Automatisierung und Vielfalt
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Vielfalt in unserer Welt
Vielfalt – oder auf Englisch „Diversity“ – ist weit mehr als nur ein Schlagwort. Sie veranschaulicht die mannigfaltigen Unterschiede, die unser Zusammenleben prägen. Unabhängig davon, ob es um die Gesellschaft als Ganzes, um spezifische Gruppen oder Milieus geht: Überall dort, wo Menschen oder Ideen aufeinandertreffen, zeigt sich Vielfalt. Besonders im Hinblick auf menschliche Unterschiede – etwa in Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung – begegnet uns eine Vielzahl an Begriffen und Ausdrucksformen. Auch die kulturelle Vielfalt des Miteinanders zeigt sich in unterschiedlichen Sprachen, Traditionen, Perspektiven, Ideen und Werten. Die beeindruckende Artenvielfalt ist ein beeindruckendes Beispiel für die Vielfalt des Lebens.

Vielfalt der Technik
Während Vielfalt eine zentrale Eigenschaft gesellschaftlicher und ökologischer Systeme ist, stellt Automatisierung zunächst ein technisches Prinzip dar. Doch welche Beziehung besteht zwischen beiden – und was passiert, wenn automatisierte Systeme in diese vielfältigen Lebensrealitäten eingreifen? Automatisierung bezeichnet einen Prozess, bei dem Tätigkeiten, Abläufe oder Entscheidungen mithilfe technischer Systeme ohne oder mit nur minimaler menschlicher Beteiligung durchgeführt werden. Das Angebot von Automationssystemen und Automationslösungen ist riesig – von einfachen, regelbasierten Steuerungen bis hin zu komplexen, KI-gestützten Systemen. Am unteren Ende der Skala stehen einfache Systeme wie Zeitschaltuhren für Licht, Waschmaschinen mit Standardprogrammen oder klassisch zeitgesteuerte Verkehrsampeln. All diese Systeme sind Beispiele für eine einfache, regelbasierte Automatisierung und gekennzeichnet durch wenig Kontextbezug oder Entscheidungsspielraum. Am oberen Ende der Skala finden sich Sprachassistenten mit Gerätesteuerung, autonome Fahrfunktionen im Auto wie Spurhalteassistent oder automatische Einparkhilfen sowie verzahnte Smart-Home-Systeme mit Sensorik und zentraler Steuerung. Hierbei handelt es sich jeweils um komplexe, kontextadaptive oder vernetzte Systeme mit lernfähigen Komponenten. Die Anwendungsgebiete und Arten von Automationssystemen weisen also große Unterschiede auf – aber bedeutet das, dass Automatisierung vielfältig ist? Ja, sie ist vielfältig. Sie weist ein breites Anwendungsspektrum auf, ist branchenübergreifend und skalierbar. Aber wie sieht es mit der Vielfalt oder Diversität einzelner Automationssysteme aus? So vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten automatisierter Systeme erscheinen mögen – entscheidend ist nicht die Vielfalt der Technik, sondern die Vielfalt ihrer Wirkungen.

Automatisierung als Chance und Risiko für Vielfalt
In der aktuellen Debatte um Automatisierung und künstliche Intelligenz stehen einerseits Effizienz, Skalierbarkeit und technologische Machbarkeit im Mittelpunkt. Andererseits dominieren Schlagworte – wie die Angst vor Arbeitsplatzverlust durch automatisierte Systeme oder die Befürchtung, dass diese die Verbreitung von Fake News begünstigen – die öffentliche Diskussion. Der Frage von Vielfalt und wie diese sinnvoll in Automatisierungssysteme implementiert werden kann, kommt derzeit noch zu wenig Bedeutung zu. Dabei kann Automatisierung ein wichtiger Treiber für Vielfalt sein. Inklusive Technologien wie Sprachsteuerung, Robotik oder KI-gestützte Assistenzsysteme können Zugangshürden abbauen und Personen mit Behinderungen, Sprachbarrieren oder älteren Menschen bessere Zugangsmöglichkeiten zu Arbeitsplätzen und Dienstleistungen bieten. Automatisierung ist eine wesentliche Voraussetzung für Personalisierung, um beispielsweise Medizin individueller auf unterschiedliche Bedürfnisse zuschneiden zu können. Lernprozesse können individuell angepasst und somit mehr Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen der Zugang zu Wissen erleichtert werden. Eine hohe kulturelle Vielfalt kann durch automatisierte Übersetzung- oder Spracherkennungssysteme gefördert werden, was die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen erleichtert. Automatisierung kann ferner auch zu einer Objektivierung von Prozessen führen. So haben automatisierte Einstellungs- und Bewertungsverfahren das Potential, Vorurteile zu verringern, indem anonymisierte Bewerbungsverfahren mit KI-gestützten Skill-Analysen eingesetzt werden. Damit Vielfalt in der Anwendung gelingt, muss sie bereits in der Datenbasis angelegt sein. KI-Systeme können nur dann gerecht agieren, wenn sie auf Trainingsdaten beruhen, die die gesellschaftliche Realität in all ihrer Heterogenität widerspiegeln – in Sprache, Verhalten, Herkunft oder Interaktion.

Automatisierung ist nie neutral
Das ist jedoch nicht selbstverständlich. Denn: Automatisierung ist nie neutral, sie wird von Menschen entworfen und mit Daten trainiert, die gesellschaftliche Vorannahmen widerspiegeln können. Nur wenn Entwicklerteams vielfältig aufgestellt sind und auf eine breite, repräsentative Datenbasis achten, entstehen Systeme, die die Realität vieler Menschen abbilden. Fehlt diese Diversität, drohen Verzerrungen: Automatisierte Entscheidungen reproduzieren und verstärken dann bestehende Ungleichheiten, statt sie zu überwinden. Deshalb ist Vielfalt nicht nur ein ethischer Anspruch, sondern auch ein Qualitätskriterium automatisierter Systeme.
Vielfalt als Ressource
Um den Anforderungen gerecht zu werden, die Vielfalt an Automatisierungssysteme stellt, sollte sie zu einem zentralen Gestaltungsprinzip werden. In vielen technischen Projekten wird Vielfalt – wie unterschiedliche Bedürfnisse, Sprachen und Fähigkeiten – oft als Herausforderung oder sogar als Hindernis angesehen. Vielfalt erschwert eine umfassende Standardisierung, erhöht die Komplexität und verzögert Entscheidungen durch Meinungsvielfalt. Hier ist ein Wandel in der Einstellung von „Vielfalt als Störgröße“ hin zur Erkenntnis „Vielfalt als Ressource“ erforderlich. Denn gerade in Systemen, die breite Anwendung finden, ist Vielfalt ein wesentliches Merkmal der Zielgruppe. Vielfalt als Designprinzip bedeutet daher, Automationssysteme von vornherein so zu entwerfen, dass unterschiedliche Kontexte und Nutzungsmuster sowohl technisch, sozial als auch kulturell aktiv mitgedacht werden. In der Praxis kann dies durch unterschiedliche Ansätze erreicht werden. Wesentliches Erfolgsrezept ist die bereits genannte Diversität in den Entwicklerteams. Unterschiedliche Perspektiven der Teammitglieder führen zu besseren Entscheidungen, etwa bei der Gestaltung von User Interfaces oder der Auswahl von Testszenarien oder Trainingsdaten. Auch scheinbar „neutrale“ Elemente – wie Farben, Symbolik, Menüführung oder auch Interaktionslogik – haben durchaus kulturelle und soziale Konnotationen, und diese müssen bewusst gestaltet werden. Die Anpassungsfähigkeit von Automationssystemen wird zunehmend zu einem wichtigen Qualitätsmerkmal, um den unterschiedlichen Ansprüchen einer großen Anzahl von Nutzern zu entsprechen.
Unternehmen und Einrichtungen, die Vielfalt aktiv in die Entwicklung einbeziehen, können globaler agieren, weil ihre Systeme in unterschiedlichen Kontexten funktionieren. Sie sind resilienter gegenüber gesellschaftlichen Spannungen, da ihre Lösungen eine größere Vielzahl von Menschen einschließen. Da sie nicht nur technologisch, sondern auch ethisch modern aufgestellt sind, sind sie darüber hinaus auch glaubwürdiger im gesellschaftlichen Diskurs.

Vielfalt durch allgemeine Zugänglichkeit von Automatisierung
Neben der internen Systemgestaltung ist auch die externe Zugänglichkeit ein zentraler Faktor für die Förderung von Vielfalt durch Automatisierung. Automatisierung wird dann wirklich vielfältig, wenn sie für alle nutzbar und anpassbar ist. Das setzt auch voraus, dass Automatisierung nicht nur großen Unternehmen oder Institutionen mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten vorbehalten sein darf. Vielmehr muss sie auch für kleine Betriebe, Bildungseinrichtungen und im Endeffekt auch für Einzelpersonen zugänglich sein. In vielen Bereichen wird dies zunehmend durch Cloud-basierte Automatisierung oder auch Open-Source-Lösungen umgesetzt, die lokal auf Computern betrieben werden können. Zu einer allgemeinen Zugänglichkeit von Automatisierung gehört auch ihre einfache Nutzung. Automatisierung wird vielfältiger und erreicht allgemein eine höhere Akzeptanz, wenn sie einfach und intuitiv bedienbar ist. So ermöglichen beispielsweise No-Code/Low-Code-Plattformen auch Nichtprogrammierern die Nutzung von Automatisierungslösungen. Bei der Entwicklung von Automationssystemen sollte auch deren globale Anwendbarkeit beachtet werden. Kulturelle und sprachliche Unterschiede sollten berücksichtigt werden, damit sie nicht nur in bestimmten Regionen oder für spezifische Gruppen funktionieren und nutzbar sind. KI-gestützte Übersetzungstools etwa sollten nicht nur weitverbreitete, sondern auch kleinere oder sogar indigene Sprachen unterstützen.
Aber auch wenn Automatisierung grundsätzlich allen offensteht, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass auch alle Menschen gleichermaßen einbezogen werden. Dazu sind divers gestaltete Algorithmen ohne Bias ebenso erforderlich wie Schulungen und Bildung für verschiedene Nutzergruppen. Vor allem aber ist eine breite Verfügbarkeit zu gewährleisten ohne eine Abhängigkeit von teuren Systemen.

Ist zu viel Vielfalt in der Automatisierung schädlich?
So sehr man eine hohe Vielfalt in der Automatisierung begrüßt, man muss sich dennoch mit der Fragestellung beschäftigen, was ein „Zuviel“ an Vielfalt bedeutet. Wird Vielfalt zu breit, zu komplex oder auch unreflektiert in technische Systeme integriert, bestehen durchaus konkrete Risiken. Das erste Risiko liegt in einer systemischen Überkomplexität. Die Komplexität eines automatisierten Systems, das zu viele Nutzungsvarianten, kulturelle Besonderheiten oder individuelle Optionen berücksichtigen möchte, kann schnell über ein handhabbares Maß hinausgehen. Die Folge sind Systeme, die langsam sind und zu einer höheren Fehlerhäufigkeit neigen. Benutzer empfinden derartige Systeme dann oft als unübersichtlich und inkonsistent. Gerade bei sicherheitskritischen oder hochregulierten Systemen – etwa in der Medizin oder im Verkehr – kann eine Überkomplexität zu Intransparenz und Haftungsfragen führen, die schwer auflösbar sind. Wartung wie auch Weiterentwicklung der Systeme werden aufwendig und teuer – die Automation verliert damit ihre Attraktivität. Ein weiteres Problem können unklare Systemgrenzen und Verantwortlichkeiten sein. Wenn ein System versucht, allen gesellschaftlichen, sozialen oder individuellen Unterschieden gerecht zu werden, kann die zentrale Funktion oder Verantwortung des Systems beeinträchtigt werden. Für den Nutzer wird unklar, wofür das System zuständig ist und wofür nicht. Treten Fehler auf, ist oft nicht nachvollziehbar, welche Komponente versagt hat.
Die sich daraus ableitenden Rechts- und Ethikfragen werden komplexer. Wer haftet im Fall diskriminierender Ergebnisse? Wer definiert, was Vielfalt ist und wo sie ihre Grenzen hat? Verschiedene Gruppen oder Kontexte können unterschiedliche Erwartungen an ein automatisiertes System haben, die zu widersprüchlichen Anforderungen führen können. Dadurch, dass das System versucht, allen Anforderungen gerecht zu werden, können klare Zielsetzungen verfehlt werden. Im schlimmsten Fall kann dies zu internen Zielkonflikten führen, zum Beispiel zwischen Fairness und Effizienz oder zwischen Barrierefreiheit und Datenschutz. So wird es für eine KI-gestützte Personalsoftware kaum möglich sein, sowohl geschlechtsneutral zu sein als auch Diversity-Quoten zu berücksichtigen. Eine zu starke Orientierung auf individualisierte Vielfalt kann beim Nutzer das Gefühl erzeugen, in einer jeweils eigenen Welt zu agieren; es kommt zu einer Fragmentierung der Nutzererfahrung. Eine gemeinsame Interaktionserfahrung kann so nicht entstehen, die Zusammenarbeit leidet, wenn jeder Nutzer mit einer anderen „Version“ arbeitet.
Vereinzelt kann es auch dazu kommen, dass statt echter Inklusion nur „Symbolpolitik“ bleibt. Konzentriert sich ein automatisiertes System auf offensichtliche Vielfaltsmerkmale wie Sprache oder Geschlecht, kann es passieren, dass strukturelle Fragen wie Bildung oder Ressourcen vernachlässigt werden. Systeme wirken dann zwar offen, schließen aber trotzdem bestimmte Gruppen aus. Gleichheit kann so nur an der Oberfläche erzielt werden, eine wirkliche Gleichheit der Nutzungschancen wird aber nicht erreicht.

Fazit
Automatisierung beeinflusst Vielfalt auf vielen Ebenen. Sie kann nahezu alle Dimensionen von Vielfalt positiv beeinflussen und Diversität fördern. Sie kann aber auch ungewollt zum Verstärker bestehender Ungleichheiten werden.
Automatisierung darf nicht alles auf einmal wollen. Vielfalt muss bewusst, selektiv und kontextsensibel integriert werden. Dabei muss der Blick immer auf funktionale Klarheit, technische Robustheit, aber auch soziale Gerechtigkeit gerichtet werden.
Automatisierung kann vielfältig sein, aber sie ist es nicht per se. Es kommt darauf an, wie sie gestaltet, angewendet und weiterentwickelt wird. Mehr Vielfalt bedeutet nicht notwendigerweise bessere Automatisierungssysteme. Automatisierte Systeme profitieren nur dann von Diversität, wenn diese kontextgerecht, funktional überschaubar und nutzbar bleibt, wenn sie nutzbringend und relevant ist. Wichtig ist, dass automatisierte Systeme mit einem vielfaltsbewussten Design entwickelt und regelmäßig hinterfragt werden. Die entscheidende Frage ist also nicht „Ist Automatisierung vielfältig?“, sondern „Wie machen wir sie vielfältig?“.