„Das große Brahms-Bild wird nicht verändert. Was sich ändert, ist erstmal das, was klingt und was zu lesen ist. Also die Bildung, das Wissen über Brahms ändert sich. Es wird erweitert.“
Das sagt der wissenschaftliche Leiter der neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe, Prof. Dr. Siegfried Oechsle, über den Einfluss, den die historisch-kritische Edition auf das facettenreiche Bild und die Rezeption von Johannes Brahms hat.
„Ich würde nicht sagen, dass wir irgendwelche grundsätzlichen Wendestellen haben. Oder wo man sagt:‚Jetzt kommt ein ganz neuer Brahms zum Vorschein.‘ Das ist nicht der Fall. Das Bild ist reicher, ist differenzierter. Und bietet Anlass zu neuen Fragen, die auch die Wissenschaft und natürlich auch das Publikum, die Rezipienten, die Musikerinnen und Musiker zu formulieren haben, zu diskutieren haben. Das ist sehr zukunftsoffen.“
Prof. Dr. Siegfried Oechsle ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Hier hat auch das Forschungszentrum der Johannes Brahms Gesamtausgabe seine Heimat; die historisch-kritische, 66 Bände umfassende Edition aller Kompositionen des bedeutenden Komponisten aus dem 19. Jahrhundert entsteht im Rahmen des Akademienprogramms; zu den 128 aktuell laufenden Projekten gehören 18 musikwissenschaftliche Editionen.
Siegfried Oechsle ist seit 2006 wissenschaftlicher Leiter der Johannes Brahms Gesamtausgabe und seit 2007 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Außerdem hat er sechs Jahre – bis zum Frühjahr 2020 - als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission der Union der deutschen Wissenschaftsakademien gewirkt.
In Folge 7 unseres Podcasts „Wissenschaft als Kompass“ spricht er über diese Aufgabe und zuvor berichtet er ausführlich davon, wie die Johannes Brahms Gesamtausgabe entsteht. Mit welchem Selbstverständnis das Editionsteam an die allein vom Umfang her monumentale Aufgabe herangeht, welche Arbeitsprozesse jede Werk-Edition mit sich bringt und auch welche Überraschungen eine solche Editionsarbeit in sich bergen kann – inklusive neuer Quellenfunde.
Sie hören Auszüge aus dem Gespräch mit Siegfried Oechsle für Folge 7 von unserem Podcast. Neben der Gesprächsfassung bieten wir Ihnen immer ein kürzeres Schlaglicht auf zentrale Aspekte der langen Podcast-Fassung.
Mein Name ist Dagmar Penzlin, ich bin Referentin für digitale Kommunikation an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg: Hallo!
„Ja, die Kunst besteht darin, alles zu hinterfragen. Und das gleichzeitig aber nicht als eine Art Grundstil einer Ausgabe, so als eine Art Dünkel vor sich her zu tragen, dass man alles untersuchen muss, jeden Stein aufheben muss. Das ist schon richtig Aber wir bewegen uns in einem schwierigen Feld, wo dauernd gezeigt werden muss, warum das so lange dauert. Und wo auch manchmal anklingt, dass es zu lange dauert, dass zu genau vorgegangen wird. Es ist also schon ein Feld, wo man sagen muss, ja, es wird alles genaustens untersucht, aber es muss immer die Notwendigkeit des Tuns mit bedacht und kritisch bedacht werden. Deswegen: Eine historisch-kritische Ausgabe hat einen selbstbezüglichen Anteil – nicht nur bezogen aufs Material.“
Das Material, also die verfügbaren Quellen zu den Kompositionen von Johannes Brahms, hat einen großen Umfang – allein schon mit Blick auf die hohe Zahl von Werken, die zum Schaffen von Brahms gehören, kann man sich leicht vorstellen, wie viel Arbeit eine Gesamtausgabe mit sich bringt. Brahms‘ Schaffen ist facettenreich, darunter viel Vokalmusik, also Chorwerke mit Orchester wie etwa Ein deutsches Requiem bis hin zu Sololiedern und Gesangsensembles mit Klavierbegleitung. Zudem hat der gebürtige Hamburger große Orchesterwerke, Kammermusik und Kompositionen für Klavier wie auch für Orgel geschrieben.
Die neue, seit 1991 entstehende Johannes Brahms Gesamtausgabe löst die Alte Gesamtausgabe aus den 1920-er-Jahren ab; der Brahms-Freund, Komponist und Musikforscher Eusebius Mandyczewski hat sie gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler und Komponisten Hans Gál herausgebracht. Die Alte Gesamtausgabe gilt schon jahrzehntelang als überholt: Seit den späten 1960er-Jahren zeigten intensive Quellenforschungen die Mängel der Alten Gesamtausgabe auf. 1984 erschien dann das Brahms-Werkverzeichnis der US-amerikanischen Musikwissenschaftlerin Margit L. McCorkles, und es wurde klar, dass eine historisch-kritische Edition der Werke von Brahms eine größere Zahl von Quellen heranziehen muss, nämlich sämtliche erreichbare Werkquellen.
„Zum Quellenbestand gehört aber auch dann das definitive Erstdruck-Exemplar, Brahms‘ Handexemplar. Das war für die Alte Brahms-Gesamtausgabe eigentlich der maßgebliche Ausgangspunkt. Ediert wurde nach dem Prinzip ‚Fassung letzter Hand‘, und da spielten die so genannten Hand-Exemplare von Johannes Brahms eine große Rolle. Die neue Brahms-Ausgabe geht da mit einer erheblich größeren Tiefenperspektive vor. Wichtig ist eben auch zu erkennen, zu berichten und darzustellen, wie der Entstehungsprozess gelaufen ist. Brahms hat – das gehört zu den Brahms-Klischees – eben nicht alles weggeworfen. Es heißt ja, dass Brahms da sehr radikal gewesen sei – das trifft auch für manche Strecken zu. Aber es ist doch erstaunlich viel erhalten. Und es werden auch neue Funde noch gemacht: Auf Dachböden Korrekturabzüge aus dem alten Simrock-Verlag, die dann über Erbschaftsbeziehungen in die Schweiz gewandert sind und dort von dem Mitarbeiter des Brahms-Forschungszentrums in Kiel dort gefunden worden sind. Michael Struck hat dafür gesorgt, dass diese Dinge nach Kiel kommen. Sie befinden sich heute in Lübeck beim Brahms-Institut, das diese Quellen kaufen konnte. Wir haben sie ausgewertet. Das sind also Zuwächse, die unterwegs einfach entstehen können.“
Ein Beispiel dafür ist auch das „Triumphlied“ für achtstimmigen Chor, Bariton-Solo und Orchester op. 55, von Johannes Brahms 1870/71 komponiert.
„Das Triumphlied ist in der Tat ein sehr gutes Beispiel. Der Partitur-Band erschien übrigens schon 2020, was jetzt im Herbst 2022 zu erwarten sein wird, ist der Klavierauszug und das vierhändige Arrangement des Werkes. Ja, das ‚Triumphlied‘ ist praktisch erschienen nach einem ganz individuellen, sensationellen Fund: 2012 hat eine Doktorandin bei der Arbeit an ihrer Dissertation im Notenarchiv der Philharmonischen Gesellschaft Bremen Aufführungsmaterial der Uraufführung des Kopfsatzes von 1871 wiederentdeckt, das belegt, dass Brahms in der 1872 gedruckten Endfassung erhebliche Änderungen vorgenommen hat. Das betrifft zum einen die Tonart: Die Urfassung dieses Kopfsatzes ist C-Dur und nicht das spätere D-Dur. Und es wurden auch Instrumente hinzugefügt, Kontrafagott und Tuba, um die Bässe zu unterstützen. Insgesamt kann man sagen, es sind mehr als 300 Abweichungen zur D-Dur-Fassung, der späteren definitiven Druckfassung.“
1991 fiel der Startschuss zur neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe. Zunächst galt es, das Forschungsinstitut mitsamt Archiv aufzubauen, Quellen zu beschaffen, Editionsrichtlinien zu erstellen und ein Netzwerk von auch externen Forschern zu etablieren, die zu Beginn das noch zweiköpfige Editionsteam verstärkten. 1996 erschien als erster Editionsband die 1. Symphonie von Johannes Brahms – gleich ein gewichtiges Hauptwerk, um zu zeigen, was das neue Forschungszentrum leisten kann. So beschreibt es der heutige wissenschaftliche Leiter, Prof. Dr. Siegfried Oechsle. 31 Jahre nach Projekt-Beginn sind jetzt 36 Bände von 66 geplanten Bänden fertig. Diese Zeit habe es bisher gebraucht aus vielen Gründen, der Hauptgrund liege aber in dem hohen Qualitätsanspruch, betont Oechsle.
„Natürlich ist es eine materielle Dimension, die schwankt von Band zu Band, weil die Quellenlage eben individuell ist. Aber es liegt schon auch an dem hohen Qualitätsanspruch der neuen Brahms-Ausgabe, an dem Ziel, Erläuterungen der editorischen Entscheidungen und der Problemfälle zu geben. Auch das, was ich eingangs als entstehungsgeschichtliche Tiefenperspektive angedeutet habe. Das muss umgesetzt werden. Das reicht dann aber bis hin zu praktischen Editionen. Aber in der Gesamtausgabe selbst muss man akkurat arbeiten. Die Berichte müssen im Prinzip alle Abweichungen, Quellendifferenzen darstellen. Sie müssen vor allen Dingen, Rechenschaft abgeben über die Eingriffe bei der Edition. Denn es gibt manchmal Gemengelagen, da muss entschieden werden. Der Rest muss in den Anhang und dort muss dargelegt werden, warum die Entscheidung so gefallen ist und wie die Quellenlage überhaupt ist, welche Filiationen von Quellen es gibt. Da gibt es grafische Darstellungen, die sehen aus wie Baumstrukturen, weil sich Quellen-Abstammungswege verzweigen und sehr komplexe Muster am Ende ergeben. Das ist dann ein Werk in seinem Quellenbestand so aufgefächert, dass die wahre Komplexität der historischen Materie und der Entstehung auch dargestellt wird und erfassbar ist.“
Im Zuge dieser akribischen Detailarbeit ist es dem Kieler Editionsteam auch gelungen, grundlegende Fehler im Werkverzeichnis von Johannes Brahms zu korrigieren. Abgesehen von zahlreichen Mini-Korrekturen im Notentext, die vorzunehmen sind nach Abgleich aller Quellen. Das braucht Zeit, wobei Siegfried Oechsle als wissenschaftlicher Leiter der neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe jetzt klar benennen kann, wie lange die Arbeit an den noch ausstehenden 30 Bänden voraussichtlich dauern wird.
„Jetzt haben wir uns warm ediert. Und wenn wir da von einer Jahresfrequenz von zwei bis drei, eher Richtung drei Bände ausgehen, da haben wir für die 30 Bände – können Sie ausrechnen - kommen wir in zehn Jahren hin. Und das wird eigentlich auch der zeitliche Horizont sein, den wir noch mit der Personalstärke benötigen.“
Seit 2008 gehören zum Team der Johannes-Brahms-Gesamtausgabe vier fest angestellte Fachkräfte, zu Beginn waren es zwei. Hinzugekommen ist 2011 noch eine halbe Stelle an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien; die neue Brahms-Gesamtausgabe entsteht in Kooperation mit der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien, in deren Archiv sich die zentrale Brahms-Sammlung befindet.
Die Arbeit des Kieler Editionsteams strahlt natürlich auf die Brahms-Forschung insgesamt aus.
„Das Brahms-Bild hat sich so gravierend im Großen und Ganzen nicht geändert. Was aber vollkommen neu ist, ist teilweise die Entstehungsgeschichte der einzelnen Werke. Die Entscheidungen, die Brahms getroffen hat. Da muss man an den einzelnen Werken verhandeln. Eigentlich ist das Brahms-Bild dann etwas an dem laufend gearbeitet wird, auch auf der Grundlage, die wir schaffen. Und dazu gehören dann eben auch die Brief-Quellen, die mehr und mehr erschlossen sind. Und auch die Briefe von Brahms‘ Freunden, die Schumann-Brief-Edition – da ist gerade ein neuer Doppelband erschienen. Also das Material wird immer größer und umfänglicher. Man kann das Netzwerk der Beziehungen, die wichtig waren für die Entstehung der Werke, genauer rekonstruieren. Und das ist wiederum die Ausgangsbasis für die Formung der Brahms-Bilder. Das Brahms-Bild im Singular ist ohnehin schief. Da gibt es sehr unterschiedliche Brahms-Bilder: der Brahms der frühen Jahre, der Brahms in Düsseldorf – da muss dann der Name Clara Schumann und die besondere Beziehung zu ihr fallen, dann das Spätwerk. Die Entschlüsse, mit dem Komponieren aufzuhören – man muss ja von mehreren Entschlüssen sprechen. Diese ganze Landschaft, die wird genauer erhellt, sie wird auch größer in den Einzelheiten und muss dann immer wieder neu beurteilt und ausgemessen werden. Alte Bilder müssen überprüft werden. Das ist die laufende Arbeit, die wir unterstützen und erst möglich machen durch diese Ausgabe.“
Eingebettet ist die Entstehung der neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe in das Akademienprogramm der Union der deutschen Wissenschaftsakademien. Erklärtes Ziel des Programms ist es, durch Langzeitforschungsprojekte Gegenstände des kulturellen globalen Erbes zu erschließen, zu sichern und zu vergegenwärtigen. Bei einem Komponisten wie Johannes Brahms, dessen Musik in vielen Ländern aufgeführt, gehört und geschätzt wird, liegt es für Siegfried Oechsle auf der Hand, dass auch die Zielgruppe der Edition eine globale ist.
„Der Name Brahms ist schon so etabliert, dass es darum ging, die alte Gesamtausgabe durch eine neue zu ersetzen. Das ist ja kein Neuland, das hier betreten worden ist oder fragmentarisch nur vorgelegen hätte. Nein, es geht im Wesentlichen um eine Vergrößerung des Terrains, eine bessere Durcharbeitung und Erforschung der Quellen und eine Kenntnisnahme der Quellensituation weltweit. Das ist neu und das gab es bei der ersten Gesamtausgabe 1926 bis 1928 nicht.“
Jahrzehnte wird es gebraucht haben, diese neue Johannes Brahms Gesamtausgabe zu erstellen. Wie lange sie gültig sein wird? Sehr lange, sagt Siegfried Oechsle als wissenschaftlicher Leiter der Edition.
„Eigentlich im Alltag darf man davon ausgehen, das gehört sich einfach so, dass das für ewig ist. Von der Vorstellung her muss das so sein. Wir wissen alle auch, dass es nicht der Fall sein wird. Aber ich denke schon mal, dass es eine stattliche Zahl an Generationen sein wird, die darüber hingeht, bis eine neue Brahms-Gesamtausgabe nötig sein wird. Wenn es überhaupt jemals so sein wird. Also wir rechnen schon mit einer immens langen Gültigkeit.“