionen abgewertet werden, obwohl diese Wissensbestände der Lösung lokaler Probleme häufig angemessener sind als mit westlichen Wissen(schaft)smethoden produzierte Vorschläge. Eine solche epistemische Ungerechtigkeit beschreibt Amitav Ghosh in seinem Roman The Hungry Tide (2004; Hunger der Gezeiten, 2006) am Beispiel eines historischen Massakers, das 1979 an Bewohnern der indischen Sundarbans verübt wurde. Die offizielle Begründung lautete, dass sie sich unrechtmäßigerweise in dem von der UNESCO 1973 zum Sundarban Tiger Reserve und 1977 zum Naturschutzgebiet erklärten Gebiet angesiedelt hätten. Der Vortrag zeigt ausgehend von diesem Roman den Beitrag westlicher Wissenschaft zu epistemischer Ungerechtigkeit und ihren möglichen Folgen im globalen Maßstab.
Anna Margaretha Horatschek studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie in Freiburg, Berkeley (USA), und Mannheim. Von 2000 bis 2018 war sie Professorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, von 2016 bis 2021 Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Indian English Literatures, Wissensproduktion, Identität und Alterität, Social Epistemology. Neuere Publikationen u.a.: “From Knowledge to Knowledges: An Introduction”. In: Competing Knowledges. Wissen im Widerstreit. Hrsg. A.M. Horatschek (2020); “Consciousness Studies: Which Consciousness? What Studies?” In: Consciousness Studies in Sciences and Humanities: Eastern and Western Perspectives. Hrsg. P. S. Satsangi, A. M. Horatschek, A. Srivastav (2024).