Seit September 2022 hat sich eine neue Protestbewegung in Iran formiert. Zum wiederholten Mal lehnen sich Menschen in Iran gegen das unerbittlich strenge Regime ihres Landes auf, gegen die damit verbundene Unterdrückung von Menschenrechten. „Frau Leben Freiheit“: Diese jahrzehntealte feministische Parole aus dem Kurdischen hat sich in Iran seit dem 19. September 2022 zum Leitgedanken der Proteste entwickelt, nachdem die junge iranische Kurdin Jîna Mahsa Amini in Polizeigewahrsam gestorben ist.
Wie ist diese Protestbewegung einzuordnen mit Blick auf die iranische Geschichte? Und: Welche Überzeugungen aus dem zwölferschiitischen Islam prägen die Islamische Republik Iran und den dortigen Umgang mit Menschenrechten?
Sie hören Auszüge aus dem Gespräch mit Professorin Dr. Anja Pistor-Hatam: Sie ist Professorin für Islamwissenschaft und Geschäftsführende Direktorin des Seminars für Orientalistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, seit 2011 ist sie Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg; die Podcast-Folge haben wir am 7. Juli 2023 aufgezeichnet.
Mein Name ist Dagmar Penzlin, ich bin Referentin für Kommunikation an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg: Hallo!
So kraftvoll und furchtlos die jüngste Protestbewegung ist und auch weltweit Aufmerksamkeit erregt hat, für Iran-Expertin Anja Pistor-Hatam stellen sich grundsätzliche Fragen, wenn es darum geht, wohin der Protest führen könnte. Die Antworten ergeben eine eher negative Prognose.
„Wie viele Menschen werden sich den Protesten noch anschließen? Geht es tatsächlich durch alle Bevölkerungsgruppen? Und was wäre das alternative Szenario? Also was sollte anstelle der Islamischen Republik Iran stehen? Welches politische Konzept? Und natürlich kann man sich irren. Aber wenn man sich anschaut, welche Revolutionen, welche Widerstandsbewegungen erfolgreich waren, dann brauchen diese in der Regel Führungsfiguren, und es muss auch ein alternatives Konzept geben. Und das ist jetzt hier, so würde ich es zumindest sehen, nicht sichtbar. Es gibt Iranerinnen und Iraner im Exil, auf die immer verwiesen wird, und das wären gute Führungsfiguren. Die sind aber nicht im Land. Und man weiß auch nicht, wie gut sie politisch vernetzt sind, ob sie Konzepte haben, abgesehen davon, dass das Regime gestürzt werden soll. Und eine ganz wichtige Frage: Hören die Menschen in Iran auf diese Leute? Ich meine, wenn man das vergleicht mit der Revolution von 79, hat es den Protesten enorm geholfen, dass es diese Figur an der Spitze gab – irgendwann, nämlich Chomeini. Und der war damals auch im Exil. Aber er hatte überall seine Leute in den Moscheen, in den Gemeinden: Vertraute, die seine Schriften und seine Tonbandaufnahmen, seine Kassetten im ganzen Land verteilt haben und die in den Moscheen auch halbwegs sicher waren vor dem damaligen iranischen Geheimdienst Savak, der mit dem Schah gemeinsam unterschätzt hat, was in den religiösen Kreisen möglich war. Eine solche Figur sehen wir meines Erachtens im Moment nicht.“
Professorin Dr. Anja Pistor-Hatam hat als Islamwissenschaftlerin einen historischen Schwerpunkt gerade mit Blick auf Iran und das Osmanische Reich, ausgehend vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Außerdem gehören zu Ihren Forschungsthemen unter anderem die Konstruktion von Minderheiten in Iran beziehungsweise in der Islamischen Republik Iran sowie der zwölferschiitische Islam; er ist seit 1501 Staatsreligion in Iran.
Die Islamische Republik Iran ist gemäß Verfassung eine Theokratie, das heißt Gott beziehungsweise der verborgene Zwölfte Imam als Gottes Repräsentant ist der alleinige Herrscher.
„Ich greife jetzt nicht aus bis zum Beginn der Zwölferschia oder der Schia überhaupt, sondern versuche in wenigen Sätzen zusammenzufassen, wie Chomeini zu seinem Konzept gekommen ist. Das ist eine tatsächlich jahrhundertelange Geschichte, in der sich verschiedene Zweige des zwölferschiitischen Islams entwickelt haben. Zwei besonders, und der eine hat sich am Ende durchgesetzt, mehrheitlich zumindest. Und zwar die Überzeugung der schiitischen rechtsgelehrten Theologen, dass sie Stellvertreter seien, des zwölften Imams. Dazu muss man wissen, dass der zwölfte Imam, der wahrscheinlich nie existiert hat, den es aber geben musste, um diese Imam-Reihe fortzuführen, dass der durch ein göttliches Wunder im 9. Jahrhundert in die Verborgenheit entschwunden sein soll und eines Tages als der Messias wieder auf Erden erscheinen wird. Und er wird dann die Ungläubigen töten und die Rechtgläubigen ins Paradies führen.
So, und dann war immer die Frage: Dürfen die Schiiten in der Zeit der Abwesenheit des zwölften Imams eigentlich politisch überhaupt tätig sein? Es gab den einen oder anderen schiitischen Herrscher, und die Rechtsgelehrten hielten sich aber eher zurück. Mal unterstützten sie den Herrscher, mal nicht. Aber sie haben ja nie selbst die Macht ergriffen.
Sie haben vorhin das Jahr 1501 erwähnt. 1501 eroberten die Safawiden – das war ein Derwischorden, der aus Ostanatolien stammte – die iranische Hochebene und die Safawiden setzten den zwölferschiitischen Islam als Staatsreligion durch, auch in Abgrenzung zum Osmanischen Reich, das sunnitisch war. In der Zeit haben sich die Gelehrten gestritten, ob sie zum Beispiel überhaupt das Freitagsgebet leiten durften anstelle des zwölften Imams. Da gab es unterschiedliche Meinungen. Und dann hatte ich gesagt, im Laufe der Zeit, also seit dem 16. Jahrhundert, hat sich eine Richtung durchgesetzt am Ende, die sagte ‚Ja, wir können immer mehr Befugnisse des Imams übernehmen, des zwölferschiitischen Imams, weil wir ihn ja vertreten.
Er hatte schon mal Boten, als er gerade verschwunden war. Und wir sind die Gruppe in der Gesellschaft, die weiß, was der wahre Glaube ist, wie Gottes Herrschaft auf Erden umzusetzen ist.‘ Und niemand von denen ist aber lange Zeit so weit gegangen zu sagen: ‚Wir übernehmen die politische Herrschaft.‘
Das hat eine zwölferschiitische Gelehrtenfamilie in Libanon getan, noch vor Chomeini. Und Chomeini hat dann dieses Konzept selbst entwickelt, als er gar nicht mehr in Iran lebte, sondern erst im Irak, also im Irak vor allem, später in Frankreich – velāyat-e faqīh auf Persisch: die Herrschaft des Rechtsgelehrten. Das bedeutet, dass der höchstrangige zwölferschiitische Rechtsgelehrte, in dem Fall in Iran, in Vertretung des zwölferschiitischen Imams die Herrschaft ausübt, um eben, wie gesagt, das islamische Recht durchzusetzen und Gottes Willen umzusetzen.“
1948 gehörte Iran zu den unterzeichnenden Staaten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Zugleich gibt es eine – verkürzt gesagt: – islamische Menschenrechtsphilosophie, die die Menschenwürde und die Menschenrechte aus einer Religion, nämlich dem Islam, ableitet. Und das spielt im Selbstverständnis der Führungsspitze in der Islamischen Republik Iran eine zentrale Rolle, erklärt Anja Pistor-Hatam.
„Nämlich zum einen, dass das islamische Recht grundlegend ist, und zum Zweiten leitet sich daraus ab, dass der Mensch mehr Pflichten hat als Rechte. Er hat Pflichten gegenüber Gott. Und von daher ist die Frage: Wie passt das zusammen mit den Menschenrechten? Man muss jetzt natürlich aber auch sagen, dass auch viele muslimische und auch iranische Vordenker und Gelehrte mit den Menschenrechten und der Menschenwürde nach der Allgemeinen Menschenrechtserklärung arbeiten und dass viele Menschen in Iran und anderen muslimischen Staaten sich deren Umsetzung auch wünschen. Aber diese Erklärungen berücksichtigen das Säkulare und den Schwerpunkt auf das Recht des Menschen nicht.“
Die Konsequenz daraus ist, dass ein Mensch nicht automatisch Menschenrechte besitzt. Vielmehr gibt es ein abgestuftes Konzept der Menschenwürde, betont Anja Pistor-Hatam.
„Also wir bleiben jetzt am besten mal beim schiitischen Verständnis, so wie das sich in Iran artikuliert, in, sagen wir mal, im Bereich der Leute, die die Islamische Republik unterstützen, dann gehen die davon aus, dass es zwei Sorten von Menschenwürde gibt. Es gibt eine angeborene, von Gott dem Menschen verliehene Würde, weil Gott dem Menschen die Verantwortung für die Erde übertragen hat. Und das wird so verstanden, dass das auch etwas mit einer Würde zu tun hat. Und dann gibt es nach diesem zwölferschiitischen Verständnis, wie es in Iran maßgeblich ist zurzeit, die zweite Würde. Das ist eine Würde, die man sich erarbeiten muss. Und es wird tatsächlich von manchen Leuten sogar gesagt, dass es mehrere Stufen der Würde gibt. Und die höchste Menschenwürde erreicht man, wenn man ein frommer Muslim oder eine fromme Muslimin ist nach zwölferschiitischem Verständnis. Und je frommer man ist, desto größer ist die Würde, die man bekommt. Und das hat natürlich mit der Menschenwürde der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nichts zu tun. Denn die geht davon aus, dass wir eine Würde ohne Würdigkeit haben. Das heißt, wir müssen uns der Würde nicht würdig erweisen, sondern wir haben sie, weil wir Menschen sind, und zwar alle ohne Ansehen der Person. Das ist schon nach islamischem Recht schwierig, weil man nach islamischem Recht ganz grundsätzlich unterscheidet zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen, die da auch nicht dieselbe Stellung haben. Wenn man jetzt wirklich nach dem klassischen islamischen Recht geht.“
Schließlich versteht sich die Islamische Republik Iran als Gottesstaat.
„Der Anspruch ist ja, dass man Gottes Recht auf Erden umsetzt, dass es ein Gottesstaat ist. Deswegen ja auch die Verurteilung der Demonstrantinnen und Demonstranten wegen Krieg gegen Gott. Ja, also man selbst mit dieser Republik – wobei die Republik auch nicht mehr so betont wird – mit dieser Verfassung, mit dem obersten Religionsführer an der Spitze sagt, was Gottes Gesetz ist. Und dazu gehört eben auch eine Islam-gemäße Kleidung in Anführungszeichen. Und wer sich dagegen auflehnt, verstößt nicht gegen Menschen, der verstößt gegen Gottes Gebote.“
Jîna Mahsa Amini fiel im September 2022 in Polizeigewahrsam ins Koma, wenige Stunden nachdem die sogenannte Sittenpolizei sie in Teheran festgenommen hatte. Der Vorwurf lautete: Ihr Kopftuch habe ihr Haar nicht vorschriftsmäßig bedeckt. Amini starb drei Tage nach ihrer Festnahme. Das Kopftuch oder der Schleier beziehungsweise der Hijab ist ein politisches Symbol insbesondere in Iran. Und das schon durch das 20. Jahrhundert hindurch. 1936 etwa ließ Reza Schah Pahlavi die Verschleierung der Frau verbieten.
„Man kann es mal grundsätzlich sagen: Viele Frauen im Vorderen Orient haben sich verschleiert. Wobei da immer die Frage ist, was das dann genau ist: Ob das ein Kopftuch ist oder ein Tschador oder ob sie das Gesicht verdecken. In jedem Fall waren das ja lange Zeit vor allen Dingen die Frauen, also Frauen, die nicht körperlich arbeiten mussten. Wer auf dem Feld gearbeitet hat, konnte sich in der Regel jetzt nicht so gut verschleiern. Also ein Kopftuch vielleicht aufziehen. Und auch in den Städten haben die Frauen meistens, wenn sie das Haus verließen, bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts sich den Tschador übergeworfen. Und Reza Schah Pahlavi, der erste der beiden Pahlavi-Schahs, hat dann 1936 ein Schleierverbot erlassen. Er wollte Iran modernisieren, und wir kennen das ja auch aus vielen Diskussionen bei uns in Europa oder den USA, dass so vieles über den Körper, das Aussehen von Frauen abgehandelt wird. Und hier ging es eben auch wieder darum zu zeigen, dass Iran ein modernes Land sei, was man eben nicht nur dadurch bewies, dass man städtebaulich viel veränderte, dass man neue Industrien ansiedelte undsoweiter. und so fort, sondern dass eben auch die Frauen den Schleier ablegen sollten. Es gab auch vorher schon Frauen, die das getan haben, die das auch wollten, aber das gab jetzt ein Schleierverbot. Und das griff doch sehr in die Persönlichkeitsrechte der Frauen ein – in ihren Intimbereich. Denn viele Frauen, die eben immer den Tschador übergeworfen hatten, wenn sie das Haus verließen, kamen sich nackt vor ohne. Das ging so weit unter Reza Schah, dass die Staatsbediensteten ihre Frauen zu bestimmten Anlässen mitbringen mussten und die Frauen mussten dann in europäischer Kleidung erscheinen. Männer übrigens auch. Männer durften auch die traditionellen Kopfbedeckungen nicht mehr tragen. Also die Gelehrten, die Mullahs, durften ihren Turban tragen, aber alle anderen mussten europäische Hüte aufsetzen. Und die Frauen haben dann darauf reagiert, so dass sie das Haus nicht mehr verlassen haben. Das muss man sich vorstellen. Die waren dann mehr oder weniger zu Hause eingesperrt, weil sie - das ist genau das Gegenteil, was wir jetzt von den Sittenwächtern und -wächterinnen kennen - auf der Straße von der umgekehrten Sittenpolizei aufgegriffen wurden, wenn sie verschleiert auf die Straße gingen. Ja, also da gibt es dann auch viele Anekdoten dazu. Jedenfalls ist das Ganze unter Mohammad Reza Schah dann, der 1941, nachdem sein Vater auf russischen und britischen Druck zurücktreten musste, zum Schah gekrönt wurde. Und der hat das Ganze wieder geändert. Dann gab es im Grunde genommen jetzt mal von Seiten der Regierung keine Vorschriften, wie der soziale Druck war, das ist ja eine ganz andere Geschichte. Und viele Frauen haben keine Kopfbedeckung mehr getragen, und das änderte sich dann mit der Islamischen Republik. Und jetzt ist die Frage: Warum ist das im Moment so wichtig? Weil es eben, Sie haben es gesagt, ein Symbol ist. Ja, jetzt geht es auch wieder darum. Es geht wieder um die Frauen. Und das Kopftuch oder die Verschleierung wird eben gesehen als die tugendhafte, sittsame, richtige Bekleidung nach islamischen Vorschriften. Und es steht damit auch für das, was die Islamische Republik Iran symbolisiert, was sie sein will und sein soll nach eigenem Verständnis.“
Akademiemitglied Anja Pistor-Hatam ist eine versierte Kennerin der iranischen Geschichte. Und so blickt sie als Historikerin auch auf die aktuellen Entwicklungen.
„Wenn man sich jetzt Protestbewegungen anschaut in der jüngeren iranischen Geschichte, dann muss man sagen, dass es davon sehr viele gegeben hat. Also ich sagte in der jüngeren Zeit, fangen wir mal im 19. Jahrhundert an. Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine große Protestbewegung, die sogenannte Tabakrevolte, weil der damalige Schah Geld benötigte, hatte große Schulden, dem Land ging es wirtschaftlich nicht gut. Es hing zwischen Russland und Großbritannien, und der Schah verkaufte eine Tabakkonzession an einen britischen Unternehmer. Und daraufhin haben die Leute, die haben also in Iran die Tabakbauern, die Tabakhändler, alle haben gesehen, das führt uns in den Ruin. Außerdem wollten sie diese ausländische Beteiligung nicht. Und da haben sich auch, und das ist auch wichtig in dem Zusammenhang dessen, was wir vorhin schon besprochen haben, haben sich hochrangige schiitische Gelehrte eingemischt. Und dann hat angeblich einer erklärt: ‚Das Tabakrauchen ist unislamisch.‘ Vorher haben ganz viele Leute geraucht, dann war es plötzlich unislamisch. Selbst der Schah und seine Frauen im Harem konnten sich nicht mehr erlauben zu rauchen. Das hat dazu geführt, dass die Konzession zurückgenommen werden musste. Also da haben sich viele Leute zusammengetan.
Dann haben wir 1906, 1906 bis 11 die Verfassungsrevolution, und das ist eine Geschichte auch des Auf und Ab. Und am Ende gab es dann tatsächlich eine Verfassung, auch wenn es zwischendurch eine kleine Autokratie gegeben hatte, also der Schah dann wieder das Parlament hat bombardieren lassen usw. Da haben sich so viele Leute engagiert: Reformer, die Bildungsreformen wollten, Frauen, die Frauenrechte eingefordert haben und Schulen für Mädchen wollten. Angehörige religiöser Minderheiten, Angehörige sogenannter ethnischer Minderheiten. Leute, die vorher in Russland gekämpft hatten, kamen dann nach Iran. Da ist wahnsinnig viel passiert. Die Stämme, also verschiedene Bevölkerungsteile in unterschiedlichen Teilen Irans. Das heißt, solche Protestbewegungen sind nicht neu. Was dann daraus entsteht, hängt immer auch davon ab, in welcher Konstellation sich Iran gerade befand. Also ich hatte gesagt ‚Konterrevolution‘ oder den Begriff hatte ich noch nicht verwendet. Aber es gab eine Verfassung, es gab ein Parlament, dann starb der Schah, sein Nachfolger kam, der ließ das Parlament bombardieren. Dann haben sich in verschiedenen Landesteilen die Leute zusammengetan und gegen die Truppen des Schahs gekämpft und haben die Verfassung dann am Ende wiedereinsetzen können. Und dann ist da immer die Frage gewesen: Wie verhalten sich Russland und England? Die Russen waren ganz klar auf der Seite des Absolutismus, die haben ihre Kosaken geschickt. Also auch die ausländische Einmischung spielt eine Rolle und die spielt natürlich auch heute eine Rolle, in welcher Konstellation Iran sich befindet? Denken wir daran, dass Iran gerade dabei ist, seine diplomatischen Beziehungen wieder auszubauen. Es hat gemeinsam mit Russland in Syrien gekämpft, es hat im Jemen gegen Saudi-Arabien kämpfen lassen. Jetzt scheinen sich aber Saudi-Arabien und Iran zu verständigen. Das stärkt das Land ja unter Umständen wieder. Iran war lange Zeit ein Paria, es wurde erheblich sanktioniert. Daraufhin hat man im Land selbst, ist man sehr erfinderisch gewesen. Man hat sehr viel selbst produziert. Und wie man an den Sanktionen gegenüber Russland sieht, gibt es immer Mittel und Wege, die Dinge zu kommen, die man haben will und die man benötigt. Also eine weltweite Sanktionspolitik gibt es nicht. Insofern ist es auch wichtig zu schauen, wie kommt Iran, wie kommt das Regime jetzt aus dieser Situation heraus? Und zwar ist es unter anderem extrem wichtig, dass die Wirtschaft gut funktioniert. Das tut sie nicht. Es herrscht eine unglaubliche Korruption. Die Stiftungen, die religiösen Stiftungen, die eigentlich den sogenannten Unterdrückten in der Bevölkerung helfen sollten, sind eine massive Wirtschaftsmacht, die natürlich auch ihren Profit nicht verlieren will. Die Revolutionsgarden stecken da mit drin, aber die Bevölkerung hat zu einem erheblichen Teil täglich zu kämpfen ums Überleben. Dann ist natürlich auch die Frage, wie viel Energie bleibt da übrig, um das Regime zu bekämpfen, wenn das Regime so massiv zurückschlägt? Wenn Iran sich wirtschaftlich erholen kann, was bisher nicht gelungen ist, dann wird es natürlich wieder stärker. Rohani, der Präsident vor Raisi, hatte versprochen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, eine wirtschaftliche Erholung zu bewirken. Es ist ihm nicht gelungen. Von daher ist es zweifelhaft, dass das funktionieren wird. Aber wie gesagt, es sind unheimlich viele Faktoren, die zu verschiedenen Zeiten der Geschichte Irans auch mit eingewirkt haben auf das, was im Land passiert ist.“
Bei allen Unabwägbarkeiten hinsichtlich der politischen Entwicklungen: Sind Hoffnungen auf mehr Demokratie in der Islamischen Republik Iran überhaupt realistisch? Für Anja Pistor-Hatam hinge eine positive Antwort auf diese Frage davon ab, wie viele Menschen sich den Protesten wirklich anschließen würden.
„Die Frage ist: Wie groß ist der Teil der Bevölkerung, der substanzielle Veränderung will? Und wie viele Menschen sind bereit, dafür ihr Leben und ihre Gesundheit und das Leben ihrer Angehörigen aufs Spiel zu setzen? Und das kann man sich ja dann immer selbst fragen, wie weit man selbst gehen würde. Und ich muss sagen, ich finde es ungeheuer mutig, wie viele Menschen sich in Iran jetzt auch gerade wieder in der letzten Zeit, aber auch zwischendurch, wie viele es gewagt haben, ihren Protest öffentlich darzustellen, wie viele solidarisch waren.
So viele junge Leute sind 2009 ins Gefängnis gekommen, gefoltert worden. So viele junge Menschen sind jetzt wieder in dieser Situation. Es ist einfach dramatisch. Und die Frage ist ja, das sind Opfer, die sie bringen. Aber es muss wahrscheinlich einfach noch viel mehr sein. Es müssen noch viel mehr Menschen sein. Und das genau wird dieses Regime so gut es kann zu verhindern wissen. Man muss die Bevölkerung ruhigstellen. Unter Ahmadinedschad gab es unheimlich viel populistische Maßnahmen. Man konzentriert sich dann wieder auf diejenigen, die dem Regime eher nahe sind, damit sie ihm nicht abhandenkommen. Und insofern, ich natürlich kann das nur von außen beurteilen, bin ich, wie gesagt, nicht optimistisch, dass sich da in der nächsten Zeit etwas ändert. Aber man weiß ja nie, was es für eine Dynamik in einem Land gibt, die man von außen nicht wirklich wahrnehmen kann. Und auch das, was so kommt, was man an Einzelaspekten hat, was Menschen aus Iran berichten, sind ja immer nur punktuelle Aufnahmen. Also von daher, wie gesagt, ich bin eher pessimistisch, aber würde auch immer sagen, auf der Grundlage dessen, was ich weiß, was ich aus der Geschichte kenne und was ich im Moment über Iran weiß, und das ist natürlich nicht alles.“