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Die Vielfalt des Wirtschaftens

Märkte, Preise, Börsen-Charts: Unsere Vorstellung von Wirtschaft ist limitiert. Theorie und Praxis bieten viele Möglichkeiten, der Ökonomie neuen Sinn zu geben. Das ist relevant, weil ein „Weiter so“ unsere Lebensgrundlagen untergräbt.
Essay von Lukas Bäuerle, 30. August 2025

„Is there really no alternative?“ fragen sich heute viele. Es ist nicht bekannt, ob die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher den von ihr geprägten ökonomischen Weg des Thatcherismus jemals selbst anzweifelte.
„Is there really no alternative?“ fragen sich heute viele. Es ist nicht bekannt, ob die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher den von ihr geprägten ökonomischen Weg des Thatcherismus jemals selbst anzweifelte.

Die Einfalt ökonomischen Denkens

Blickt man in die Lehrbuchliteratur der Wirtschaftswissenschaften, so gewinnt man schnell den Eindruck, dass Wirtschaft nicht nur geordnet und regelbasiert abläuft, sondern auf wenigen und scheinbar alternativlosen Grundannahmen aufbaut. So beschreibt der Harvard-Ökonom Gregory Mankiw, einer der einflussreichsten Lehrbuchautoren, seine Wissenschaft als eine, die „ein breites Spektrum von Themen abdeckt und viele Ansätze umfasst, aber im Wesentlichen durch einige zentrale Ideen zusammengehalten wird“.[1] Diese Ideen, die Mankiw in seinen berühmten ‚10 Prinzipien der Volkswirtschaftslehre‘ präsentiert, bauen im Wesentlichen auf der „Heiligen Dreifaltigkeit“[2] aus Rationalität, Egoismus und einem Denken in Gleichgewichten auf. Menschen handeln demnach stets rational, verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen und das marktwirtschaftliche System strebt immer einen stabilen Zustand an. Im Ergebnis erscheint Wirtschaft als eine extrem abstrakte Instanz, die prinzipiell in Form von Märkten gedacht wird und grundsätzlich kontrolliert und auch antizipiert werden kann.

Schaubild eines einfachen mikroökonomischen Marktmodells aus der neusten deutschsprachigen Auflage des Lehrbuches von Mankiw & Taylor (2024)/Schäffer-Poeschel Verlag
Schaubild eines einfachen mikroökonomischen Marktmodells aus der neusten deutschsprachigen Auflage des Lehrbuches von Mankiw & Taylor (2024)/Schäffer-Poeschel Verlag

Tatsächlich geht die ökonomische Forschung mittlerweile weit über diesen Standard hinaus. Dafür stehen nicht nur komplexere Modelle, sondern auch die sogenannte empirische Wende oder die Integration der Verhaltensökonomik. Im Ergebnis beklagen mittlerweile selbst Vertreter:innen des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, dass ökonomische Hochschulbildung reformbedürftig ist. Passiert ist in der deutschen Hochschullandschaft bislang allerdings wenig – und wenn, dann typischerweise an Hochschulstandorten, die dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream kritisch gegenüberstehen. Dabei belegen Schätzungen zufolge mindestens 20 Prozent aller immatrikulierten Studierenden in Deutschland volkswirtschaftliche Grundlagenkurse: angehende Betriebswirte, Wirtschaftspsychologinnen oder auch Ingenieure. Damit prägen die oben genannten Glaubenssätze weit über die Volkswirtschaftslehre hinweg die Wirtschaftsvorstellungen eines signifikanten Teils der Menschen, die ein Hochschulstudium durchlaufen haben.

Einfalt wirkt! – Ökonomisierung und Vulnerabilität

Die Einfalt ökonomischen Denkens ist keineswegs ein Problem im Elfenbeinturm. Im Gegenteil, es beeinflusst Entscheidungen, Diskurse und Auseinandersetzungen in Gesellschaft, Politik und eben auch die Ökonomie selbst.  Ökonomen und Ökonominnen beraten Politik und Unternehmen in Gremien, Kommissionen oder anderweitigen Funktionen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (umgangssprachlich: die Wirtschaftsweisen) ist beispielsweise ein direktes Beratungsgremium der Bundesregierung. Ihr Jahresgutachten wird der Bundesregierung medienwirksam präsentiert. Die Wirtschaftswissenschaften besitzen einen beträchtlichen Einfluss auf so unterschiedliche Prozesse wie Zentralbankpolitik, öffentliche Diskussionen zur Erbschaftssteuer bis hin zur Bildungs- und Sozialgesetzgebung (Maeße et al. 2022). Die Wissenschaftsforschung spricht von der Performativität ökonomischen Denkens (von lat. performare: einprägen), die Kultursoziologie von einer Ökonomisierung vormals nicht-ökonomischer Lebensbereiche.

Deswegen ist es kein rein akademisches Unterfangen, sich mit den Vorstellungen und Theorien der Ökonomik zu befassen. Es ist vielleicht gerade deswegen so spannend, weil wir in einer Welt leben, die in vielen Bereichen von wirtschaftswissenschaftlichem Denken geprägt ist. Oder wie John M. Keynes es formulierte: „Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.“  

Aus der Perspektive gesellschaftlicher Resilienz scheint die Orientierung ökonomischen Denkens und ökonomischer Praxis an einer engen Auswahl epistemischer (Neoklassik), normativer (Effizienz), teleologischer (Wachstum) und institutioneller (Märkte) Möglichkeiten problematisch. Spätestens, wenn etablierte Systeme versagen – Lieferketten, Fachkräftemangel, Care-Krise – dann offenbart sich das Fehlen von Ideen und Ansätzen für zukunftsfähige Ökonomien. Ein markantes Beispiel ist die Krankenhausreform der letzten Legislaturperiode. Einst Befürworter der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, verwies Lauterbach als Gesundheitsminister auf die Gefahren dieser einseitigen Ausrichtung auf ökonomische Kennziffern und Logiken: „Wir wollen keine Investoren-Medizin. Medizin ist eine Fürsorge auf Grundlage der Wissenschaft. Keine Ware des Kapitalismus. Wir haben in allen Bereichen zu viel Ökonomie und zu wenig Medizin, ob in den Krankenhäusern, durch die Fallpauschalen, bei den Medikamenten.“[3] Die Frage ist aber dann: Wie lässt sich eine Ökonomie von Krankenhäusern organisieren, die medizinischen Zwecken dient statt sie ersetzt?

Die Vielfalt ökonomischen Denkens: Plurale Ökonomik

Den auch durch ökonomische Einfalt beförderten gesellschaftlichen Vulnerabilitäten steht eine markante Vielfalt von Wirtschaftstheorien gegenüber, die im 20. Jahrhundert als ‚Heterodoxe Ökonomik‘ kultiviert wurde und seit ca. 15 Jahren unter dem Stichwort ‚Plurale Ökonomik‘ firmiert. Diese kritisiert nicht nur die Ausrichtung standardökonomischer Bildung, sondern auch jene der ‚orthodoxen‘ Forschungslandschaft. Denn deren vermeintliche Pluralisierung verbleibe, so die Kritik, immer noch in einem relativ engen Korsett paradigmatischer Grundfesten. Zu pluralen Wirtschaftstheorien gehören etwa die Institutionenökonomik, die von der sozialen Einbettung wirtschaftlicher Prozesse ausgeht, Postkeynesianische Ökonomik, welche Wirtschaft als immanent krisenanfälliges und instabiles System untersucht, oder aber die Ökologische Ökonomik, die wirtschaftliche Prozesse konsequent von ihrer fundamentalen Abhängigkeit und Wechselwirkungen mit natürlichen Systemen analysiert. Im deutschsprachigen Raum tritt das Netzwerk Plurale Ökonomik dafür ein, dass diese und weitere Ansätze noch stärkere Berücksichtigung in ökonomischer Bildung und Forschung erhalten. Zu diesem Zweck ist unter anderem auch die Plattform Exploring Economics entstanden, über die Interessierte sich mit der Vielfalt ökonomischen Denkens auseinandersetzen können.[4] 

In der Pluralen Ökonomik ist neben einer Auseinandersetzung mit verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen und Methoden auch der interdisziplinäre Dialog von großer Bedeutung. Deswegen findet ein reger Austausch etwa mit der Wirtschaftssoziologie, Wirtschaftspsychologie oder auch den Naturwissenschaften statt. Entscheidend ist der geteilte Forschungsgegenstand und sein Verständnis – und erst dann die jeweilige paradigmatische „Neigung“ oder Sozialisierung. Dafür steht auch ein dritter Grundsatz in der Pluralen Ökonomik, namentlich die permanente Selbstreflexion eigener Grundsätze und Annahmen, aber auch der Wirkungen der eigenen akademischen Arbeit. Haben wir das zu untersuchende Phänomen möglicherweise aus den Augen verloren? Können wir diese Forschungsmethode überhaupt verantworten? Passen die Annahmen tatsächlich zu der Welt ‚da draußen‘? Vor dem Hintergrund eines problematischen Verhältnisses standardökonomischer Bildung und Forschung zur Realität, zur Gesellschaft und Natur gehören diese und andere Fragen zum Kanon der Pluralen Ökonomik.

Die Vielfalt ökonomischer Praxis: Plurale Ökonomien

Diese Vielfalt bietet – gerade in ihrer Gesamtschau – nicht nur neue und gegenstandsadäquate Möglichkeiten, über Wirtschaft nachzudenken. Sie ermöglicht auch, Wirtschaft in Anbetracht ihres vehementen Transformationsdrucks neu zu gestalten. Dieses Potenzial wird zunehmend von Akteuren außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen erkannt und gehoben. So versuchen etwa Thinktanks, Beratungsinstitutionen oder Graswurzelbewegungen, plurales ökonomisches Wissen in die Praxis zu übersetzen. In Deutschland stehen dafür etwa das ZOE Institut, das Dezernat Zukunft oder NELA – Next Economy Lab. In diesem Zusammenhang ist mittlerweile ein breites Netzwerk zwischen Wissenschaft, Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft entstanden, der sogenannte New Economy Space.

Aber schon vor diesen neuen Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Pluraler Ökonomik war eine große Vielfalt ökonomischer Praktiken erkennbar. Ansätze wie etwa die Kreislaufökonomie, Gemeinwohlökonomie oder die Purpose Economy verändern teils auf grundlegende Weise ökonomische Praktiken von der Mikro- über die Meso- bis zur Makroebene. Nicht selten stammen solche Konzepte aus der Praxis selbst, fernab von akademischen Paradigmen, Pfadabhängigkeiten oder Grabenkämpfen. Typischerweise erfolgen solche Innovationen problembezogen. Wo etablierte Ansätze versagen oder eine auf Preissignale und Steigerung ausgerichtete Ökonomie überhaupt erst die Probleme schafft, die es sodann zu beheben gilt, entstehen im Kleinen wie Großen neue Ansätze mit teils erheblichem Innovationspotenzial.

Plurale Ökonomien[5] begegnen uns aber nicht nur in Form alternativer Wirtschaftspolitik oder konsolidierter Konzepte. Tatsächlich leben und tragen wir alle tagtäglich zu pluralen Wirtschaftsformen bei, oftmals ohne es zu merken: Etwa, wenn wir unsere Kinder entgeltlos ernähren, für Krisengebiete spenden oder uns in Vereinen engagieren. Das markanteste Beispiel liegt sicherlich in dem, was in der Feministischen Ökonomik ‚unbezahlte Care-Arbeit‘ genannt wird: Einkaufen, putzen, Kindererziehung, Pflege Angehöriger, etc. In Deutschland übersteigen die aufgebrachten Arbeitsstunden für diese Tätigkeiten jene von Erwerbsarbeit – insbesondere bei Frauen. Gemessen in Arbeitsstunden ist die unbezahlte Ökonomie insofern bedeutender als die geldbasierte Ökonomie.

Das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit in Deutschland
Das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit in Deutschland

Doch genau deswegen, weil die Tätigkeiten der unbezahlten Care-Ökonomie kein Preisschild tragen, werden sie nicht als wesentlicher Teil der Ökonomie betrachtet, tauchen folglich nur in wenigen Statistiken auf – insbesondere nicht in jenen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR).[6] Orthodox interpretiert tragen all diese Tätigkeiten damit nicht zum Wohlstand bei. Die Vielfalt des Wirtschaftens ist hier zwar gelebte Praxis; aber eine solche, die nicht mit entsprechender Anerkennung einher geht. Wirtschaft neu zu denken hieße hier somit schlichtweg, das zu benennen, anzuerkennen und als unabdingbaren Teil von Wirtschaft zu fördern, was wir kollektiv bereits leisten.

Fazit

Das Problem gängiger ökonomischer Glaubensvorstellungen besteht darin, dass sie weder den Stand der Forschung wiedergeben noch in die Welt passen, in der wir leben.[7] Eine Vielfalt ökonomischen Denkens und ökonomischer Praxis ist vor diesem Hintergrund weder nice-to-have noch reiner Selbstzweck. Vielmehr ist sie die notwendige Bedingung dafür, dass situationsadäquat gedacht und gehandelt werden kann. Marktbasierte Lösungen mögen in einem Fall helfen, in einem anderen wären aber Allemende-Lösungen vorzuziehen. Die anvisierten Verminderungen der Treibhausgasemissionen wiederum verlangen eine kluge Integration regulatorischer, investiver und konsumtiver Instrumente quer zu Sektoren und Akteuren. In einer Welt, in der sich althergebrachte Rezepte in rasantem Tempo überholen, in der sich verschiedene gesellschaftliche Herausforderungen überlagern und zukünftige Entwicklungen unberechenbarer werden, scheint eine solche pragmatische Pluralität unabdingbar.

 

Fußnoten

  1. N. Gregory Mankiw, Essentials of Economics, Tenth edition (Cengage Learning, 2024), S. 2; meine Übersetzung.
  2. David Colander u. a., „The Changing Face of Mainstream Economics“, Review of Political Economy 16, Nr. 4 (2004): 485–99.
  3. Bundesgesundheitsministerium, „Lauterbach: ‚Wir haben die Balance zwischen Medizin und Ökonomie verloren‘“, BMG, 2022, www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/interviews/interview/krankenhausreform-diezeit-14-12-22. (abgerufen 01.11.25)
  4. www.exploring-economics.org/de/ (abgerufen 01.11.25)
  5. Gibson, Katherine, und Kelly Dombroski, Hrsg. The Handbook of Diverse Economies. Edward Elgar, 2020.
  6. www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/_inhalt.html (abgerufen 01.11.25)
  7. OECD. Beyond Growth: Towards a New Economic Approach. New Approaches to Economic Challenges. OECD, 2020. doi.org/10.1787/33a25ba3-en. (abgerufen 01.11.25)

Dr. Lukas Bäuerle

Lukas Bäuerle ist Sozioökonom am Linz Institute for Transormative Change der Johannes-Kepler-Universität Linz, Österreich. Zuvor war er als Postdoktorand an der Universität Hamburg tätig. Seine inter- und transdisziplinäre Forschung fokussiert Inhalt, Form und Rolle ökonomischen Wissens in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Dafür hat er im Rahmen seiner Dissertation mit der praxeologischen Institutionenforschung ein entsprechendes Forschungsprogramm entworfen. Die an der Europa-Universität Flensburg entstandene Arbeit wurde 2022 mit dem Forschungspreis der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft ausgezeichnet. Derzeit beschäftigt er sich mit Zukunftsvorstellungen ökonomischer Akteure in verschiedenen Transformationsarenen und Organisationen des New Economy Ökosystems. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerks Plurale Ökonomik, sowie der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz.