"Zeugnisse alter Traditionen, die immer noch die Gegenwart prägen"

Der Philologe Alessandro Bausi ist Professor für Äthiopistik an der Universität Hamburg und leitet außerdem seit 2016 das Akademie-Langzeitforschungsvorhaben Die Schriftkultur des christlichen Äthiopiens und Eritreas: Eine multimediale Forschungsumgebung, das im Rahmen des Akademienprogramms gefördert und von der Akademienunion koordiniert wird. Seit Sommer 2019 ist er zudem Ordentliches Mitglied unserer Akademie. Sein Forschungsschwerpunkt ist die philologische Erforschung der handschriftlichen, literarischen und linguistischen Überlieferungen der semitischen äthiopisch-eritreischen Kulturen der Antike, der Spätantike und des Mittelalters. In unserem Kurzinterview spricht er über seine Forschung.

Sie arbeiten mit Ihrem Forscherteam an ganz besonderen Dokumenten aus Äthiopien und Eritrea. Um was handelt es sich genau?

Äthiopien und Eritrea haben eine alte, noch lebende Schriftkultur, die in ihren frühesten Formen in die Antike und christliche Spätantike zurückgeht. Mehrere Tausend Handschriften, Schriftrollen, Leporellos und Kodizes und eine Reihe von Inschriften dokumentieren diese reiche Tradition, die uns insbesondere aus dem späten Mittelalter, der Moderne und als lebende Tradition bis in die Gegenwart bekannt ist. Ein kleiner, aber wichtiger Teil (ca. über 20.000) dieser Handschriften und Artefakte ist nicht nur in Äthiopien, sondern auch in Bibliotheken Europas und der Vereinigten Staaten zu finden, u. a. in der Form von Digitalisaten oder Mikrofilmen.

Welche neuen Einblicke und Erkenntnisse können uns die überlieferten Handschriften über das kulturelle Erbe der Region geben?

Jede Handschrift ist einzigartig und beinhaltet tatsächlich eine kleine Welt in sich. Auf Pergament erzählen sie uns heute von der religiösen, literarischen und materiellen Geschichte der Region. Sie sind Zeugnisse alter Traditionen, die immer noch die Gegenwart prägen und gemeinsame Wurzeln auch mit der europäischen Kultur haben. Im Langzeitforschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg arbeiten wir daran, diese Schriftstücke zu beschreiben und digital zugänglich zu machen. Manuskripte und Artefakte, die überall auf der Welt in Bibliotheken und Archiven liegen, können so an einem zentralen Raum verortet, auch online durchsucht und durchblättert werden.

Das Akademienprogramm feiert dieses Jahr 40-jähriges Bestehen. Worin sehen Sie die Stärken des Akademienprogramms für Ihre Forschung?

Das Akademienprogramm bietet, insbesondere in den Geisteswissenschaften, eine unersetzliche Möglichkeit, wesentliche und bahnrechende Grundlagenforschung mit langfristigen Zielen auszuführen. Diese langfristige Perspektive, mit der erforderlichen Nachhaltigkeit kombiniert, macht aus den Projekten im Akademienprogramm echte wissenschaftliche Plattformen, die nicht nur national, sondern auch europaweit und manchmal auch weltweit, wie bei unserem Forschungsprojekt, eine führende Rolle spielen können.

Das Interview führte Catherine Andresen.

Veröffentlicht am 12. Dezember 2019