Aktuelles | Presse###Magazin###Ausstellung zur Langzeitforschung in Hamburg

Eckdaten zur Ausstellung „Notwendig, nützlich, neu – Langzeitforschung in Hamburg“

Wann? 12. März bis 20. Juni 2026; Eröffnung: 12. März 2026, 17:00 Uhr

Öffnungszeiten: Mo bis Fr 10:00 bis 19:00 Uhr + Sa 10:00 bis 14:00 Uhr

Wo? Ausstellungsräume im Haus der Wissenschaft Bremen, Sandstraße 4/5, 28195 Bremen

Der Eintritt ist frei.

Die Ausstellung ist in Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzt. Damit ist die gesamte Ausstellung für taube Menschen zugänglich.

Die Ausstellung findet in Kooperation mit dem Haus der Wissenschaft Bremen statt und wird finanziert von der Freien und Hansestadt Hamburg.

Vergangene Ausstellung

Wann? 16. Oktober bis 15. Dezember 2025; Eröffnung: 16. Oktober 2025, 12:30 Uhr

Öffnungszeiten: Mo bis Fr 9:00 bis 24:00 Uhr + Sa und So 10:00 bis 24:00 Uhr

Wo? Ausstellungsraum der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Von-Melle-Park 3, 20146 Hamburg

Der Eintritt ist frei.

Die Ausstellung ist in Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzt. Damit ist die gesamte Ausstellung für taube Menschen zugänglich.

Die Ausstellung findet in Kooperation mit der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky statt und wird finanziert von der Freien und Hansestadt Hamburg.

Was Sie hier finden: zur Landingpage

Schön, dass Sie sich für die Ausstellung der Akademie zu ihren Langzeitforschungsprojekten interessieren.

Hier finden Sie die Motive und Texte in Interview-Form zu den einzelnen Ausstellungsstationen. Außerdem weitergehende Informationen und Podcast-Folgen zu den Forschungsprojekten.

Ebenso sind hier die Antworten auf zentrale Fragen der Langzeitforschung veröffentlicht, wie sie die einzelnen Projekte zur Vorbereitung der Ausstellung im Austausch mit der Kuratorin Tatjana Dübbel gegeben haben. Jeweils bei den Forschungsprojekten unter dem Reiter „Fragebogen zur Arbeit des Projekts“ zu lesen.

Die Ausstellung hat Franka Frey gestaltet.

Zur Mitmach-Station vom Projekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ gibt es hier die Lösungen in Gestalt von Transkriptionen und Hintergrund-Informationen zu den einzelnen Briefen beziehungsweise zu der Korrespondenzkarte. 

Den Ausstellungsbesuch kann diese Webseite natürlich nicht ersetzen. Nutzen Sie die Gelegenheit, Langzeitforschung anschaulich, multimedial und interaktiv vermittelt zu bekommen und für sich zu entdecken.

Es gibt die Landingpage in englischer Sprache.  ➤ The landing page is available in English.

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Übersicht über die Langzeitforschungsprojekte

Tamilex erstellt das erste historische Tamil-Wörterbuch.
INEL erschließt Materialien vom Aussterben bedrohter indigener nordeurasischer Sprachen und macht sie zugänglich für eine breite Öffentlichkeit.
Formulae – Litterae – Chartae erforscht und ediert frühmittelalterliche Formulae, also Musterdokumente, die als Vorlagen für Urkunden und Briefe die Vielfalt des gelehrten Schreibens im frühmittelalterlichen Westeuropa dokumentieren.
Beta masaheft. Die Schriftkultur des christlichen Äthiopiens und Eritreas bereitet das Wissen über diese Handschriftenkultur systematisch und multimedial auf.
Etymologika widmet sich griechisch-byzantinischen etymologischen Wörterbüchern als bedeutenden lexikographischen Leistungen antiker und mittelalterlicher Wissensgeschichte in Europa.
DGS-Korpus erfasst und dokumentiert die Deutsche Gebärdensprache (DGS) in ihrer lebendigen Vielfalt systematisch. Es entsteht auf dieser Grundlage ein elektronisches Wörterbuch für alle, die die DGS als Kommunikationsmittel nutzen, lernen oder erforschen.
NS-Verfolgung und Musikgeschichte erforscht die Verfolgung von Musikerinnen und Musikern  durch das NS-Regime und ihre globalen Konsequenzen. Ziel ist es, die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts zu revidieren und zu vervollständigen. Hierfür wird das Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM) erweitert.

NOTWENDIG, NÜTZLICH, NEU – Langzeitforschung in Hamburg

Wer sind wir? Woher kommen wir? Antworten auf diese Fragen liefert das kulturelle Erbe der Menschheit. Im Akademienprogramm widmen sich Forschende über einen Zeitraum von 12 bis 25 Jahren besonderen Texten, Sprachen und anderen Quellen und machen sie auch digital zugänglich.

Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg führt derzeit sieben dieser Langzeitforschungsprojekte in Kooperation mit der Universität Hamburg durch. Ihre Themen reichen von antiken Handschriften bis hin zu aktuellen Fragestellungen. Was sie verbindet: Sie schaffen Grundlagen für weitere Forschung und Erkenntnisse in Gegenwart und Zukunft. Damit sichern diese Projekte Wissen, das sonst verloren geht.

Entdecken Sie die Welt der Langzeitforschung und finden Sie heraus, warum diese Arbeit notwendig, nützlich und neu ist!

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Beta masaheft

Die Schriftkultur des christlichen Äthiopiens und Eritreas: eine multimediale Forschungsumgebung

Leitung: Prof. Dr. Alessandro Bausi und Eugenia Sokolinski M.A.

Laufzeit: 1. Februar 2016 bis 31. Dezember 2040

WORUM GEHT ES IM PROJEKT?

Beta masaheft erforscht die Schriftkultur des christlichen Äthiopiens und Eritreas. Beide Länder sind sowohl vom Christentum als auch vom Islam, vom Judentum und von ethnischen Religionen geprägt. Sie besitzen eine jahrtausendealte Tradition, Wissen in handgeschriebenen Büchern festzuhalten. Das Projekt entwickelt ein Online-Portal, das diese wertvollen Handschriften beschreibt und viele Informationen über die Materialität der Objekte, die enthaltenen Texte, ihre Autorinnen und Autoren, die Buch-Hersteller und ihre Herkunftsorte sammelt und miteinander verknüpft.

WAS MACHT DAS THEMA SO BESONDERS?

In Äthiopien und Eritrea werden bis heute Texte handschriftlich überliefert – eine Kulturtechnik, die es fast nur noch hier gibt. Einige vor- und frühchristliche Schriften, die sonst längst verloren wären, sind nur in der Kirchensprache Geʿez erhalten geblieben. Die Handschriften zeigen eine reiche, lebendige Kultur und geben einzigartige Einblicke in die Geschichte der Region – und damit auch in unsere gemeinsame Geschichte.

WAS MOTIVIERT DIE PROJEKTBETEILIGTEN PERSÖNLICH?

Die Beteiligten stellen eine Verbindung zu den Menschen her, die über Jahrhunderte hinweg Texte verfasst, Pergament hergestellt oder Bücher abgeschrieben haben. So entdecken sie eine Seite Äthiopiens und Eritreas, die in den Medien kaum sichtbar ist: eine Welt des Wissens, der Kunst und der Kreativität.

WAS BRINGT DIESE FORSCHUNG FÜR ANDERE?

Zum ersten Mal entsteht eine zentrale Sammlung über die christliche Buchkultur und Literatur Äthiopiens und Eritreas. Diese ist nicht nur wegweisend für die Äthiopistik und benachbarte Fächer, sondern davon profitieren alle, die sich für Geschichte und Kultur interessieren. Besonders wichtig: Forschende aus Äthiopien und Eritrea arbeiten aktiv mit und tragen so selbst dazu bei, ihr kulturelles Erbe zu bewahren.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was ist das Besondere an dem Thema, das Sie erforschen?

Handschriften in der altäthiopischen Sprache (Geʿez) überliefern eine Vielzahl von Texten, die von kaum überschätzbarem Wert für die Erforschung der Region ebenso wie von unseren gemeinsamen kulturellen Wurzeln sind: Viele vor- und frühchristlichen Texte (u.A. Bibelapokryphen) sind uns nur dank der Überlieferung in Geʿez erhalten geblieben. Darüber hinaus handelt es sich hier um eine der wenigen noch lebendigen Handschriftenkulturen, in denen Wissen immer noch in Form von handgeschriebenen Büchern vermittelt wird und nicht vollständig durch Buchdruck abgelöst wurde.

2. Was ist Ihre persönliche Motivation für die Forschung zu diesem Thema?

Unsere Arbeit verbindet uns direkt mit den Menschen, die in den vergangenen Jahrhunderten zu den Handschriften, die wir untersuchen, beigetragen haben. Es sind Menschen, die Texte verfasst, Pergament hergestellt oder die Handschriften abgeschrieben haben. Unsere Forschung erlaubt es uns, Äthiopien und Eritrea nicht als ewiges Krisengebiet, das in den Medien vor allem durch Hungersnot und Kriege präsent ist, zu erleben, sondern als eine kulturreiche Welt voller breitgefächerten Wissens, die eine größere Wertschätzung verdient. Hinzu kommt, dass eine antike Handschriftenkultur, die bis heute lebendig ist, außergewöhnlich ist.

3. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Die systematische Zusammenstellung aller durch die Handschriften überlieferten Texte und ihrer Erschaffer ist wegweisend für das Fach sowie für benachbarte Fächer. Zum ersten Mal entsteht eine zuverlässige, zitierbare Quelle für das immense Repertorium der äthiopischen und eritreischen christlichen Literatur. Neu erfasste Quellen bereichern das Verständnis der Geschichte und der Geographie der Region. Wissenschaftlicher Nachwuchs, insbesondere aus Äthiopien und Eritrea, kann durch Schulungen und den web-basierten Workflow direkt zum Erhalt des reichen Kulturerbes beitragen.

4. Was ist die größte Herausforderung in Ihrem Projekt?

Die Menge des zu erfassenden Materials ist wohl die größte Herausforderung. Um gute Ergebnisse zu erzielen, muss eine kritische Auswahl der zu erfassenden Daten erfolgen, was nicht immer einfach ist. Auch wenn die Anzahl der Handschriften für die Analyse nach bestimmten Kriterien begrenzt wird, sind die materiellen Aspekte und die Inhalte so vielfältig, dass eine komplette Zusammenstellung schwer zu erreichen ist. Diese Herausforderung kann nur dank der breiten internationalen Kooperation und dem Crowdsourcing, welche durch unseren digitalen Workflow ermöglicht werden, teilweise bewältigt werden.

5. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher gewonnen haben?

Die äthiopisch-eritreische Schriftkultur verdankt dem gemeinsamen christlichen Kulturerbe viel in Hinblick auf die Überlieferung der Bibel bis hin zu vielen liturgischen Texten. Sie hat aber im Laufe der Jahrhunderte auch bedeutsame eigene Werke erschaffen, deren Wert bis heute kaum bekannt ist und vielfach unterschätzt wird. Die vielen poetischen, hagiographischen und biographischen Texte, die durch das Vorhaben bekannt wurden, bezeugen die große Kreativität der Urheber. Die wichtige Rolle der lokalen Literaten, Schreiber und traditionellen Buchmacher hat sich seit der Spätantike bis heute erhalten.

6. Warum braucht Ihre Forschung Zeit?

Im Laufe der vielen Jahrhunderte sind viele Handschriften entstanden, man schätzt eine Zahl von weit über 200.000, von denen nur ein Bruchteil der Wissenschaft zugänglich ist. Durch die Tatsache, dass die Handschriftenkultur lebendig ist und durch die fortschreitende Digitalisierung der vorhandenen Bestände kommen fast täglich neue Handschriften dazu. Durch ihre „Randposition“ sowohl in der Afrika-Forschung als auch in der Literatur-Forschung zum christlichen Orient wurde die Region in der Wissenschaft oft vernachlässigt, so dass in vielen Bereichen die Forschungsgrundlagen und die Basisinstrumente fehlen. Um diesen Rückstand aufzuholen, sind mehrere Jahre notwendig.

7. Was tun Sie und Ihr Team konkret?

Das Projektteam erstellt Handschriftenbeschreibungen im digitalen TEI XML Format. Dabei entnehmen wir Informationen aus den vorhandenen Katalogen und erfassen auch neue Erkenntnisse aus der Analyse der materiellen Beschaffenheit und der Inhalte. Parallel beschreiben wir die in den Codizes und Schriftrollen übermittelten Literaturwerke, von denen wir einige auch digital edieren und kommentieren. Auch zu den in den Handschriften erwähnten Personen und Orten legen wir durchsuchbare Dateien an. Um Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu eröffnen und die Nachhaltigkeit der Forschung zu sichern, binden wir stets junge Forscher in die Arbeit mit ein.

8. Wie verändert die Digitalisierung Ihren Forschungsbereich?

Die Digitalisierung von gefährdeten und schwer zugänglichen Objekten garantiert, dass intellektuelle Inhalte nachhaltig gesichert werden und verfügbar sind. Darüber hinaus werden die vielschichtigen Informationen über das Kulturerbe Äthiopiens und Eritreas im Portal so aufbereitet, dass eine computergestützte Analyse ermöglicht wird. Dadurch können neue Fragestellungen zur Handschriftenkunde, politischen Geschichte, historischen Geographie, Linguistik und Literaturwissenschaft beantwortet werden.

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Interview

Alessandro Bausi spricht über die Besonderheiten des Forschungsprojekts ➤ „Zeugnisse alter Traditionen, die immer noch die Gegenwart prägen“

Kontakt

Projekt Beta masaheft

Hiob Ludolf Zentrum für Äthiopistik
Universität Hamburg
Alsterterrasse 1
20354 Hamburg
Germany

Ansprechpartnerin:
Eugenia Sokolinski, M.A.
E-Mail: aethiopistik(at)uni-hamburg.de
Telefon: +49 40 42838 7777

DGS-Korpus

Entwicklung eines korpusbasierten elektronischen Wörterbuchs Deutsche Gebärdensprache (DGS) - Deutsch (DGS-Korpus)

Leitung: Prof. Dr. Annika Herrmann und Thomas Hanke

Laufzeit: 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2027

WORUM GEHT ES IM PROJEKT?

Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist eine natürliche, visuelle Sprache mit eigener Grammatik und regionalen Varianten. Sie ist nicht international, sondern unterscheidet sich klar von anderen Gebärdensprachen. Das Projekt dokumentiert die Vielfalt der DGS und erstellt ein digitales Wörterbuch, das regionale Unterschiede berücksichtigt. Die Grundlage ist ein einzigartiges Spracharchiv: das DGS-Korpus mit über 560 Stunden Videoaufnahmen von tauben Menschen aus allen Teilen Deutschlands. Es wird derzeit durch eine zweite Erhebung der Gebärdensprache junger Menschen ergänzt.

WAS IST DIE GRÖSSTE HERAUSFORDERUNG BEI DIESER ARBEIT?

Um die Vielfalt der DGS zu zeigen, müssen wir Sprecherinnen und Sprecher aus allen Regionen gewinnen – und diese müssen bereit sein, sich filmen zu lassen. Aufgezeichnet wird mit mehreren Kameras in einem Studio. Besonders aufwendig ist die Nachbereitung: Sichtung, Auswahl, Übersetzung, Transkription und Zuordnung jeder einzelnen Gebärde zu einer Grundform, damit die Daten langfristig für Wissenschaft und Gesellschaft nutzbar sind.

WARUM BRAUCHT DIESE FORSCHUNG ZEIT?

Die Erstellung des Wörterbuchs ist komplex und erfordert viel Fachwissen. Allein die erste Erhebungsphase dauerte zwei Jahre: An 13 Orten wurden Gespräche und Erlebnisberichte in natürlicher DGS aufgenommen. Daraus wurden 560 Stunden ausgewählt und sorgfältig analysiert. Jede Gebärde in den Aufnahmen wird einzeln erfasst und kategorisiert. Etwa 50 Stunden sind öffentlich zugänglich – übersetzt, annotiert und für alle nutzbar.

WAS KÖNNEN WIR DURCH DAS PROJEKT BESSER VERSTEHEN?

Das Projekt fördert das Verständnis der Grammatik und Struktur der DGS und bewahrt persönliche Geschichten tauber Menschen – über Schule, Arbeit, Familie oder besondere Lebensereignisse. So wird ihre Perspektive sichtbarer und trägt zum besseren Verständnis der Kultur tauber Menschen bei.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was ist das Besondere an dem Thema, das Sie erforschen?

Ein Korpus der Deutschen Gebärdensprache (DGS) gab es in dieser Form bisher nicht in Deutschland und auch das digitale korpusbasierte Wörterbuch der DGS – das DW-DGS – ist einzigartig. Sprach- und kulturwissenschaftliche Forschung zu verschiedenen Gebärdensprachen weltweit ist stets eine Herausforderung, da es für diese visuellen Sprachen keine alltagsübliche Verschriftlichung gibt. In der Forschung werden häufig mit Hilfe von schriftsprachlichen Formulierungen ganz bestimmte Einzelgebärden oder isolierte Sätze vorgegeben, um taube Teilnehmende nach gebärdensprachlichen Entsprechungen zu fragen, die dann per Videokamera aufgenommen werden. Meist sind diese Erhebungen dann aber keine natürlichen Sprachsituationen.

Das DGS-Korpus-Projekt geht bei der Datenerhebung andere Wege und nimmt möglichst natürliche Sprache auf. Zwar ist das Setting immer noch ein Aufnahmestudio mit Kameras, jedoch sind innerhalb dieses Studios immer nur taube Personen anwesend und alle Erklärvideos sind in DGS. Die Teilnehmenden befinden sich also in einer rein gebärdensprachlichen Umgebung und werden nicht von außen beeinflusst. Darüber hinaus besteht ein großer Teil der Erhebung darin, frei etwas zu einem bestimmten Thema zu erzählen oder sich über ein Thema locker auszutauschen oder zu diskutieren. Auf diese Weise entsteht ein Datensatz in natürlichsprachlicher DGS, den man gewinnbringend erforschen und in vielerlei Hinsicht nutzen kann. Das ist etwas sehr Besonderes für die Gebärdensprachgemeinschaft und die aktuelle Forschungslandschaft. Ebenfalls ganz besonders ist, dass man auf diese Weise ein Archiv an Erlebnisberichten geschaffen hat und derzeit mit der Implementierung einer weiteren Kohorte noch ausbaut, an dem sich die Kultur und die Geschichte tauber Menschen in Deutschland und die Entwicklung ihrer Sprache aufzeigen und festhalten lässt.

Zudem ist aufbauend auf den erhobenen Daten ein Digitales Wörterbuch DGS Deutsch entstanden, das es in dieser Form bisher ebenfalls noch nicht gibt.

2. Was ist die größte Herausforderung in Ihrem Projekt?

Es gibt verschiedene Herausforderungen in unserem Projekt. Eine Herausforderung besteht darin, eine repräsentative Auswahl an Teilnehmenden zu treffen, die sich dann im Studio von uns filmen lassen. Um ein möglichst differenziertes und vollständiges Bild der verschiedenen regionalen Gebärden der DGS zu erhalten, gibt es 13 Erhebungsregionen in Deutschland. Für jede Erhebungsregion gibt es Moderator:innen, die uns bei dieser Auswahl und Suche unterstützen.  

Eine zweite Herausforderung ist die technische Realisierung der Aufnahmen. Um qualitativ hochwertige modernste Videodaten zu erhalten, wird ein Filmstudio benötigt mit einem komplexen Setting von mehreren Kameras aus unterschiedlichen Positionen. Bei der ersten Erhebungsphase wurde ein mobiles Studio durch ganz Deutschland gefahren. Jetzt bei der zweiten Kampagne werden die Teilnehmenden nach Hamburg ins Videostudio eingeladen.

Die dritte und größte Herausforderung besteht darin, die erhobenen Daten so aufzubereiten, dass sie für die weitere Forschung und die Gemeinschaft sinnvoll genutzt werden können. Dazu gehört die Sichtung des Materials, die Auswahl geeigneter Filme, eine Übersetzung und vor allem die systematische Transkriptionsarbeit, bei der Mitarbeitende und Studierende eng zusammenarbeiten.

3. Warum braucht Ihre Forschung Zeit?

Insgesamt wurde in der ersten Erhebungsphase Videomaterial in 13 verschiedenen Standorten in Deutschland aufgenommen. Allein die Erhebungsphase hat 2 Jahre gedauert. Aus diesem Material mussten die relevanten Daten extrahiert werden. Übrig blieben mehr als 560 Stunden Videomaterial mit Unterhaltungen und Erlebnisberichten in natürlichsprachlicher DGS. Diese bilden das DGS-Korpus. Um einen Teil dieses Materials so aufzubereiten, dass es den Sprachgemeinschaften und der Forschung zur Verfügung gestellt werden konnte, wurde das Öffentliche DGS-Korpus erstellt. In diesem lassen sich rund 50 Stunden Videomaterial zu den verschiedenen Erhebungsthemen finden, die nicht nur übersetzt, sondern sehr detailliert aufbereitet und annotiert wurden. Um im nächsten Schritt aus diesen Daten ein korpusbasiertes Wörterbuch zu erstellen, mussten alle vorkommenden Gebärden erfasst und kategorisiert werden. All diese Arbeiten wurden von qualifizierten Mitarbeitenden und dafür ausgebildeten Studierenden erledigt.

4. Was können wir durch Ihr Forschungsprojekt besser verstehen?

Durch das DGS-Korpus kann der Aufbau und die grammatische Struktur der DGS besser erforscht und verstanden werden. Das vorhandene Videomaterial an natürlichsprachlicher DGS beinhaltet Antworten auf zahllose Forschungsfragen und kann immer wieder unter neuen Gesichtspunkten analysiert werden. Somit leistet das Projekt einen entscheidenden Beitrag zur Grundlagenforschung.

Darüber hinaus bietet es ein Archiv an Erlebnisberichten. Taube Menschen berichten hier von einschneidenden Ereignissen und besonderen Veranstaltungen. Sie berichten aber auch von ihrem Alltag in einer überwiegend lautsprachorientierten Welt. Wie wurde Schule erlebt, welche Herausforderungen bringt der Arbeitsalltag mit sich, welche Konflikte entstehen im Umgang mit anderen Familienmitgliedern? Diese Themen aus dem kulturellen Erbe der Gemeinschaften tauber Menschen werden so für die allgemeine Öffentlichkeit und alle in der Gesellschaft sichtbar und können auch auf vielen Ebenen für die Weiterbildung von Jung und Alt genutzt werden.

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Weitere Informationen

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Zum Projektfilm mit DGS-Synchronisation

DGS-Korpus auf Instagram: https://www.instagram.com/dgskorpusprojekt/

Projekt des Monats: Gebärdensprache: Akademieprojekt erforscht nun Sprachwandel in der jungen Generation (Akademienunion, September 2024)

Artikel auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Gebärdensprache: Akademieprojekt erforscht nun Sprachwandel in der jungen Generation (Quelle: Akademienunion, September 2024)

Aktuellmeldung: Langzeitprojekt DGS-Korpus mit Institutionenpreis Deutsche Sprache 2023 ausgezeichnet

Zahl der Woche: "730.082.677.672.551 Bytes" (Akademienunion, 2022, KW 18)

Zahl der Woche: "550 Stunden" (Akademienunion, 2021, KW 5)

"Ein Wörterbuch für Gebärdensprache" (BMBF, 2020)

Kontakt

Projekt DGS-Korpus

Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser
Universität Hamburg
Gorch-Fock-Wall 7
20354 Hamburg
E-Mail: info(at)dgs-korpus.de

Etymologika

Ordnung und Interpretation des Wissens in griechisch-byzantinischen Lexika bis in die Renaissance. Digitale Erschließung von Manuskriptproduktion, Nutzerkreisen und kulturellem Umfeld

Leitung: Prof. Dr. Christian Brockmann

Laufzeit: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2037

WORUM GEHT ES IM PROJEKT?

Wir erforschen das Etymologicum Gudianum, ein bedeutendes griechisches Wörterbuch aus dem 11. Jahrhundert. Es entstand in byzantinischen Gelehrtenkreisen in Süditalien und erklärt die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung von Wörtern – das sogenannte étymon. Ziel unseres Projekts ist es, diesen wichtigen Text in einer modernen Online-Ausgabe zugänglich zu machen – mit englischer Übersetzung, Erklärungen und Bildern der Original-Handschriften.

WAS IST DAS BESONDERE AN DIESEM WÖRTERBUCH?

Wir arbeiten mit einer echten Rarität: einem Arbeitsmanuskript, das direkt aus der mittelalterlichen Schreibstube der byzantinischen Gelehrten stammt. So können wir ihnen bei ihrer Arbeit quasi über die Schulter schauen. Unser Ziel ist nicht nur die digitale Lesbarkeit des Wörterbuchs, sondern auch das Verständnis des Textes. So schaffen wir eine fundierte Grundlage für Forschende weltweit und für alle, die sich für Sprache, Geschichte und Kultur interessieren.

WAS IST DIE GRÖSSTE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE FORSCHENDEN?

Das Original-Manuskript ist alt, teils beschädigt und schwer zu entziffern. Wir müssen es sorgfältig mit späteren Abschriften abgleichen. Ein weiterer Knackpunkt: Das Wörterbuch enthält Einträge aus vielen Fachgebieten – von Medizin bis Mythologie. Das verlangt ständig neue Recherchen und das Vermitteln komplexen Wissens in verständlicher Form.

WAS KÖNNEN WIR DURCH DIESE ARBEIT BESSER VERSTEHEN?

Unser Projekt zeigt, wie im byzantinischen Mittelalter Wissen gesammelt und weitergegeben wurde. Das Manuskript erlaubt einen direkten Blick auf diesen Prozess – vom Quellenstudium bis zur Lexikon-Erstellung. Das Etymologicum Gudianum macht deutlich, wie lebendig und relevant etymologisches Denken bis heute ist – und was es über unsere Kultur und Geschichte verrät.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was ist das Besondere an dem Thema, das Sie erforschen?

Wir arbeiten mit einem Manuskript aus dem 11. Jahrhundert, das ein originales Arbeitsexemplar eines byzantinischen Lexikons ist und keine Abschrift (eine absolute Ausnahme!). Das ermöglicht uns, unseren byzantinischen Kollegen, die das große etymologische Lexikon, das Etymologicum Gudianum, erstellt haben, quasi über die Schulter zu schauen und ihre Arbeitsweise zu studieren und auszuwerten.

Wir erstellen nicht, wie im Fach üblich, nur eine einsprachige Edition des griechischen Originaltextes, sondern erarbeiten auch eine Übersetzung und erklären die komplexen Einträge des Lexikons. Unser Ziel ist es, das Etymologicum Gudianum erstmals einer Leserschaft über den engen Expertenkreis hinaus zugänglich zu machen. Zu diesem Ziel trägt bei, dass wir auch eine digitale Edition mit komplexen Nutzungsmöglichkeiten erstellen und dass sowohl Übersetzung als auch Erklärungen auf Englisch verfasst werden. In die digitale Edition binden wir zudem Abbildungen aller Einträge des Lexikons aus zahlreichen Handschriften ein. Auf diese Weise legen wir nicht nur den Entstehungskontext des Lexikons offen, sondern bieten den Nutzerinnen und Nutzern vielfältige Möglichkeiten zu eigenen Recherchen und weiterführenden Studien.

2. Was ist die größte Herausforderung in Ihrem Projekt?

Bei der Originalhandschrift handelt es sich um ein äußerst komplexes Manuskript, das aufgrund verschiedener Faktoren schwierig zu entziffern ist. Es ist teilweise beschädigt, weshalb wir auch die Abschriften detailliert untersuchen müssen.

Zudem versammelt das Lexikon Einträge unterschiedlicher Wissensgebiete mit teils sehr spezifischer Fachsprache. Hier stellt sich uns Forschenden die Herausforderung, einerseits immer neue Themen und Problemstellungen zügig zu erschließen und andererseits die Ergebnisse für breitere Kreise verständlich zu machen.

3. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher gewonnen haben?

Wir haben die Überlieferung des Lexikons in über 30 Handschriften erschlossen, neue Quellen, die die Verfasser benutzt haben, entdeckt und einiges über ihre Arbeitsweise gelernt: Zum Beispiel war das Ziel ihrer Quellenforschung nicht, eine alleingültige Interpretation für einen spezifischen Begriff zu finden, sondern sie strebten eine Vielfalt an Erklärungen und die Sammlung verschiedener Informationen an.

4. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher gewonnen haben?

Weil das originale Arbeitsexemplar unseres Textes erhalten ist, können wir sehen, wie ein griechisch-byzantinisches Lexikon entstand. Wir können mit Hilfe dieses Manuskripts und seiner Abschriften besser verstehen, wie byzantinische Gelehrte in einer Manuskriptkultur konkret gearbeitet haben, und genau beobachten, wie und in welchen Schritten sie Informationen und Wissensbestände aus unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen und organisiert haben, um ein umfassendes etymologisches Lexikon herzustellen.

5. Wie verändert die Digitalisierung Ihren Forschungsbereich?

Die Verfügbarkeit hochauflösender Digitalisate der Handschriften hat die Paläographie und die Manuskriptforschung qualitativ verändert. Man kann heute eine Vielzahl von Handschriften jederzeit und im Detail am Rechner untersuchen. Früher musste man entweder mit Mikrofilmen in Schwarz-Weiß arbeiten, die oft von schlechter Qualität waren, oder man musste reisen, um die Handschriften in einem begrenzten Zeitraum in den Bibliotheken einzusehen.

Die Literaturrecherchen sind dank digitaler Editionen und Datenbanken schneller und umfassender durchzuführen, weil man große Mengen an Materialien automatisch durchsuchen kann.

Die digitale Archivierung ermöglicht es, unsere Arbeit besser und vollständiger zu dokumentieren.

6. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Unsere digitale Edition weicht von an den Druck angelehnten Mustern ab. Sie verbindet Bewährtes in flexibleren Darstellungsformen mit Neuem, um das Material besser nutzbar zu machen, und ist so in vielen Aspekten innovativ. Sie hat den Anspruch, mustergültig für künftige Editionen in unserem Forschungsbereich zu sein.

Die Erstellung unserer Edition erfordert sehr spezialisierte Kompetenzen. Durch unsere Arbeit wird ein relevanter und schwer zu erschließender Text einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

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Kontakt

Projekt Etymologika

Institut für Griechische und Lateinische Philologie
Universität Hamburg
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
Germany


Ansprechpartner:
Prof. Dr. Christian Brockmann
E-Mail: etymologika(at)awhamburg.de
Telefon: +49 40 42838 2757
 

Formulae – Litterae – Chartae

Neuedition der frühmittelalterlichen Formulae inklusive der Erschließung von frühmittelalterlichen Briefen und Urkunden im Abendland (ca. 500 – ca. 1000 n. Chr.)

Leitung: Prof. Dr. Philippe Depreux

Laufzeit: 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2031

WORUM GEHT ES IM PROJEKT?

Im frühen Mittelalter nutzten Menschen sogenannte Formulae – Textvorlagen für Urkunden oder Briefe. Diese Muster halfen beim Schreiben rechtlicher oder alltäglicher Dokumente. Meist wurden sie gar nicht aufbewahrt. Umso wertvoller sind die wenigen erhaltenen Stücke: Sie geben seltene Einblicke in das Denken und den Alltag vor über 1000 Jahren. Das Projekt macht diese Texte wissenschaftlich zugänglich – digital und als Buch. So entstehen neue Perspektiven auf Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte.

WAS MACHT DIE ARBEIT BESONDERS SPANNEND?

Die Formulae zeigen Seiten des Mittelalters, die in anderen Quellen bisher kaum vorkommen. Sie erzählen von Schulden, Bitten um Hilfe oder Alltagskonflikten. Meist ist aus dieser Zeit nur überliefert, was die Kirche oder den Adel betrifft. Die Textvorlagen zeigen dagegen, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialen Rangs kommunizierten – und machen das mittelalterliche Leben greifbarer.

WAS MACHEN DIE FORSCHENDEN GENAU?

Das Forschungsteam schreibt die alten Texte buchstabengetreu aus den Handschriften ab, vergleicht verschiedene Fassungen, übersetzt sie aus dem Lateinischen und kommentiert sie fachlich. So entsteht eine sogenannte kritische Edition. Diese wird digital und als Buch veröffentlicht – so können auch andere Forschende oder Interessierte damit arbeiten.

WELCHE NEUEN EINBLICKE ENTSTEHEN DADURCH?

Die Formulae helfen zu verstehen, wie sich Sprache, Recht und Gesellschaft entwickelten und wie sich die Schriftkultur herausbildete. Dank der digitalen Ausgabe lässt sich auch nachvollziehen, wie sich bestimmte Texte im Lauf der Zeit veränderten. So wird sichtbar, wie Schreiber arbeiteten und wie Wissen im Mittelalter weitergegeben wurde.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was ist das Besondere an dem Thema, das Sie erforschen?

Das Besondere an den Formulae ist, dass sie einen Einblick in den Alltag der Leute vor über tausend Jahren erlauben und Aspekte des gesellschaftlichen Lebens dokumentieren, die einer Archivierung nicht würdig waren. Manchmal sollten solche Dokumente sogar vernichtet werden, sobald man sie nicht mehr brauchte – so z.B. Schuldscheine. Die Unterlagen von Privatleuten, die keine kirchlichen Einrichtungen betreffen, haben eine geringe Überlieferungschance. Als Musterdokumente für Schreiben zu vielen Anlässen beleuchten die Formulae das Leben von Menschen von unterschiedlichem Sozialstatus.

2. Welche Arbeitsschritte sind typisch?

Ziel des Projekts ist es, die Brief- und Urkundenmuster aus dem Frühmittelalter (6.-10. Jh.) zu edieren und verständlich zu machen. Zunächst werden die Texte buchstabengetreu aus den Handschriften transkribiert. Dann werden alle überlieferten Fassungen eines Textes verglichen, um die ursprüngliche Textfassung oder die im Mittelalter benutzte Textfassung zu rekonstruieren. Die Übersetzung unterstützt das Verständnis des lateinischen Textes und ermöglicht seine Überprüfung. So entsteht eine kritische, kommentierte Edition samt Übersetzung, die digital und in Buchform veröffentlicht wird.

3. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Die Edition ermöglicht eine sicherere Deutung dieser Texte, die für die Rechts-, Sozial- und Kulturgeschichte des Mittelalters relevant sind. Die akribische Untersuchung dieser anonymisierten Vorlagen ermöglicht ihre genauere Datierung und ein besseres Verständnis des Übergangs vom Mündlichen zum Schriftlichen. Mit der Digitaledition kann man verfolgen, wie sich ein Text innerhalb verschiedener Sammlungen wandelt: So kommt man der Arbeit der Schreiber ein Stück näher. Die Textdatenbank ermöglicht den Vergleich verschiedener Formulierungen, um zu verstehen, wie die Leute damals dachten.

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Weitere Informationen

Kontakt

Projekt Formulae – Litterae – Chartae

Fakultät für Geisteswissenschaften, Fachbereich Geschichte
Universität Hamburg
Von-Melle-Park 6 #5
22297 Hamburg

Ansprechpartner:
Dr. Horst Lößlein
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
E-Mail: horst.loesslein(at)uni-hamburg.de
Telefon: +49 40 42838 2690

INEL

Grammatiken, Korpora und Sprachtechnologie für indigene nordeurasische Sprachen

Leitung: Prof. Dr. Beáta Wagner-Nagy

Laufzeit: 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2033

WORUM GEHT ES IM PROJEKT?

Jede Sprache ist ein unverzichtbarer Teil der kulturellen Vielfalt der Menschheit. Sie ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Schlüssel zu Geschichten, Traditionen und Denkweisen. Wenn eine Sprache stirbt, geht ein bedeutender Teil dieses Wissens verloren. Das Projekt INEL widmet sich einer faszinierenden und zugleich dringenden Aufgabe: der Erforschung und Dokumentation bedrohter Sprachen in Sibirien. Viele dieser Sprachen werden nur noch von wenigen Menschen gesprochen – oft von den letzten Sprecherinnen und Sprechern. Unsere Arbeit ist daher die letzte Gelegenheit, Sprachmaterial zu sammeln, Fragen zu stellen und einen Einblick in einzigartige kulturelle Welten zu erhalten. 

WAS ZEICHNET IHRE ARBEIT AUS?

Die Zusammenarbeit und die Begegnungen mit den letzten Sprecherinnen und Sprechern sind sowohl emotional als auch wissenschaftlich von besonderer Bedeutung, insbesondere da viele junge Menschen in Sibirien zunehmend zur russischen Sprache wechseln. Neben der Feldforschung nutzen wir auch historische Dokumente, die bereits in vergangenen Jahrhunderten aufgezeichnet wurden. Diese wertvollen Archivmaterialien bieten unvergleichliche Einsichten in die Sprachen und die Lebenswelt der Sprechergemeinschaften aus damaliger Zeit, die sonst nicht rekonstruiert werden können.

WAS GENAU TUN SIE UND IHR TEAM?

Wir sammeln Sprachaufnahmen und Texte, verschriftlichen, analysieren, erforschen sie und machen sie in digitaler Form zugänglich.

WELCHE ERKENNTNISSE HABEN SIE BISHER GEWONNEN?

Durch den Vergleich von Sprachen lassen sich Veränderungen und Einflüsse erkennen, die unser Verständnis von Geschichte und Migration in der Region bereichern. Dies erweitert unser Wissen über Struktur und Funktion von Sprachen und verdeutlicht das Zusammenspiel von Sprache und Kultur. Das INEL-Portal ermöglicht Interessierten, eigene Forschungen zu sibirischen Sprachen einfach durchzuführen. Zudem können die Sprechergemeinschaften, aus denen die Daten stammen, diese Ressourcen nutzen. Durch digitale Aufbereitung und langfristige Speicherung werden die Sprachen sichtbar und erlebbar – ein wichtiger Schritt, besonders wenn die gemeinsame Sprache nicht mehr selbstverständlich ist.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

Bedrohte Sprachen: Ein kulturelles Erbe bewahren

Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt? Und was geht verloren, wenn eine Sprache ausstirbt? Jede Sprache ist ein unverzichtbarer Teil der kulturellen Vielfalt der Menschheit. Sie ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Schlüssel zu den Geschichten, Traditionen und Denkweisen der Gemeinschaften, die sie sprechen. Sprachen tragen Wissen über die Welt in sich – von ökologischen Zusammenhängen über Heilpflanzen bis hin zu sozialen und religiösen Praktiken. Wenn eine Sprache verschwindet, geht ein bedeutender Teil dieses Wissens verloren.

Das Projekt INEL (Indigenous Northern Eurasian Languages) widmet sich einer faszinierenden und zugleich dringenden Aufgabe: der Erforschung und Dokumentation bedrohter Sprachen in Sibirien. Viele dieser Sprachen werden nur noch von wenigen Menschen gesprochen – oft von den letzten Sprecher:innen. Unsere Arbeit ist daher buchstäblich die letzte Gelegenheit, Sprachmaterial zu sammeln, Fragen zu stellen und einen Einblick in einzigartige kulturelle Welten zu erhalten.

1. Was macht Ihre Arbeit besonders?

Die letzten Zeugen einer Sprache: Oft arbeiten wir mit Menschen, die zu den letzten Sprecher:innen ihrer Sprache gehören. Die Sprecher:innen wechseln oft zum Russischen oder einer anderen dominierenden Sprache, weil sie sich davon wirtschaftliche oder soziale Vorteile versprechen. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass viele Sprachen und Kulturen in ihrer Existenz bedroht sind.  Begegnungen mit den letzten Sprecher:innen einer Sprache für die Forscher sind sowohl wissenschaftlich als auch emotional bedeutsam. Sie erlauben es uns, Sprachmaterial zu sammeln, das sonst für immer verloren wäre. Gleichzeitig ist es eine der letzten Gelegenheiten, offene Fragen zu klären und neue Einsichten in die Sprache und Kultur zu gewinnen.

Die Zeit drängt, denn viele Sprachen stehen unter starkem Druck. Viele der von uns untersuchten Sprachen könnten bald verschwunden sein. Die Menschen, die sie noch sprechen, sind oft älter und es gibt wenige junge Nachfolger, die die Sprache weitergeben. In einigen Fällen ist unsere Forschung die einzige Möglichkeit, ein Stück dieser Sprachen zu retten.

Einblicke in einzigartige Kulturen: Die Sprachen, die wir untersuchen, sind eng mit den Traditionen und dem Alltag ihrer Sprecher:innen verbunden. Durch ihre Geschichten, Lieder und Gespräche erhalten wir einen direkten Zugang zu diesen Kulturen. Jedes Wort, jede Wendung, jede grammatische Struktur erzählt uns etwas über die Welt, wie sie von den Menschen, die diese Sprachen sprechen, wahrgenommen wird.

2. Warum braucht Ihre Forschung Zeit?

Die Arbeit am INEL-Projekt ist sowohl facettenreich als auch anspruchsvoll. Sie beginnt mit der sorgfältigen Sichtung von Archivmaterialien, die häufig aus handschriftlichen Notizen bestehen, die direkt aus der Feldforschung stammen. Diese Dokumente müssen nicht nur transkribiert, sondern oftmals auch entschlüsselt werden. Besonders in persönlichen Forschungsaufzeichnungen finden sich nicht nur verschiedene Sprachen, sondern auch verschiedene Schriftsysteme für deren Übertragung in digitale Forschungsdaten es einer hohen linguistischen und technischen Kompetenz bedarf.

Zudem ist es essentiell, spezialisierte Programme zu entwickeln und anzupassen, um die Forschungsdaten effektiv bearbeiten und später auswerten zu können. Dieser technologische Aspekt der Arbeit erfordert ebenso viel Kreativität wie Präzision, um den besonderen Anforderungen jedes Teilprojekts, d.h. allen Sprachen, mit denen sich das INEL-Projekt beschäftigt, gerecht zu werden.

Ein weiterer wichtiger Schritt besteht in der Aufbereitung der Daten für eine breitere Öffentlichkeit. Hierbei wird stets auf existierende Ressourcen wie Sprachbeschreibungen, Wörterbücher und Grammatiken zurückgegriffen. Doch da viele der behandelten Sprachen bisher weitgehend unerforscht sind, stellt deren begrenzte Verfügbarkeit eine Herausforderung dar. Die fortschreitende Digitalisierung und Bereitstellung von Daten ermöglicht es jedoch, bislang unbekannte Aspekte der Sprachen zu erforschen und zu dokumentieren.

Diese Prozesse, die für jede einzelne im INEL-Projekt untersuchte Sprache durchgeführt werden, sind sowohl spannend als auch zeitintensiv. Das INEL-Projekt bietet so die Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen, die weit über das Projekt hinaus von Bedeutung sind.

3. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher gewonnen haben?

Die Erforschung bedrohter Sprachen eröffnet uns faszinierende Einblicke in die Facetten sprachlicher Verwandtschaften und historischer Entwicklungen. Durch den Vergleich der Sprachen Sibiriens gelingt es uns, ihre Veränderungen über die Jahrhunderte nachzuvollziehen und die vielfältigen Einflüsse zu erkennen, die sie geprägt haben. Diese Untersuchung bereichert unser Verständnis von Geschichte und Migrationen der Völker dieser Region. Darüber hinaus erweitert diese Forschung unser Wissen über die Struktur und Funktion von Sprachen und verdeutlicht das Zusammenspiel von Sprache und Kultur auf eindrucksvolle Weise. So zeigt sich beispielsweise, dass jede Sprache ihre eigene, spezifische Art hat, räumliche Orientierung auszudrücken. Oftmals neigen wir dazu, anzunehmen, dass diese Vorstellungen und sprachlichen Mittel universell sind.

Die Ergebnisse unseres Projekts jedoch illustrieren beispielsweise, wie unterschiedlich die Sprecher:innen ihre Umgebung zur Orientierung heranziehen und wie sich diese Konzepte sprachlich manifestieren. Abseits der klassischen Richtungen von Norden, Süden, Osten und Westen existieren in diesen Sprachen Fixpunkte, die direkt aus der natürlichen Umgebung abgeleitet werden und somit eine präzise Orientierung in Tundra und Taiga ermöglichen. Auch Begriffe wie "rechts" und "links" lassen sich auf ihren lexikalischen Ursprung zurückverfolgen und offenbaren die kulturellen Kontexte, die hinter ihnen stehen.

Diese wertvollen Erkenntnisse stehen nicht nur den Projektmitarbeitenden zur Verfügung, sondern sind für alle Interessierten zugänglich. Die Daten wurden sorgfältig aufbereitet und in einer analysierbaren Datenbank zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise fördern wir einen kontinuierlichen Wissenszuwachs und erweitern somit die stets wachsende Erkenntnislandschaft. Die Ergebnisse, die auf den gesammelten Daten basieren, werden regelmäßig in wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht, sodass die gewonnenen Einsichten in die breitere Forschungsgemeinschaft fließen und zur globalen Erschließung sprachlicher Vielfalt beitragen.

4. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Sprachdaten, die lange Zeit verborgen in Archiven schlummerten, stehen nun einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung und bereichern unser Wissen über weniger bekannte Sprachen und Kulturen. Interessierte haben die Gelegenheit, diese Sprachen zu hören, ihre Transkripte zu entdecken und die vielfältigen grammatischen Strukturen zu erfassen. Geschichten und Folkloretexte z.B. eröffnen Einblicke in Motive und Traditionen, die uns weniger geläufig sind. Die Welt der Sprachen und Kulturen ist so vielfältig wie ihre Sprecher:innen, und über das INEL-Projekt kann man unkompliziert einen Teil Sibiriens erleben.

Für Sprachwissenschaftler:innen bietet das INEL-Portal die Möglichkeit, eigene Forschungen zu sibirischen Sprachen zu vertiefen und diese mühelos durchzuführen. Die sorgfältig aufbereiteten Sprachkorpora enthalten eine Fülle heterogener Sprachdaten, die nach wissenschaftlichen Standards analysiert werden können. Besonders wichtig ist es jedoch, den Sprechergemeinschaften, aus denen diese wertvollen Daten stammen, die Möglichkeit zu geben, selbst diese Ressourcen zu benutzen. Durch digitale Aufbereitung und langfristige Speicherung werden die Sprachen sichtbar und erlebbar – ein entscheidender Schritt in Gemeinschaften, in denen die gemeinsame Sprache nicht mehr selbstverständlich ist. In Zeiten, in denen der Übergang zu dominanten Sprachen immer häufiger wird und die letzten Muttersprachler:innen versterben, sind die gesammelten Sprachdaten oft der Schlüssel, um die eigene sprachliche Identität zu erkunden. Das kulturelle Wissen, das eine Gemeinschaft in ihrer Sprache bewahrt, wird so an die jüngeren Generationen weitergegeben und ermöglicht es ihnen, sprachliche Barrieren zu überwinden.

Ein zentrales Konzept unserer Arbeit ist somit der Zugang für alle. Wir legen großen Wert darauf, dass die gesammelten Materialien so aufbereitet werden, dass sie nicht nur der Wissenschaft, sondern auch den betroffenen Gemeinschaften und der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind. Durch digitale Archive und Datenbanken garantieren wir, dass diese wertvollen Sprachen und die damit verbundenen Kulturen nicht in Vergessenheit geraten. Indem wir die Sprachen dokumentieren und für jeden zugänglich machen, leisten wir einen bedeutenden Beitrag zum Erhalt eines kulturellen Erbes, das für die Weltgemeinschaft von unschätzbarem Wert ist. Unser Projekt ist ein kleiner, jedoch entscheidender Schritt, damit diese Stimmen nicht verstummen, sondern weiterhin gehört werden können.

Durch unsere Arbeit hoffen wir nicht nur, die Sprachen selbst zu bewahren, sondern auch das Bewusstsein für ihre Bedeutung zu schärfen. Jede Sprache ist einzigartig, und jede trägt zum Reichtum der menschlichen Vielfalt bei.

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Kontakt

Projekt INEL

Institut für Finnougristik/Uralistik
Universität Hamburg
Von-Melle-Park 6, Postfach #29
20146 Hamburg

Ansprechpartnerin:
Dr. Maria Brykina
E-Mail: inel(at)uni-hamburg.de
Telefon: +49 40 42838 6710

NS-Verfolgung und Musikgeschichte

Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive

Leitung: Prof. Dr. Friedrich Geiger

Laufzeit: 1. Januar 2025 bis 31. Dezember 2042

WORUM GEHT ES IN DEM PROJEKT?

Der Terror des NS-Regimes (1933–1945) hat die Musikgeschichte massiv beeinflusst. Musikerinnen und Musiker wurden aufgrund von Rassismus, aus politischen oder anderen Gründen ausgegrenzt, deportiert oder ins Exil gezwungen. In welchem Ausmaß das Regime musikalische Praxis unterdrückte, ist bislang unzureichend erforscht. Daher erschließt das Projekt neue Quellen, untersucht Biographien und Werke und eröffnet so neue Perspektiven auf die Musik des 20. Jahrhunderts. Die Ergebnisse fließen in das „Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“ ein. Darauf aufbauend untersuchen wir in Teilprojekten übergeordnete Themen wie Jazz und NS-Verfolgung oder das Musikerexil in einzelnen Ländern.

WAS KÖNNEN WIR AUS IHRER FORSCHUNG FÜR DIE ZUKUNFT LERNEN?

Wir erfahren mehr über das Leben verfolgter Musikerinnen und Musiker in den Jahren 1933 bis 1945 und entdecken unbekannte Werke, die wieder oder erstmals gespielt und gehört werden können. Wir lernen damit Ideen zur Musik und ihrer Interpretation kennen. Diese Erkenntnisse helfen dabei, sensibler auf die Rolle von Kunst und Kunstschaffenden in politischen Konflikten zu reagieren. Das Projekt macht bewusst, wie verletzlich Kultur sein kann, und zeigt, wie wichtig es ist, sie zu schützen und verdrängtes Wissen neu zu beleben.

WIE SIEHT IHRE ARBEIT KONKRET AUS?

Im ersten Schritt recherchieren wir möglichst viele biografische Informationen, suchen in Archiven, rekonstruieren Lebenswege und musikalische Werke. Manchmal ist kaum mehr als ein Name bekannt – dann beginnt eine aufwendige Spurensuche. Dabei betrachten wir nicht nur das musikalische Wirken Einzelner, sondern auch bestimmte Berufsgruppen, etwa aus den Bereichen Komposition, Gesang oder Jazz. Wir analysieren, wie ihre Musik durch traumatische Erfahrungen von Ausgrenzung und Vertreibung geprägt wurde. 

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was können wir aus der Erforschung der Vergangenheit für die Zukunft lernen, ableiten, zur Verfügung stellen?

Wir rekonstruieren die Biographien verfolgter Musiker:innen, entdecken ein großes Repertoire, das wieder oder erstmals gespielt und gehört werden kann und lernen Ideen zur Musik und ihrer Interpretation kennen, mit denen bislang kaum Auseinandersetzung stattgefunden hat. Damit erwerben wir auch Wissen über das Gewesene hinaus, das uns für die prekäre Rolle von Künstler:innen in gegenwärtigen und zukünftigen Konflikten sensibilisieren kann.


2. Was ist das Besondere an dem Thema, das Sie erforschen?

Es ist kein Spezialthema, sondern kann alle, die sich für Musik interessieren, unmittelbar etwas angehen. Das gilt für die Kompositionen oder Aufnahmen, die zu Gehör gebracht werden, aber auch für die Biographien in unserem Lexikon, die möglichst allgemeinverständlich verfasst werden, und für das anschauliche Kartenmaterial, das entstehen wird.


3. Was ist Ihre persönliche Motivation für die Forschung an diesem Thema?

Die Erfahrung, wie historische Forschung unmittelbar in der Gegenwart wirkt, wenn wir etwa 80 Jahre lang verschüttetes Repertoire heute hören können. Der Zweifel an vorschnellen Werturteilen und der Formel „zu Recht vergessen“, die in der Musikgeschichte oft krasses Unrecht überdeckt. Der Kontakt mit den Nachfahren der verfolgten Musiker:innen, weil man diesen Menschen Respekt und teilweise sogar ihre (Familien-)Geschichte zurückgeben kann.


4. Was ist die größte Herausforderung in Ihrem Projekt?

Bei unseren Recherchen gibt es kein Schema X. Man muss oft unbekannte Wege gehen und Quellen erkunden, die bis dahin mit Musik nicht in Verbindung gebracht wurden, etwa Bestände von Hilfsorganisationen, Entschädigungsbehörden oder Einwohnerämtern. Die verfolgten Musiker:innen selbst können inzwischen kaum noch kontaktiert werden, auch die nächsten Generationen werden alt. Damit steigt die Gefahr des Verlustes privater Nachlässe.


5. Warum braucht Ihre Forschung Zeit?

Die Personengruppe, um die es geht, ist sehr groß. Allein in unserem Lexikon warten rund 4.500 Kurzeinträge auf die Ausarbeitung zu ausführlichen biographischen Artikeln − und dies sind nur die Personen, die aus Deutschland und Österreich stammen. Hinzu kommt, dass die einschlägigen Quellen aufgrund der Verfolgung häufig weit verstreut und die Daten mühsam zu rekonstruieren sind.


6. Was tun Sie und Ihr Team konkret? Welche Arbeitsschritte sind typisch?

Im ersten Schritt recherchieren wir möglichst viele biographische Details und Quellenmaterial zu Musiker:innen, von denen manchmal nur die Lebensdaten bekannt sind. Dies kann dann in einem zweiten Schritt zu vertieften Untersuchungen individuellen musikalischen Wirkens führen, aber auch zu gruppenbiographischen Fragestellungen – beispielsweise nach bestimmten Musikberufen wie Sänger:innen, Komponist:innen oder Jazzmusiker:innen, aber auch nach den jeweiligen Exilorten, die sich über den gesamten Globus verteilten. Schließlich interessieren uns auch musikalische Genres und die Frage, wie sich traumatische Erfahrungen von Haft, Flucht und Vertreibung in der musikalischen Praxis spiegelten.


7. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bisher gewonnen haben?

Die bisherige Musikgeschichtsschreibung zum 20. Jahrhundert ist unvollständig und verzerrt. Von der reichen europäischen Musiklandschaft vor der NS-Zeit besitzen wir nur eine vage Vorstellung, weil das Wirken der Verfolgten systematisch ausgelöscht werden sollte. Daher wurden auch mit Blick auf die zweite Hälfte des Jahrhunderts viele musikgeschichtliche Entwicklungen nicht als direkte oder mittelbare Konsequenzen der NS-Herrschaft identifiziert.


8. Was können wir durch Ihr Forschungsprojekt besser verstehen?

Zentrale und globale musikgeschichtliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und die unterschiedlichen Rollen von Musik in totalitären Kontexten − von der Propaganda über den Widerstandsappell bis zur individuellen Überlebenshilfe.


9. Wie verändert die Digitalisierung Ihren Forschungsbereich?

Durch die Digitalisierung sind in den letzten Jahren in großem Umfang Archiv- und Bibliothekskataloge sowie Repositorien mit Primär- und Sekundärliteratur, historischen Archivdokumenten, Zeitschriften und Zeitungen zugänglich und durchsuchbar geworden, was völlig neue Möglichkeiten der Datengewinnung eröffnet hat. Auch die Kontaktaufnahme mit Nachfahren und sonstigen Bekannten der verfolgten Musiker:innen ist einfacher geworden. Genealogische Projekte ermöglichen die Identifikation dieser Personen. E-Mail-Adressen und soziale Medien erleichtern sodann die Kontaktaufnahme und Übermittlung von Dokumenten. Durch die digitale Veröffentlichung sind auch unsere Forschungsergebnisse weltweit sichtbar und es entstehen wissenschaftlicher Austausch und ein Rückfluss an biographischen Informationen – von der individuellen Erinnerung bis hin zum Nachlass.


10. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Breiteres Wissen über die musikalischen Entwicklungen und Debatten der europäischen Zwischenkriegszeit, die wir bisher nur in vergleichsweise geringem Maß kennen, kann erheblich dazu beitragen, die Berührungsängste mit Musik des 20. Jahrhunderts abzubauen, die bei vielen Hörer:innen nach wie vor bestehen. Ihre Vorstellungen sind oft von der Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre abgeleitet, die das Bild von der Musik des 20. Jahrhunderts unverhältnismäßig stark geprägt hat – in Wirklichkeit war das Spektrum weitaus reicher.

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Ausgestellte Briefe und Korrespondenzkarte

Transkriptionen: Lösungen zur Mitmach-Station

Benjamin Ahl: Brief aus dem Exil in Bagdad 1939

Benjamin Ahl an das Far Eastern Jewish Central Information Bureau in Harbin

Bagdad, 8. August 1939

Quelle: Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, The Far Eastern Jewish Central Information Bureau (DALJEWCIB) – Personal files, DAL-455.

Transkription

BENJAMIN AHL                                                                            Bagdad, 8th August 1939

BAGDAD/IRAQ

CHORBACHI GARDEN 77/1/207

The Central Information Bureau „Daljewcib“

Harbin/Manchukuo

Dear Sirs,

The German Jewish Aid Committee (Overseas Department, Ref. No. 5200), London, Bloomsbury Street, after receiving information from the Manchukuo Committee, advises me to emigrate with wife and daughter to Harbin. I therefore hope that you kindly will give us every assistance possible. We are at the present practically without any nationality for the German Legation of this place has refused to prolong our passports; we could therefore travel with an Iraqian „laisser passer“.

I am violin professor, routined violinist and orchestra leader, firm in all music branches. My wife is cosmetist (Beauty culture for Ladies) and possesses a Diploma from Berlin.

The London committee has repeatedly assured me that you will be good enough and able to furnish me with all special informations [sic] required. I therefore beg to submit the following questions:

1. Are at Harbin openings for a capable violin professor, violinist & orchestra leader?

2. Are there already prominent violin teachers?

3. Has Harbin its own Broadcasting station, Academy of Music, University, concert halls etc.?

4. Are there good hotels, cafés, dancing halls, cabarets etc., in which Western orchestras are employed?

5. What is the approximate monthly salary of a musician employed in an etablissement of name?

6. Are there possibilities for a cosmetist?

7. Is the population of Harbin more or less free of anti-Semitism?

8. Does the climate of Harbin cause difficulties to Europeans?

I shall be thankful if you kindly would give me authentic informations [sic]. Thanking you in anticipation for every assistance, I beg to remain,

Yours very truly

Benjamin Ahl

P. S.
Should it be necessary to pass on the further correspondence through the intermediary of the Alliance Israelite Universelle, Bagdad, inform me please about, and I will do it in the future.

B. A.

Anmerkungen
Am oberen Rand des Briefes findet sich ein Eingangsstempel des Far Eastern Jewish Central Information Bureau in Harbin (Sept 3 1938) und die Fallnummer, die die Hilfsorganisation für Benjamin Ahl anlegte (5269).

Historisch-biographischer Hintergrund
Das 1918 gegründete Far Eastern Jewish Central Information Bureau (Kabeladresse Daljewcib) in Harbin half russisch-jüdischen Revolutionsflüchtlingen in Ostasien bei der Kontaktaufnahme mit Verwandten und der Weiterwanderung, vor allem nach Europa, Nord- und Südamerika. Ab 1933 kümmerte es sich auch um Hilfegesuche jüdischer Flüchtlinge aus dem Herrschaftsbereich des NS-Regimes. Zu diesen zählte der Berliner Geiger und Kapellenleiter Benjamin Ahl, der nach Exilstationen in den Niederlanden und Großbritannien im Jahr 1935 in den Irak (Bagdad) floh. Von dort aus suchte er Auskunft bezüglich der Ansiedlung in Mandschukuo (Harbin). Typisch für diese Art von Anträgen, stellte er seine musikalischen Fähigkeiten dem Informationsbüro gegenüber besonders vorteilhaft dar. So bezeichnete er sich etwa als „violin professor“, war aber tatsächlich nur Geigenlehrer. Eine Weiterwanderung nach Harbin ließ sich jedoch nicht realisieren. Ahl, seine Frau und seine Tochter wurden 1942 von den Briten über Palästina nach Afrika gebracht. In Kenia und Uganda lebte er viele Jahre in Internierungslagern bzw. nach 1945 in Displaced Person-Camps. Erst 1950 konnte er in die USA ausreisen. Gesundheitlich ruiniert, musste er dort seinen Beruf als Musiker aufgeben.

Benjamin Ahls Brief ist Teil einer Personenakte des Far Eastern Jewish Central Information Bureau, die zusammen mit rund 2.800 weiteren Akten dieser Art, darunter solche von weiteren rund 200 Musikern und Musikerinnen, in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem überliefert ist. Ahls Akte enthält auch die Korrespondenz, die auf seine Anfrage vom August 1939 folgte.

Leseempfehlung
Sophie Fetthauer: Musiker und Musikerinnen im Shanghaier Exil 1938–1949 (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 21, Peter Petersen (Hg.)), Neumünster: von Bockel, 2021 (Kapitel: „Flucht auf ‚eigenes Risiko‘ und ‚eigene Verantwortung‘. Die Informations- und Vermittlungsbemühungen des Far Eastern Jewish Central Information Bureau“, S. 91–155).

Text und Transkription: Dr. Sophie Fetthauer

Ernst Weißler: Brief aus dem Exil in Shanghai 1939

Ernst Weißler an seine Familie in Deutschland

Shanghai, 6., 7., 8., 9. und 10. Okt. [1939]
Quelle: Universitätsarchiv Halle-Wittenberg, Halle, Nachlass Familie Weissler, Rep. 112, Nr. 215

Transkription

Liebe Europäer! Gestern bekam ich Eure Briefe vom 6. und 8.IX und Deine Carte, Hunkepunke. Schön Dank auch für die Antwortscheine. Nun scheint also der Briefverkehr doch zu klappen. Ueber Holland habe ich schon kurz geschrieben. Jetzt schreibe ich Siberia. Man sieht ja, dass es gleichzeitig ankommt – wenigstens von dort nach hier. Der Daumen ist so gut wie richtig. Ich hatte nichts verheimlicht. Wir haben gestern und heute noch zum Abschluss der Feiertage gesungen und kriegen noch 3 Dollar. Wir haben wieder Wärme wie bei uns etwa Mitte August ein warmer Sommertag. So geht es hier schon fast 8 Tage. So einen October gibt es in Deutschland nicht. Ich leiste mir köstliche Laberwurst [sic], ¼ zu 35 Cent, auch zusätzliche Margarine zu 27 Cent das Viertel. So schlemme ich wahrhaftig. Ihr könnt das leider nicht. Vorgestern ass ich in einem chinesischen guten Local für 50 Cent ein köstliches reichhaltiges Gericht, als da war: ganz dünne Spag[h]etti, sehr schön mit Fett und Oel gebraten, zum Teil sogar angenehm schwarz bekrustet, darauf klein geschnittene Flei\s/chstücke, die sehr gut schmeckten, und dazu eine würzige schwarze Tunke. Es war IA. Das will ich öfter machen. Gerade so etwas ist es, was man braucht. Die Heimkost – so ehrenwert sie ist – kann auf die Dauer nicht ganz genügen. Auf meine 37 losgelassenen Werbebriefe hat sich sofort die Delconte-Bar gemeldet, ich soll mich vorstellen. Das tat ich vorgestern, traf eine kleine gemütliche Bar an mit einem nicht allzu schlechten Pianino, spielte einem gemütlich aussehenden Mann, der in Hemdärmeln erschien, den Krönungsmarsch aus ‚Prophet‘ [von Giacomo Meyerbeer] und dann nach Noten aus einem [Seite 2] englischen Notenbuch einen mir natürlich unbekannten Schlager vor, was ihn zufriedenstellte. Ich verlangte 150 Dollar im Monat, wogegen er keinen Einspruch erhob, nur muss er auf seinen ‚boss‘ warten – das ist „Chef“ – der am nächsten Tag aus America zurückerwartet wurde. Ich soll dann gleich Nachricht bekommen. Der Dienst dauert von ½ 6 Nachmittag bis 12 Nachts. Es verkehren da hauptsächlich englische Soldaten, Matrosen usw. Ich müsste also englische songs spielen. Ein Heft davon besitze ich schon. Die englische Verständigung mit dem Mann ging glatt. Abendessen würde ich geliefert bekommen. So anstrengend dieser Dienst sein mag – ich würde es sehr gern machen. – Nächster Tag: 7.X. Meinen Scheck habe ich noch nicht eingelöst wegen schlechten Kurses. Montag 9.X bin ich zum Geburtstag eingeladen bei meiner Bordfreundin Herzfeld, Abend 8 Uhr. Zu Marie Steinmann gehe ich demnächst. Der Rückweg ist Nachts erschwert, weil der eine Bus nicht mehr fährt. Ich muss ein langes Ende zu Fuss gehen. Heute ist es heiss und schwül, obwohl etwas Wind. Es ist Hochsommer nach unsern Begriffen. Eben kommt Hunkepunke’s Carte – vielen Dank und besten Glückwunsch für Hans Robert. – 8.X. Wieder Hochsommer. Die Hitze ist aber erträglich. Gestern Abend lieferte das Heim uns je 2 Eier und Margarine. Michalek hat unter Zufügung einer Zwiebel für 2 Cent ein schlemmerhaftes Eierhäckerle für uns Beide bereitet. Wir leben wirklich hier besser als wir es jenseits des Ural haben könnten. Wäre nicht die Sorge um Euch – wir könnten glücklich sein. Dass Grete Hirschfeld in Holland bleit, freut mich gar zu sehr. Michalek sagt, es seien Leute aus Kempen hier. Die will ich mir vorstellen lassen. – 9.X. Gestern kaufte ich Grieven  [Grieben] für 15 Cent und drittmalig die köstliche Laberwurst, Beides reichte zu Abend und früh. Doch ich will Euch nicht neidisch machen. Heute ist es wie in Berlin an einem angenehm warmen Sommertag etwa Mitte August. Um ½ 6 [Seite 3] früh ist es schon hell. Ich frühstücke reichlich Margarine, Grieven und köstliche Laberwurst, gehe in die Englische Stunde, lasse mich rasieren und fahre in die Stadt und lasse mir bei der Nationalcity bank New York mein 67 Dollar-Conto anlegen, hebe aber noch nichts ab, da ich noch etwa 7 Shanghai-Dollar und 1 USA Dollar habe. Ich verlasse die Bank im Hochgefühl, nun ein reicher Mann zu sein. Da ich nun mal in der Stadt bin, gehe ich essen in dasselbe chinesische Local, in dem ich vor einigen Tagen so schlemmerhaft für 50 Cent gegessen hatte. Jetzt bestelle ich das Menü zu 5 Gängen für 75 Cent und bekomme 1 Scheibe sehr weiches, aber schönes Weissbrot mit Butter, dann eine ganz köstlich schmeckende Hühnersuppe mit Fleisch drin, dann Hummer, jawohl: Hummer in braunroter Krebstunke – Hummer ist mein Ideal! – dann Reis mit Fleischstückchen und Tunke IA, dann ein kleiner, guter, fester Gries[s]pudding mit Fruchtsaft, endlich eine Tasse Caffee, die auch IA gewesen wäre, wenn sie nicht gar zu viel Süssigkeit gehabt hätte. Dies Essen war denn doch der Höhepunkt des Schlemmens einerseits, der Billigkeit andrerseits. Mit Thee zusammen kostete es 83 Cent, wie Ihr aus beiliegender Rechnung ersehen möget. Das andere Papier ist eine der 3 dort gelieferten Papierservietten, die in Shanghai viel teurer sind als in Berlin. Gut, dass ich so viel hierher mitbrachte. Einer unsrer Quartettsänger von den Feiertagen will bei mir gegen Bezahlung Gesangstunde nehmen, Preis noch unbestimmt. Heute Abend gab es im Heim Pellkartoffeln [erstmalig!] mit Margarine und Semmeln – sehr gut. ‚Abend‘ bedeutet hier ½ 5. Viele Grüsse allseits

Ernst.  10.X früh

 

Anmerkungen
Am unteren Rand von Seite 3 des Briefs findet sich ein von den Briefempfängern handschriftlich notiertes Eingangsdatum (angek. d. 28.10.) und eine vermutlich aus der Nachkriegszeit stammende Datierung des Briefs (1940). Letztere Einordnung ist jedoch nicht richtig, da der Hinweis auf den verletzten Daumen in einem Zusammenhang mit einem Brief vom Juli 1939 steht. Eine weitere handschriftliche Datierung am linken Rand von Seite 1 des Briefs (1939) bestätigt dies.

Die in dem Brief erwähnte Beilage einer Restaurantquittung und einer Papierserviette ist nicht erhalten geblieben.

Historisch-biographische Einordnung
Ernst Weißler floh 1939 von Berlin nach Shanghai. Seit 1937 waren die Außenbezirke der Stadt von der japanischen Armee besetzt, 1941 erfolgte im Zuge des Angriffs auf Pearl Harbor die vollständige Okkupation. Weißler ließ in Berlin unter anderem seine nicht als Jüdin verfolgte Schwägerin Hanna Weißler zurück. Sie war die Witwe seines 1937 im Konzentrationslager Sachsenhausen als Vertreter der Bekennenden Kirche ermordeten Bruders Friedrich Weißler. Bis zu seiner Remigration um den Jahreswechsel 1949/50 nach Westdeutschland schrieb er, sofern der Postverkehr dies erlaubte, regelmäßig Briefe aus Shanghai und in der Nachkriegszeit zeitweise aus Beiping/Beijing an seine Schwägerin sowie weitere Familienmitglieder und Freunde in Deutschland und verschiedenen Exilländern. Knapp 40 dieser Briefe sind im Nachlass der Familie im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg erhalten geblieben. Sie reflektieren vielfältige Strategien der Beruhigung, etwa in Bezug auf die Unterkünfte, die Verpflegung, den Gesundheitszustand und die Spielfähigkeit als Pianist, wie auch der Beglaubigung. Die erwähnten Briefbeilagen, eine Serviette und eine Restaurantrechnung, verifizierten gewissermaßen seine Erzählung. Sie stellten darüber hinaus eine Form der materialen Präsenz her, da die Verwandten etwas anfassen konnten, was er in der Hand gehabt hatte. Alle weiteren Briefe sind voll von solchen Schreibstrategien, wobei Zitate aus Opern und Berichte über musikalische Aktivitäten eine besondere Rolle bei der Herstellung eines Präsenzmodus durch Erinnerung spielen. Zugleich offenbaren die Briefe einen weitgehenden Anpassungsprozess Weißlers an die Verhältnisse, insbesondere an die Repertoirewünsche des Shanghaier Publikums

Leseempfehlung
Sophie Fetthauer: „Hier muß sich jeder allein helfen“. Paula, Josef und Frieda Fruchter: Briefe einer Wiener Musikerfamilie aus dem Shanghaier Exil 1941–1949 (= Musik im Exil und im „Dritten Reich“, Bd. 22, Peter Petersen (Hg.)), Neumünster: von Bockel, 2024.

Text und Transkription: Dr. Sophie Fetthauer

Elsa Schiller: Karte Ghetto Theresienstadt 1944

Elsa Schiller an Anna Berg [Julia-Lotte Stern] in Berlin

Ghetto Theresienstadt, 24. August 1944
Quelle: Privatsammlung Sabine Utsch, Frankfurt am Main

Transkription

Meine Allerbeste, – glücklich über Eure Nachrichten vom 20. danke ich Coru aus übervollem Herzen, wenn er Dich dem Leben wiedergegeben hat. Da er Dein Freund ist, ist er auch rückhaltlos der meine, – Ich selbst bin reifer und klarer geworden und sehe Deinen und meinen Weg klar vorgezeichnet. Mit einigen lieben Menschen bin ich viel zusammen. – Gestern habe ich das erstemal öffentlich gespielt; eine [Franz] Schubert Stunde, in der ich ein Impromptu, zwei Moments [musicaux] und ein Scherzo gespielt habe und einen Sänger und eine Sängerin begleitete. In zwei Wochen spiele ich weitere sechsmal; dreimal [Wolfgang Amadeus] Mozart und dreimal [Robert] Schumann. Ich arbeite täglich für mich und denke dabei sehnsuchtsvoll an längst verklungene Zeiten. – Ich denke an Euch und lebe mit Euch.

Eure Else

Anmerkungen
Bei der Adresse „Frau / Anna Berg / bei Berger / Berlin C2 / Schillingstrasse 26“ handelt es sich um eine Deckadresse für Julia-Lotte Stern, die als „Halbjüdin“ ebenfalls der Verfolgung durch das NS-Regime ausgesetzt war und keine offenen Kontakte ins Ghetto Theresienstadt pflegen wollte.

Der Absender der Korrespondenzkarte lautet „Elsa Schiller / Theresienstadt/Protektorat / Post Bauschowitz / Westgasse 8“. Über den 2,5 km entfernten Ort Bauschowitz (Bohušovice nad Ohří) war das Ghetto Theresienstadt seit 1943 an die Bahngleise angeschlossen.

Ein Stempel klärt zudem über Antwortmöglichkeiten auf: „ANTWORT NUR AN DIE / REICHSVEREINIGUNG DER JUDEN / IN DEUTSCHLAND BERLIN N 65 / IRANISCHE STR. 2“

Historisch-biographische Einordnung
Die Pianistin Elsa Schiller siedelte sich nach ihrer Ausbildung in Budapest und Dresden in den 1920er-Jahren in Berlin an. Mit der Altistin Julia-Lotte Stern nahm sie in der Folge eine vielfältige Konzerttätigkeit in Deutschland und im Ausland auf. Zudem veranstalteten sie in Berlin gemeinsame Konzerte mit ihren Klavier- und Gesangsschülern und -schülerinnen. Elsa Schiller wurde 1943 zunächst im Sammellager in der Großen Hamburger Straße in Berlin inhaftiert und dann in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Mithilfe von – durch die Zensur überwachten – Korrespondenzkarten hielt sie Kontakt mit Julia-Lotte Stern, die ihren Schreibstil wohl verstanden haben dürfte: Bei Coru handelt es sich um Cornelis Van Dijk, einen Gesangsschüler Julia-Lotte Sterns, den sie in der Nachkriegszeit heiratete. Zu den „lieben Menschen“, mit denen Elsa Schiller im Ghetto Theresienstadt zusammenkam, gehörte auch die Schwester von Julia-Lotte Sterns nach Schweden geflohenem Verlobten Bruno Osmund, Susanne von Bolton, geb. Goldschmidt, die im Mai 1944 verstarb. Mit dem Hinweis auf „längst verklungene Zeiten“ könnte sie frühere gemeinsame Konzerte in Berlin gemeint haben. Elsa Schiller, die sich im Ghetto Theresienstadt als Pianistin am Kulturleben beteiligte, wie dieses und andere Dokumente zeigen, überlebte die Ghettohaft. Sie arbeitete in der Nachkriegszeit unter anderem in Berlin für den US-amerikanischen Radiosender RIAS, bevor sie in den 1950er Jahren Produktionsleiterin der Deutschen Grammophongesellschaft zunächst in Hannover und dann in Hamburg wurde. Dort war sie maßgeblich für den Repertoireaufbau der Schallplattenfirma verantwortlich.

Die Korrespondenzkarte ist zusammen mit weiteren Schriftstücken aus dem Ghetto Theresienstadt in der Familie Julia-Lotte Sterns überliefert.

Text und Transkription: Dr. Sophie Fetthauer

Weitere Informationen

Zum Projektflyer

Zur Projekthomepage

Kurzinterview der Akademienunion mit Prof. Dr. Friedrich Geiger, Februar 2025

Pressemitteilung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg vom 25. November 2024 zum Projektstart: Neues Forschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ ab Januar 2025

Zum Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM) ➤  https://www.lexm.uni-hamburg.de/​​​​​​​

Interviews zum Hören

• Detektor.fm, Podcast Forschungsquartett | NS-Verfolgung und Musikgeschichte: „Wir müssen die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts rekonstruieren“, 25. September 2025

• Interview auf SWR Kultur, 27. Januar 2025

Interview im BR, Klassik aktuell, 27. Januar 2025

Kontakt

Projekt NS-Verfolgung und Musikgeschichte

Institut für Historische Musikwissenschaft
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg

Ansprechpartnerin:
Dr. Sophie Fetthauer
E-Mail: sophie.fetthauer(at)uni-hamburg.de
Telefon: +49 40 42838 9539

Tamilex

Erstellung eines elektronischen Korpus und eines historischen Wörterbuches der klassischen tamilischen Literatur

Leitung: Prof. Dr. Eva Wilden

Laufzeit: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2046

WORUM GEHT ES IN DEM PROJEKT?

TAMILEX erforscht Gedichte und Texte in der südindischen Sprache Tamil, die über 2000 Jahre alt sind. Sie erzählen von Liebe, Heldentaten, Alltag und Glauben, dabei weichen sie sprachlich stark vom heutigen Tamil ab. Diese Dichtung zählt zu den ältesten literarischen Werken der Welt, ist im Westen aber kaum bekannt. Zum ersten Mal entsteht ein historisches Wörterbuch, das mit einer digitalen Textsammlung und Bildern alter Manuskripte verknüpft ist. 

WAS MACHT DIESE FORSCHUNG SO WERTVOLL?

Die Gedichte zeigen Gefühle und Gedanken, die bis heute berühren. Sie bieten tiefe Einblicke in menschliche Erfahrungen – über Zeit und Kulturgrenzen hinweg. Das Wörterbuch hilft, die komplexe Sprache besser zu verstehen und bewahrt Wissen für kommende Generationen. So bleibt die Welt der alten Tamil-Dichtung lebendig und zugänglich. 

WIE HILFT MODERNE TECHNIK DABEI?

Wir nutzen zum Beispiel UV- oder Infrarotlicht, um verblasste Buchstaben in beschädigten Manuskripten wieder sichtbar zu machen – Zeichen, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Außerdem experimentiert das Projekt mit KI-gestützter Entzifferung von Handschriften, um die Auswertung zu beschleunigen. Dadurch können Texte leichter erforscht, digital gesichert und weltweit zugänglich gemacht werden. 

WELCHE NEUEN PERSPEKTIVEN ENTSTEHEN?

Die Sprache der alttamilischen Poesie hat sich im Laufe der Zeit verändert. Das Wörterbuch zeigt, wann und wie bestimmte Wörter verwendet wurden und wie ihre Bedeutung sich wandelte. Alle Begriffe sind direkt mit Textstellen verknüpft, die wiederum zu den originalen Handschriftenbildern führen. So lässt sich Sprache direkt an ihren historischen Quellen nachvollziehen – ein Fenster in die Vergangenheit, das allen zur Verfügung steht.

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Fragebogen zur Arbeit des Projekts

1. Was können wir aus der Erforschung der Vergangenheit für die Zukunft lernen, ableiten, zur Verfügung stellen?

Das Tamilex-Projekt erstellt zum ersten Mal ein historisches Wörterbuch des klassischen Tamil (Open Access), das mit einem elektronischen Korpus und Manuskriptbildern verbunden ist. Der Korpus besteht aus einigen der schönsten Gedichte, die in der antiken Welt verfasst wurden, zu Themen des täglichen Lebens, der Liebe, des Krieges und der Hingabe, und er ist seit langem als eine tiefe Quelle der Einsicht in die menschliche Psychologie anerkannt: unsere Sehnsüchte, unsere Ausdrücke des Kummers, unsere Ängste für die Zukunft. Diese Einsichten sind auch heute noch sehr wirkungsvoll und werden zweifellos auch bei den kommenden Generationen noch Nachhall finden.

2. Wie verändert die Digitalisierung Ihren Forschungsbereich?

Dank der jüngsten Fortschritte in der digitalen Bildgebungstechnologie können wir Manuskripte deutlicher als je zuvor lesen. Die multispektrale Bildgebung enthüllt Schriften, die im Laufe der Zeit verblasst sind. Darüber hinaus können Techniken wie die Röntgenbildgebung Aufschluss über die Materialien geben, die zum Beschreiben von Manuskripten verwendet wurden, und uns Hinweise darauf geben, wo und wie sie hergestellt wurden. Und die Fortschritte der KI bei der optischen Zeichenerkennung können uns helfen, Bücher und Manuskripte schneller und genauer als je zuvor zu digitalisieren.

3. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihre Arbeit für andere?

Die Sprache der alttamilischen Poesie ist noch immer nicht vollständig verstanden und hat sich im Laufe der Zeit verändert. Durch die Verknüpfung des Wörterbuchs mit dem Korpus können wir jedes Vorkommen eines jeden Wortes ganzheitlich untersuchen und verfolgen, wie sich sein Gebrauch und seine Bedeutungen entwickeln. Und durch die Verknüpfung des Korpus mit Manuskriptbildern schaffen wir eine transparente Verbindung zwischen dem Wörterbuch und den einzigen uns erhaltenen materiellen Quellen für diese Wörter ― von der digitalen zur physischen Welt.

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Weitere Informationen

Zum Projektflyer

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Zum Projektfilm

Zum Projektfilm mit DGS-Synchronisation

Portrait des Tamilex-Langzeitvorhabens auf Tamilisch mit Filmaufnahmen vom Team der Deutschen Welle im Sommer 2023

Schon gewusst, dass immer weniger Menschen das klassische Tamil beherrschen?
(Akademienunion-Reihe)

Pressemitteilung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg vom 18. Januar 2023 zum Projektstart:
"Forschungsprojekt 'Tamilex' erstellt erstes historisches Tamil-Wörterbuch"

Pressemitteilung der Universität Hamburg vom 9. Dezember 2022 zum Projektstart:
"Elf Millionen Euro Förderung. An der Universität Hamburg entsteht das erste historische Tamil-Wörterbuch"

Interview

Eva Wilden gibt Einblicke in ihr Forschungsgebiet und in das „Tamilex”-Projekt, das ebenso international wie digital konzipiert ist.

Gespräch mit Prof. Dr. Eva Wilden lesen

Kontakt

Projekt Tamilex

Abteilung für Kultur und Geschichte Indiens und Tibets
Universität Hamburg
Alsterterrasse 1
20354 Hamburg

Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Eva Wilden
E-Mail: eva-wilden(at)uni-hamburg.de
Tel.: +49 40 42838 6269

Das Akademienprogramm

Kulturelles Erbe erforschen und bewahren

Im Akademienprogramm erschließen Forschende seit über 40 Jahren zentrale Texte, Sprachen und Traditionen. Ziel ist es, das kulturelle Erbe zu dokumentieren, zu sichern und für alle zugänglich zu machen – national und international. Diese Grundlagenforschung hilft, die Vergangenheit zu verstehen und die Zukunft besser zu gestalten.

Das Programm wird gemeinsam von Bund und Ländern finanziert und von der Akademienunion koordiniert. Acht Wissenschaftsakademien sowie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina führen derzeit über 120 Langzeitforschungsprojekte durch.

Die Langzeitforschungsprojekte entwickeln unter anderem Lexika und Wörterbücher, Editionen und digitale Plattformen. Sie sind gleichermaßen für die Wissenschaft und für die Öffentlichkeit zugänglich. So machen die Projekte das historische Wissen in Gegenwart und Zukunft greifbar.

Mit seiner langfristigen Ausrichtung ist das Akademienprogramm weltweit einzigartig und trägt durch internationale Zusammenarbeit dazu bei, das kulturelle Erbe der Menschheit grenzüberschreitend zu erforschen und zu erhalten.

ZAHLEN 2025:

• 127 Projekte

• über 900 Mitarbeitende

• 20 Wörterbücher

• 104 Editionen

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Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg wurde 2005 gegründet.

Unter dem Motto „Wissenschaften verbinden“

• fördert die Akademie den Austausch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft

• leistet die Akademie einen wesentlichen Beitrag zur Information der Öffentlichkeit über wissenschaftliche Erkenntnisse

• bietet die Akademie Orientierung in schnelllebigen Zeiten

• sorgt die Akademie für Impulse, die weit über den norddeutschen Raum ausstrahlen.

Der Akademie gehören rund 150 führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie etwa 20 ausgezeichnete Young Academy Fellows aus der Wissenschaftsregion Norddeutschland an. Das Einzugsgebiet umfasst Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Der Grundhaushalt der Akademie wird von der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert.

DIE AKADEMIE

• betreibt Langzeitforschung im Akademienprogramm

• entwickelt digitale Methoden für die Geisteswissenschaften

• ermöglicht interdisziplinäre Zusammenarbeit in Arbeits- und Projektgruppen

• fördert junge Forschende mit Programmen und Preisen

• veröffentlicht Forschungsergebnisse

• kooperiert mit Forschungseinrichtungen in Norddeutschland

• baut internationale Netzwerke auf

• lädt zu öffentlichen Veranstaltungen und zum Dialog ein

• vermittelt wissenschaftliche Inhalte

• informiert politische Gremien

• vergibt den Hamburger Wissenschaftspreis.

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Bilder Ausstellung zur Langzeitforschung in Hamburg