Ein „Haus der Gerechtigkeit“ für Iran - Die Verfassungsrevolution von 1906–11 im Zeichen der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit gilt im Islam als wesentliche Tugend. Im Widerstand gegen den Despotismus des Schahs beriefen die Menschen sich während der iranischen Verfassungsrevolution auf das ihnen nach schiitischer Praxis zustehende Recht auf gerechte Herrschaft.
Essay von Anja Pistor-Hatam, 25. Mai 2022

Ein Schwarz-Weiß-Bild von iranischen Demonstrant*innen vor der britischen Botschaft. Sie tragen traditionelle lange Gewänder und Kopfbedeckungen.
Demonstranten suchen Schutz in der britischen Botschaft (1906)

Während die iranische Revolution von 1979 aufgrund der mit ihr verbundenen politischen Erschütterungen vielen Menschen in Europa ein Begriff ist, lässt sich dies über die Verfassungsrevolution von 1906–11 nicht sagen. Zwar bildet die Verfassung, die 1906 vom damaligen Schah proklamiert und 1907 ergänzt wurde, die Grundlage auch für Teile der Verfassung der Islamischen Republik, doch ist ihre Bedeutung außerhalb Irans häufig nur Fachwissenschaftler*innen bekannt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich in Iran eine Koalition aus reformorientierten Staatsmännern, Intellektuellen, Klerikern und Kaufleuten sowie Händlern und Handwerkern, Angehörigen sog. religiöser Minderheiten und engagierten Frauen, die ein Ende der Willkürherrschaft und die Einführung einer Verfassung verlangten. Den Forderungen dieser heterogenen Gruppe lag ein bedeutendes Konzept zugrunde: „Gerechtigkeit“.

Gerechtigkeit als Pflicht der Herrschenden

Grundsätzlich gilt „Gerechtigkeit“ im Islam als wesentliche Tugend. Im klassischen Arabisch stellt der Begriff ʿadl eine Verknüpfung aus moralischen und sozialen Werten dar, zu denen neben „Gerechtigkeit“ auch „Gleichgewicht“ oder „Mäßigung“ gehören. Göttliche Gerechtigkeit bildet die Synthese dieser Werte. Allerdings lassen sich weder im Koran noch in der Sunna eindeutige Hinweise darauf finden, was „Gerechtigkeit“ genau bedeutet und wie sie zu erreichen ist. Es gehört daher zu den Aufgaben von Theologen und Rechtsgelehrten, dies herauszuarbeiten. Nach schiitisch-islamischer Praxis hat die Bevölkerung ein Recht auf Gerechtigkeit, welche zu den dem Herrscher von Gott auferlegten Pflichten gehört. Wird er diesen Anforderungen nicht gerecht, können seine Untertanen dafür sorgen, dass der Herrscher abgesetzt und durch einen gerechten Herrscher ersetzt wird.

Der „Zirkel der Gerechtigkeit“

Neben den aus dem Islam abgeleiteten Vorstellungen von „Gerechtigkeit“ beriefen sich die iranischen Konstitutionalist*innen direkt oder indirekt auch auf den „Zirkel der Gerechtigkeit“, ein vorderorientalisches Staatskonzept, das aus vorislamischer Zeit stammt und sich in Fürstenspiegeln widerspiegelt: Ein Herrscher bedarf zum Erhalt seiner Macht finanzieller Mittel für seine Truppen, die er nur durch Steuern erzielen kann, welche auf dem Wohlstand der Bevölkerung beruhen, der wiederum nur durch Gerechtigkeit und gute Verwaltung zu erreichen ist. Wer den Herrscher zu mehr Gerechtigkeit auffordern wollte, durfte dies ohne Vermittlung tun. Hierfür gab es die Möglichkeit, direkt beim Herrscher vorstellig zu werden oder eine schriftliche Petition einzureichen. Auch während der Verfassungsrevolution in Iran wurde Bezug auf einen Topos genommen, demzufolge der Herrscher selbst gerecht sei, seine Regierung und seine Statthalter jedoch ohne sein Wissen gegen das Prinzip der gerechten Herrschaft verstießen. Daher konnten die Menschen gegen politische Eliten revoltieren bei gleichzeitiger Bekundung ihrer Loyalität gegenüber dem Schah. Dessen gerechte Herrschaft sollte durch die Einführung einer konstitutionellen Monarchie wiederhergestellt werden. Offenkundig handelt es sich hierbei um eine Verknüpfung von westlichem verfassungsstaatlichen Denken mit dem vorderorientalischen „Zirkel der Gerechtigkeit“.

Ein Schwarz-Weiß-Bild des ehemaligen iranischen Parlamentsgebäudes in Teheran. Das Gebäude ist im neoklassizistischen Stil erbaut  mit auffällig hohen Säulen vor dem Eingang.
Parlamentsgebäude in Teheran

Zu Beginn der Verfassungsrevolution wurden Rufe nach einem „Haus der Gerechtigkeit“ laut. Viele Menschen, die diesen Ruf erhoben oder ihm folgten, waren mit westlichen Konzepten von Verfassungen und Parlamenten nicht vertraut. Stattdessen beriefen sie sich auf islamisch-schiitische Vorstellungen von Gerechtigkeit bzw. auf den „Zirkel der Gerechtigkeit“.

Ihre Forderungen nach einem Ende der Willkürherrschaft, nach Sicherheit und Ordnung sowie nach dem Schutz nationaler Interessen vor ausländischer Einmischung und wirtschaftlicher sowie militärischer Bedrohung – maßgeblich durch die beiden damaligen Großmächte Russland und Großbritannien – brachten dies zum Ausdruck.

 Jedem das Seine, aber nicht allen das Gleiche

Politische Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, Vereinen, Parteien und Individuen verliefen u. a. entlang der Frage der Trennung von Religion und Politik sowie der Gleichberechtigung von Muslimen und Nichtmuslimen. Zwar wurde die Unterstützung für die Verfassung und das Parlament auch von Teilen des schiitischen Klerus getragen, doch war dieser strikt gegen eine Trennung von Religion und Politik. Einem Religionsgelehrten gelang es schließlich, ein Komitee als Verfassungsinstanz durchzusetzen, dem ausschließlich hochrangige Religionsgelehrten angehörten und das jedes vom Parlament zu verabschiedende Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit dem schiitischen Islam iranischer Lesart überprüfte. In Form des sog. Wächterrates findet sich diese Instanz in der Islamischen Republik Iran heute wieder.

In Hinblick auf sog. religiöse Minderheiten wurde nach kontroversen Debatten und Ergänzungen der Verfassung festgelegt, dass die Mitglieder der nach islamischem Recht anerkannten Religionen (Zoroastrismus, Judentum, Christentum) im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz eigene Abgeordnete ins Parlament wählen durften – auch dies gilt in der Islamischen Republik Iran. Die von radikalen Vordenkern erhobene Forderung nach der Gleichberechtigung aller Iraner unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, stieß hingegen auf massive Ablehnung. Schließlich sieht das traditionelle islamische Verständnis von Gerechtigkeit vor, die Angehörigen verschiedener Religionen auch unterschiedlich zu behandeln. In einer harmonischen Gesellschaft sollte im Sinne der Gleichwertigkeit jedem das Seine (suum cuique), aber nicht allen das Gleiche zustehen.

Gerechtigkeit im Ungefähren

Kaum überraschend zeichnete sich der Begriff „Gerechtigkeit“ im Iran des beginnenden 20. Jahrhunderts durch eine ganze Bandbreite an Bedeutungen aus, die z. T. bewusst im Ungefähren gelassen wurden. Aus dem geforderten „Haus der Gerechtigkeit“ wurde ein Parlament als gesetzgebendes Organ, in dem auch Abgeordnete der anerkannten religiösen Minderheiten vertreten waren und über das ein Komitee von Religionsgelehrten wachte. Das Ende der konstitutionellen Monarchie kam Ende 1911 durch die politische und militärische Intervention der beiden Großmächte, vor der ein gerechter Herrscher sein Volk und sein Land idealerweise beschützt hätte.

Literaturhinweise

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Prof. Dr. Anja Pistor-Hatam

Prof. Dr. Anja Pistor-Hatam hat seit dem Sommersemester 2003 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine C4/W3-Professur für Islamwissenschaft inne. Nach dem Studium der Islamwissenschaft und Geschichte an der Universität Freiburg, wo sie im Jahre 1992 promoviert wurde, habilitierte sie sich 1999 an der Universität Heidelberg. Prof. Pistor-Hatam hatte an der Christian-Albrechts-Universität bereits verschiedene Ämter inne (Dekanin und Prodekanin für Forschung der Philosophischen Fakultät, Senatsvorsitzende), zuletzt war sie von 2014 bis 2020 Vizepräsidentin für Studienangelegenheiten, Internationales und Diversität. Sie ist u. a. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und des Wissenschaftlichen Beirates (Iranistik) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.