„Tamilex“: Das literarische Erbe der Tamilen bewahren mit „brauchbarer Benutzeroberfläche“

Prof. Dr. Eva Wilden im Gespräch

Seitdem sie als Studentin tamilische Liebesgedichte gelesen hat, fasziniert Akademiemitglied Prof. Dr. Eva Wilden diese Sprache. Sie hat europaweit die einzige Professur für klassisches Tamil an der Universität Hamburg inne. Jetzt leitet die Expertin für die Kultur und Geschichte Indiens und Tibets zudem das Langzeitvorhaben „Tamilex”. Das Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften hat im Januar 2023 begonnen und wird in Kooperation mit der Universität Hamburg durchgeführt. Das literarische Erbe der Tamilen zu bewahren ist das Ziel von „Tamilex“.

Im Gespräch gibt Eva Wilden Einblicke in ihr Forschungsgebiet und in das „Tamilex”-Projekt, das ebenso international wie digital konzipiert ist.

Etwa 76 Millionen Menschen sprechen Tamil als Muttersprache – vor allem in Südindien und Sri Lanka. Inwiefern unterscheidet sich die Alltagssprache dabei von der Schriftsprache, also dem klassischen Tamil?

Tamil blickt zurück auf eine über zweitausendjährige Geschichte der Diglossie, also einer Situation, in der die gesprochenen Dialekte und die geschriebene „Hochsprache“ so weit auseinanderklaffen, dass beide getrennt voneinander erlernt werden müssen. Für die heutige Zeit sprechen manche sogar von „Triglossie“. Es gibt also eine Dreisprachigkeit. Auf der einen Seite ist da die gesprochene Sprache; sie ist heute viel mehr standardisiert als früher durch Einflüsse von Fernsehen und Kino. Auf der anderen Seite gilt die geschriebene Sprache als das moderne Hochtamil. Dieses sogenannte „platform Tamil“ wird auch bei öffentlichen Anlässen wie zum Beispiel bei wissenschaftlichen Vorträgen benutzt. Und, weniger präsent, gibt es natürlich noch die alte Literatursprache als Vorläuferin der heutigen Schriftsprache. Eine vergleichbare Situation finden wir in Europa etwa beim Griechischen.

Wie viele Menschen können das klassische Tamil noch lesen (und bis zu welchem Verständnisgrad)?

Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Die Bildungselite und die akademischen Kreise kennen das klassische Tamil nicht mehr gut, weil die Prioritäten sich in den letzten hundert Jahren sehr stark gewandelt haben und Tamil in höherer Bildung und Ausbildung kaum mehr eine Rolle spielt.

Verständnis für klassisches Tamil rückläufig

Es mag aber weiterhin, vor allem in den abgelegeneren ländlichen Regionen, traditionelle Familien geben, die die alte Lehr- und Lesetraditionen fortführen, die also mehr oder weniger monolingual auf Basis von klassischem Tamil gebildet sind.

Fest steht: Immer weniger Menschen verstehen das klassische Tamil. Welche Faktoren befördern diese Entwicklung?

Ein bedeutender Faktor ist natürlich das Schulsystem, das im Wesentlichen auf Englisch und in geringerem Grade auf Hindi umgestellt ist. Viel wichtiger noch aber ist der Trend, alte Werte umzuwerten; das ist uns ja auch in Europa bestens vertraut. Auch hier lernen die Kinder in der Schule kein Latein mehr oder nur noch ausnahmsweise. Der erhebliche Zeitaufwand, der notwendig ist, um eine komplexe klassische Sprache zu erlernen, wird heute nicht mehr als gerechtfertigt betrachtet. Niemand hat Zeit für etwas, das nicht nutz- oder gewinnbringend ist im materiellen Sinne, sondern einfach nur schön.

Die frühen poetischen Anthologien des klassischen Tamil reichen zurück bis an den Beginn unserer Zeitrechnung. Sie haben zum literarischen Erbe der Menschheit beigetragen. Welche Texte sind hier besonders hervorzuheben?

Die beiden eindrücklichsten und für den Außenstehenden etwas leichter zugänglichen Texte sind vielleicht das „Kuṟuntokai“, die „kurze Sammlung“ mit Liebesgedichten, und das „Puṟanāṉūṟu“, die „Vierhundert“ über die großen und kleinen Königreiche. Leider ist so gut wie nichts ins Deutsche übersetzt. Das ist auch einer meiner längerfristigen Pläne.

Alte Anthologien des klassischen Tamil Schlüsselwerke für eine ganze Kultur

Für eine Reihe von Jahrhunderten sind die alten Anthologien bis auf ein paar sehr kurze Inschriften die einzigen Quellen, die es erlauben, eine ganze Kultur zu erschließen. Diese Kultur gleicht in manchen Punkten frühen nordindischen Kulturen. In vielerlei Hinsicht sind diese Anthologien des klassischen Tamil aber auch überraschend und einzigartig.

Was kennzeichnet die Poesie des klassischen Tamil? Welche Stoffe und Erzählweisen?

Die wichtigste frühe Genre-Unterteilung ist die in Akam und Puṟam, Innen und Außen, das heißt, es gibt Gedichte über Gefühle, also Liebesgedichte, und Gedichte über König- und Heldentum. Das sind die alten Anthologien wie oben erwähnt. Später kommen dann Lebensweisheit und epische Texte hinzu, sowie die frühen devotionellen Traditionen, die durchaus an manche Mystiker des europäischen Mittelalters erinnern. Anders als die meisten europäischen Traditionen sind fast alle indischen Literaturformen stark durch Konventionen geprägt. Die dichterische Leistung wird also nicht an der individuellen Schöpfungskraft bemessen, sondern mehr am Geschick und der Eleganz, mit der trotz einengender Vorgaben Neues und Überraschendes gesagt werden kann.

Das neue Langzeitvorhaben „Tamilex“ wird dafür sorgen, das literarische Erbe der Tamilen zu bewahren. Das erste historische Wörterbuch entsteht – zweisprachig auf Tamil und Englisch. Welche Vorarbeiten sind dafür notwendig?

Die Vorarbeiten laufen bereits seit 20 Jahren. Dank vorhergehender Projekte ist es möglich gewesen, einen großen Fundus von Manuskriptbildern, elektronischen Texten und kritischen Editionen mit Konkordanzen aufzubauen. Ich denke da an das „Caṅkam“-Projekt an der Ecole Française d’Extrême-Orient in Pondicherry, wo ich viele Jahre lang gelebt habe. Auch mein Forschungsprojekt, gefördert vom Europäischen Forschungsrat, das ERC Advanced Grant „NETamil“ und das auslaufende ANR-DFG-Projekt „Texts Surrounding Texts“ haben zur Vorbereitung von „Tamilex“ beigetragen.

Die ersten Jahre war es noch möglich, mit Pandits, also traditionellen einheimischen Gelehrten wie T.V. Gopal Iyer zu arbeiten, aber die letzte Generation solcher Pandits ist inzwischen ausgestorben. Dank der ebenfalls seit 20 Jahren stattfindenden „Classical Tamil Winter / Summer Seminars“ ist es aber nicht nur möglich gewesen, ein internationales Team an verbleibenden Experten zusammenzubringen, sondern auch eine junge Generation heranzuziehen, die jetzt im Projekt Stellen übernehmen kann. Eine Reihe dieser jungen Leute sind Tamil-Muttersprachler.

Dank junger Forscher:innen-Generation „Tamilex“-Ziele erreichen

Ohne die umfangreichen Vorarbeiten wäre es nicht möglich, innerhalb von 24 Jahren ein historisches Wörterbuch für eine komplexe alte Sprache mit umfangreicher Literatur zu erstellen. Da das elektronische Textkorpus im Wesentlichen schon besteht, können wir uns ganz auf die lexikographische Arbeit konzentrieren. Und was ebenso wichtig ist: In diesem Prozess trainieren wir eine junge Generation in den Feinheiten.

Sie sind schon lange spezialisiert auf die klassische tamilische Literatur und haben europaweit die einzige Professur für klassisches Tamil an der Universität Hamburg inne. Woher rührt Ihre Faszination für das klassische Tamil?

Als ich Studentin der klassischen Indologie und des Sanskrits in Hamburg war, gehörte eine moderne indische Sprache zum Pflichtcurriculum. Ich habe mich damals entschlossen, Tamil statt Hindi zu lernen. Damals drückte mir mein Tamil-Professor S.A. Srinivasan zum ersten Mal einen Band mit Übersetzungen von frühen tamilischen Liebesgedichten in die Hand, die berühmte „Interior Landscape“ von A.K. Ramanujan. Das hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen. Ich habe dann meine Habilitation über eine der alten Anthologien, das „Kuṟuntokai“, die Sammlung der kurzen Gedichte geschrieben, und dieses Buch führte dann geradewegs in das erste Projekt der kritischen Re-Editionen.

Wer gehört zum „Tamilex“-Team?

Mit Dr. Jean-Luc Chevillard (CNRS) haben wir in Hamburg bereits den größten Spezialisten der tamilischen
Grammatik. Dazu kommt ein großes Team der École française d’Extrême-Orient im indischen Pondicherry, eine Zusammenarbeit mit dem Südasien-Institut der Universität Heidelberg sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Paris, Budapest, Krakau, Oxford, Chicago und Montréal. Hamburg wird ein Knotenpunkt sein, an dem viele Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler zusammenkommen. Zugleich hat das „Tamilex“-Projekt den Charakter einer Zentrale für hybride Kollaboration. Also viele Arbeitsschritte passieren im digitalen Raum.

Apropos Digitalisierung: Welche wissenschaftlichen Herausforderungen erwarten Sie mit Blick auf den elektronischen Korpus, der im Rahmen von „Tamilex“ entsteht?

Die größte wissenschaftliche Herausforderung wird die Zusammenarbeit mit der Informatik sein. Im Moment haben wir ein Sammelsurium von Bruchstücken: Manuskriptbilder, Katalogeinträge, Texte in verschiedenen Formaten und unterschiedlichen Stufen der Aufbereitung, kritische Apparate, Übersetzungen, Konkordanzen, Wortlisten. Daraus muss ein funktionierendes Ganzes mit brauchbarer Benutzeroberfläche werden.

Von der Herausforderung, digital Forschungsergebnisse aufzubereiten

Ein weiteres wichtiges Problem ist die Standardisierung. Wir müssen Konventionen entwickeln, an die sich alle nicht nur halten müssen und wollen, sondern die auch längerfristig über technische Neuerungen hinaus Bestand haben können.

Auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hoffen Sie?

Die große Faszination unserer Arbeit wird darin liegen, die Entstehung und Entwicklung einer literarischen Sprache beobachten zu können. Stellen Sie sich den Südzipfel von Indien vor 2000 Jahren vor: Ein riesiges, schwer zugängliches Gebiet mit unzähligen Dialekten, in dem Dichter und Musiker zu Fuß von Hof zu Hof ziehen und ihren Lebensunterhalt mit ihrer Kunst verdienen. Das absolut Erstaunliche ist, dass auf diese Weise tatsächlich eine literarische Hochsprache entstanden ist, die sich aus lokalen und regionalen Elementen speist, aber sehr selektiv damit umgeht. Die Feinheiten dieses Prozesses lassen sich anhand der vorhandenen Hilfsmittel nur ganz annähernd vermuten. Wir aber werden in der Lage sein, die Details zu beschreiben.

Das Interview führte Dagmar Penzlin.

Veröffentlicht am 16. Januar 2023