So kraftvoll und furchtlos die jüngste Protestbewegung ist und auch weltweit Aufmerksamkeit erregt hat, für Iran-Expertin Anja Pistor-Hatam stellen sich grundsätzliche Fragen, wenn es darum geht, wohin der Protest führen könnte. Die Antworten ergeben eine eher negative Prognose: „Wie viele Menschen werden sich den Protesten noch anschließen? Geht es tatsächlich durch alle Bevölkerungsgruppen? Und was wäre das alternative Szenario? Was sollte anstelle der Islamischen Republik Iran stehen? Welches politische Konzept? Natürlich kann man sich irren: Aber wenn man sich anschaut, welche Revolutionen, welche Widerstandsbewegungen erfolgreich waren, dann brauchen diese in der Regel Führungsfiguren, und es muss auch ein alternatives Konzept geben. Und das ist jetzt hier, so würde ich es zumindest sehen, nicht sichtbar. Es gibt Iranerinnen und Iraner im Exil, auf die immer verwiesen wird, und das wären gute Führungsfiguren. Die sind aber nicht im Land. Und man weiß auch nicht, wie gut sie politisch vernetzt sind, ob sie Konzepte haben, abgesehen davon, dass das Regime gestürzt werden soll. Und eine ganz wichtige Frage: Hören die Menschen in Iran auf diese Leute?“
Professorin Dr. Anja Pistor-Hatam hat als Islamwissenschaftlerin einen historischen Schwerpunkt gerade mit Blick auf Iran und das Osmanische Reich, ausgehend vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Außerdem gehören zu Ihren Forschungsthemen unter anderem die Konstruktion von Minderheiten in Iran beziehungsweise in der Islamischen Republik Iran sowie der zwölferschiitische Islam; er ist seit 1501 Staatsreligion in Iran.
Die Islamische Republik Iran ist gemäß Verfassung eine Theokratie, das heißt Gott beziehungsweise der verborgene Zwölfte Imam als Gottes Repräsentant ist der alleinige Herrscher. Das Konzept hat Chomeini im Rückgriff auf die Zwölferschia entwickelt: „Das bedeutet, dass der höchstrangige zwölferschiitische Rechtsgelehrte, in dem Fall in Iran, in Vertretung des zwölferschiitischen Imams die Herrschaft ausübt, um das islamische Recht durchzusetzen und Gottes Willen umzusetzen.“
Bei allen Unabwägbarkeiten hinsichtlich der politischen Entwicklungen: Sind Hoffnungen auf mehr Demokratie in der Islamischen Republik Iran überhaupt realistisch? Für Anja Pistor-Hatam hinge eine positive Antwort auf diese Frage davon ab, wie viele Menschen sich den Protesten wirklich anschließen würden: „Ich bin eher pessimistisch auf der Grundlage dessen, was ich weiß, was ich aus der Geschichte kenne und was ich im Moment über Iran weiß, und das ist natürlich nicht alles. So weiß man nie, was es in einem Land für eine Dynamik gibt, die man von außen nicht wirklich wahrnehmen kann.“
Prof. Dr. Anja Pistor-Hatam ist Professorin für Islamwissenschaft und Geschäftsführende Direktorin des Seminars für Orientalistik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2011 ist sie Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.
Das Gespräch fand am 7. Juli 2023 statt.
Zur Talk-Fassung „Iran verstehen. Welche historischen Hintergründe spiegeln sich in der aktuellen Situation wider?“
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Durch den Podcast führt Dagmar Penzlin. Die langjährige Radiojournalistin ist Referentin für Kommunikation an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.