Das Individuum und die Gruppe – Freiheit, Solidarität und sozialer Zwang im frühen Mittelalter

Was ist Freiheit und was heißt es, frei zu sein? Diese Frage stellt sich uns heute wie den Leuten damals im Mittelalter.
Essay von Philippe Depreux, 25. Dezember 2024

Abb. 1: Illustrierung von Ps. 18,3 "Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Retter, mein Gott, meine Feste, in der ich mich berge, / mein Schild und sicheres Heil, meine Zuflucht." (Stuttgarter Psalter, Württembergische Landesbibliothek)
Abb. 1: Illustrierung von Ps. 18,3 "Herr, du mein Fels, meine Burg, mein Retter, mein Gott, meine Feste, in der ich mich berge, / mein Schild und sicheres Heil, meine Zuflucht." (Stuttgarter Psalter, Württembergische Landesbibliothek)

Freiheit ist ein sehr schätzenswertes Gut in unserer Gesellschaft, was selbstverständlich nicht heißt, dass sie nicht jeden Tag zu überdenken ist: Laut Artikel 5 des Grundgesetzes, Absatz 3 verfügen beispielsweise Hochschuldozenten und Hochschuldozentinnen über völlige Freiheit in Forschung und Lehre („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“), was aber nicht heißt, dass diese Freiheit absolut ist, denn sie „entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“.[1] Dabei spielt auch eine gewisse Akzeptanz seitens der Gesellschaft, der Fachwelt oder der potenziellen Geldgeber eine Rolle – wenn nicht de jure so doch de facto. Der Spagat zwischen individueller Freiheit und sozialen Erwartungen stellte sich gestern in anderer Form als heute dar, aber prinzipiell erfordert die Berücksichtigung dieser beiden gesellschaftlichen, zum Teil im Widerspruch stehenden Ansprüche immer wieder eine neue Abwägung möglicher Handlungsspielräume. Inwiefern spielten vor tausend Jahren rechtliche, wirtschaftliche und soziale Parameter eine entscheidende Rolle?

Gesamtheit und Einzelne

Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum ist eine Grundfrage der Soziologie,[2] aber auch der Geschichtswissenschaft. Angesichts der Tatsache, dass Familie, Sippe und Gruppen sonstiger Art (wie Klostergemeinschaften oder Gilden) im Mittelalter eine entscheidende Rolle spielten,[3] wurde in der Mediävistik gefragt, ob es für die ältere Zeit überhaupt möglich ist, von einer Einzelperson als Akteur in der Gesellschaft zu sprechen. So entstand die inzwischen widerlegte These, dass „die“ Person erst im 12. Jahrhundert entstanden sei.[4] Ein wichtiges Argument ist beispielsweise, dass es für das Frühmittelalter eindeutige Zeugnisse von Menschen gibt, die über ihre eigenen Gefühle berichten und ihren eigenen Platz in der Gesellschaft reflektieren.[5](Abb. 1)

Das Thema der Freiheit – mit einem feinen Unterschied zwischen „Freiheit“ und „Freiheiten“, den man immer machen muss[6] – ist vielfältig[7] und kann hier nicht im Detail behandelt werden. Ich möchte nur aufgrund einiger Beispiele die Vielfalt dieser Thematik unter Berücksichtigung des immerwährenden sozialen Drucks auf die als „frei“ zu betrachtenden Mitglieder der Gesellschaft darstellen.

Nicht alle Menschen waren vor dem Gesetz gleich

Heute gilt in einem Rechtsstaat wie Deutschland, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind (Artikel 3, Absatz 1 Grundgesetz). Diese moderne Vorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gab es im Mittelalter – wie in der Antike – nicht. Die Stufen der Freiheit oder der Unfreiheit bzw. der Abhängigkeit konnten je nach Ort und Zeit sehr unterschiedlich sein. So wurde beispielweise die sächsische Gesellschaft im Frühmittelalter in unterschiedliche Statusstufen eingeteilt: Im heutigen Niedersachsen war „das ganze Volk in drei Stände geteilt, die einen nämlich heißen in ihrer Sprache edhilingi, die andern frilingi, die dritten lazzi, das heißt: Edle (nobiles), Freie (ingenuiles) und Knechte (serviles)“.[8] Eine egalitäre Gesellschaft entspricht nicht der frühmittelalterlichen Realität und der Wert einer Person hing von ihrem Status ab: Das Bußgeld, „Wergeld“ genannt, das man für die Tötung eines Adligen zahlte, war zum Beispiel höher als das für die Tötung eines Sklaven.[9]

Abb. 2: Eigenhändige Subskription der Mathilde von Canossa auf einer Urkunde vom Juni 1107 (Lucca, Archivio Storico Diocesano)
Abb. 2: Eigenhändige Subskription der Mathilde von Canossa auf einer Urkunde vom Juni 1107 (Lucca, Archivio Storico Diocesano)

Die Behauptung des „Ich“

Als Ausdruck des neuen Bewusstseins adliger Geschlechter fangen einige Grafen im 10. Jahrhundert an, die Gottesgnadenformel für sich zu reklamieren und sich Dei gratia comes („Graf von Gottes Gnaden“) zu titulieren.[10] Ein berühmtes Beispiel der Anwendung dieser Formel, diesmal nicht als Titulatur am Anfang einer Urkunde, ist die Subskription der Markgräfin Mathilde von Canossa (* um 1046; † 24. Juli 1115), einer der mächtigsten Frauen ihrer Zeit.[11] Mathilde unterzeichnete ihre Urkunden folgendermaßen (Abb. 2): „Matilde, wenn sie etwas ist, [dann] durch die Gnade Gottes – ich habe unterschrieben“ (Matilda, Dei gratia si quid est, subscripsi). Diese Selbstbezeichnung zeugt von „ihrem hohen Selbstverständnis und ihrer tiefen Demut“,[12] denn sie war sich ihrer Macht als Herrscherin bewusst und sie verweist zugleich auf das Bekenntnis des Apostels Paulus: „Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,10).

Das familiäre Band

Die familiären Bindungen waren im Mittelalter von großer Bedeutung, nicht nur im Fall einer Fehde, wenn zum Beistand die Mitglieder einer Großfamilie für ihre Verwandten verpflichtet waren – sei es um eine Schuld zu begleichen oder in einen Kampf zu ziehen.[13] Auch in Anbetracht des Respekts für die Verwandten und die von den Älteren getroffenen Entscheidungen prägten die familiären Bindungen das Leben eines Einzelnen sehr. Dies wird an den Empfehlungen der hochadligen Dhuoda an ihren Sohn Wilhelm deutlich. Er war mitten in der politischen Krise nach dem Tod Kaisers Ludwigs des Frommen an den Hof dessen jüngsten Sohnes, Karls „des Kahlen“, geschickt worden – als eine Art Geisel oder Pfand für die Treue seines Vaters, Bernhard von Septimanien, der im Streit zwischen Karl und dessen Neffen, Pippin II. von Aquitanien, Partei für Letzteren ergriffen hatte.

Besorgt um ihrem Sohn, schrieb Dhuoda ein Büchlein in den Jahren 841/842, um ihm Ratschläge des guten Benehmens zu geben. Darin wird deutlich, dass von Wilhelm – trotz allen Umständen – seinen beiden Herrn (seinem Vater und seinem König) und den Mitgliedern seiner Familie gegenüber Treue erwartet wird. Im Alter von 16 Jahren war Wilhelm bereits volljährig. Trotzdem sollte er seinen „Herrn (domnus) und Vater Bernhard bei Gegenwart wie bei Abwesenheit fürchten, lieben und ihm in allem treu sein“.[14] Wilhelm war insofern seinem Vater verpflichtet, als er seinen Status in der Welt von ihm erhalten hatte.[15] Egal, ob der Vater ein Rebell war: Adlig ist adlig! Dhuoda schreibt weiter: „Halte Dich außerdem an Karl, den Du zum Herrn hast, da Gott, wie ich glaube, und Dein Vater Bernhard ihn Dir […] zum Dienst ausgesucht haben“.[16]

Hierarchie und Ordnung

Dhuoda bezeichnet Karl als den senior (den „Älteren“) ihres Sohnes, was angesichts ihres jungen Alters merkwürdig klingen mag (Karl war etwa zwei Jahre älter als Wilhelm). Diese Bezeichnung bezieht sich auf das ungleiche Verhältnis zwischen Wilhelm als Vasall und Karl als seinem Herrn (in dem romanischen Umfeld Dhuodas ist das Wort senior, aus dem das französische Wort „seigneur“ hervorgeht, statt des klassischeren Begriffs dominus nicht verwunderlich). Ist es nicht auch für Dhuoda eine geschickte Art und Weise anzudeuten, dass Wilhelm neben Gott nur seinen Vater als wahrhaftigen Herrn hat?[17] Dass die Treue zur Familie von entscheidender Bedeutung ist, zeigt die Aufforderung Dhuodas an ihren Sohn, seine Verwandten in seine Gebete einzuschließen.[18] Sie fügte ihrem Büchlein eine Liste bei, die die Namen der relevanten verstorbenen Verwandten enthält – mit der Aufforderung: „Wer aus Deiner Verwandtschaft dahingegangen ist […], lasse bitte, wenn Du noch am Leben bist, dessen Namen mit den vorher genannten Personen oben eintragen, und bete für ihn“.[19]

Wie für die meisten Leute im Frühmittelalter war der Name identitätsstiftend: Wilhelm heißt wie sein Großvater väterlicher Seite, sein jüngerer Bruder heißt wie sein Vater und sein Onkel heißt wie sein Urgroßvater. Innerhalb einer Familie gibt es nur wenige Namen, auf die man zurückgreifen kann; meistens erlauben sie es, eine Person in die Familie einzuordnen und ihre von Geburt an bestimmte Funktion (als Nachfolger im weltlichen Amt oder beispielsweise als Geistlicher) zu bestimmen.[20] Egal ob frei oder unfrei: Das Leben der Leute im Mittelalter war im Großen und Ganzen programmiert!

Abb. 3: Der Hl. Benedikt gibt seine Regel einem Mönch (Paris, BnF, Lat. 9448 f. 66v: Graduale der Abtei Prüm, Ende des 10. Jahrhunderts)
Abb. 3: Der Hl. Benedikt gibt seine Regel einem Mönch (Paris, BnF, Lat. 9448 f. 66v: Graduale der Abtei Prüm, Ende des 10. Jahrhunderts)

Ungewollter Verzicht auf Freiheit

Dass die Eltern das Leben ihrer Kinder einseitig bestimmen konnten, zeigt eine im Mittelalter stark in der Strategie adliger Familien verankerte Praxis: die Schenkung eines Kindes an ein Kloster, damit es dort sein Leben als Mönch verbringe.[21] Dies ist ausdrücklich in der Regel des Hl. Benedikt vorgesehen: „Wenn etwa ein vornehmer Mann seinen Sohn Gott im Kloster darbringen will und dieser noch ein Kind ist, dann stellen die Eltern die oben erwähnte Urkunde aus [gemeint ist das im 58. Kapitel der Benediktsregel genannte Gelübde].[22] Zusammen mit einer Opfergabe wickeln sie diese Urkunde und die Hand des Knaben in das Altartuch und bringen ihn so dar“.[23] Dass nicht alle „geschenkten Kinder“ (pueri oblati) glücklich waren, versteht sich von selbst. Dennoch gibt es nur in wenigen Ausnahmefällen verlässliche Informationen darüber, dass Kinder an ihrem Schicksal im Kloster verzweifelten. Der Ausweg konnte schlimm sein: zum Beispiel Selbstmord[24]– so die Deutung eines Eintrags in der Chronik des Klosters St. Gallen im 11. Jahrhundert: Dort wird berichtet, wie ein junger Mönch namens Wolo, als er unter den Schreibern im Skriptorium saß, plötzlich aufsprang und die Treppe zum Glockenturm der Kirche hinaufeilte, „denn er wollte die Berge und Fluren ringsum mit den Augen schauen, da er schon nicht hingehen durfte“. Beim Hinaufsteigen stürzte er, „vom Teufel angetrieben, wie man glaubt, durch die Holzdecke herab und brach sich den Hals“.[25]

Abb. 3: Soziogramm der Vernetzung der Protagonisten am Vorabend der Ermordung Karls des Guten (Clemens Beck und Markus Krumm)
Abb. 4: Soziogramm der Vernetzung der Protagonisten am Vorabend der Ermordung Karls des Guten (Clemens Beck und Markus Krumm)

Gefährliche Gewässer: Ein Unfreier wetteifert mit freien Menschen

Im Mittelalter bedeutete Unfreiheit nicht unbedingt Armut – ganz im Gegenteil, wie der soziale Aufstieg einer flämischen Familie von Bediensteten im 11. Jahrhundert zeigt. Ihre Geschichte zeigt aber auch, dass der Anschein der Freiheit besonders wichtig war – und wie gefährlich es sein konnte, die Stellung eines Emporkömmlings in Frage zu stellen. Karl der Gute von Flandern machte im Jahr 1127 diese bittere Erfahrung. Die Geschichte seiner Ermordung wurde von Galbert erzählt, einem Kleriker der Burgkapelle St. Donatian in Brügge. Anlass des mörderischen Anschlags gegen den Grafen mitten in der Kirche war sein Versuch, seinen Kanzler, Bertulf, seiner Macht dadurch zu entheben, dass er an seine unfreie Herkunft erinnerte. Bertulf war der Sohn eines unfreien Ritters, der in den 1060er Jahren durch die Ermordung seines Herrn, des Burggrafen von Brügge, und die Vermählung mit dessen Witwe selber zum Burggrafen von Brügge aufstieg. Ihre beiden Kinder verschafften sich Ämter, Reichtum und Macht. Ungeachtet ihrer unfreien Herkunft wurden sie wie Adlige behandelt. Eine geschickte Heiratspolitik sollte die bevorrechtete Stellung ihrer Familie dauerhaft machen.[26] Der Graf erfuhr von der Unfreiheit seines Kanzlers, als er in seiner Grafschaft untersuchen ließ, „wer ihm gehörte, wer Leibeigener war und wer frei war“:

„Nun geschah es, dass ein Ritter, der mit einer Nichte des Propstes verheiratet war, in Gegenwart des Grafen einen anderen Ritter, der, wie seine Abstammung bewies, frei war, zu einem Zweikampf aufforderte. Als dieser herausgefordert wurde, lehnte er entschieden ab und sagte, er sei nicht von unterwürfigem Stand, sondern vom freien Stand wie seine gesamte Abstammung: Aus diesem Grund würde er nicht in einem Zweikampf gegen einen Mann kämpfen, der nicht seines Gleichen sei. Nach dem Gesetz des Grafen war nämlich jeder freie Mann, der eine Leibeigene geheiratet hatte, ein Jahr nach der Hochzeit nicht mehr frei, sondern nahm denselben Stand ein wie seine Frau“. [27]

Als Bertulf feststellte, dass Karl der Gute entschlossen war, ihn wieder in die Knechtschaft zu zwingen, suchte er nach einem Anlass, den Grafen zu ermorden. Die Mitglieder seines Clans verschworen sich: „Sie gaben sich gegenseitig die rechte Hand und schworen, den Grafen zu verraten“.[28] Am nächsten Tag schritten sie zur Tat.

Diese Erzählung Galberts ist in vielerlei Hinsicht interessant, denn ihre Genauigkeit ermöglicht es, nicht nur eine Untersuchung des sozialen Zusammenhalts und eine genaue Rekonstruktion der Entwicklung von ephemeren und dauerhafteren Allianzen durchzuführen [29] (siehe Abb. 3), sie zeigt auch, wie leicht es war, mit der stillschweigenden Zustimmung der Zeitgenossen sozial aufzusteigen: Viele solche Bediensteten mit besonderer Expertise, die man als ministeriales bezeichnet, haben es geschafft, von einer Generation über die nächste bis zum niederen Adel zu gelangen.[30] Zugleich zeigt Bertulfs Geschichte, wie schwierig es war, die Makel der Unfreiheit endgültig zu tilgen. Letztlich zeigt diese Anekdote auch, wie bindend ein Eid war.

Abb. 5: „Teppich von Bayeux“ (Ende 11. Jh.): der angelsächsische Graf Harold schwört dem normannischen Herzog Wilhelm („dem [zukünftigen] Eroberer“) die Treue. (Musée de la Tapisserie de Bayeux)
Abb. 5: „Teppich von Bayeux“ (Ende 11. Jh.): der angelsächsische Graf Harold schwört dem normannischen Herzog Wilhelm („dem [zukünftigen] Eroberer“) die Treue. (Musée de la Tapisserie de Bayeux)

Eidleistung als bindende Tat

Der Übergang vom Mitschwur zur Beschwörung ist semantisch leicht gemacht, denn es geht in beiden Fällen um eine conjuratio. Im Mittelalter gab es vielerlei Anlass zu schwören: Karl der Große führte zum Beispiel für jeden volljährigen Mann (ab zwölf Jahren) freien Standes die Pflicht ein, dem König entsprechend eines Formulars, das im Kern stets dasselbe war, Treue zu schwören.[31] Jeder freie Mann war also nicht völlig frei, sondern er musste sein Verhalten seinen Pflichten als Getreuer (des Königs oder seines Lehnsherrn) anpassen. Dass die ganze Gesellschaft in dieses Geflecht an Verpflichtungen einbezogen war, zeigt die allgemeine Promulgationsformel von Königsurkunden „an alle unsrige und Gottes Getreuen“,[32] die auf der Doppelbedeutung des Wortes fides fußt (fides bedeutet „Treue“ und „Glaube“ – von daher ist der fidelis sowohl der Getreue – und Untertan – als auch der Gläubige). Nicht nur in diesem Zusammenhang wurden Eide geleistet, sondern ganz allgemein, um feierlich etwas zu geloben (siehe Abb. 5) oder um seine Unschuld zu beweisen. Dabei schwor man meistens nicht allein, sondern mit mehreren Leuten, die bereit waren, den Eid gemeinsam zu leisten:[33] Es ging darum, angesehene Leute oder Verwandte von seiner Unschuld zu überzeugen. Sie sollten für die Ehrlichkeit der beschuldigten Person bürgen und bereit sein, das Risiko einzugehen, in Mitleidenschaft gezogen zu werden. In anderen Angelegenheiten konnte es auch darum gehen, dass diese Leute – zum Beispiel als Nachbarn – die Echtheit einer Aussage bestätigen konnten… und wollten. So heißt es beispielweise in einem Dokument aus der Merowingerzeit, das in der Formelsammlung aus Angers überliefert ist:

„Ein Mann namens Soundso kam vor [Gericht] und klagte gegen einen anderen Mann mit Namen Soundso, dass der ihm einen Dienst leisten solle. Und der Soundso […] verneinte es heftig […]. Man befragte denselben Soundso: War er aufgrund seiner Abkunft von einem anderen Mann in dessen Dienst oder nicht? Und derselbe Soundso sagte, dass […] er ihm weder aufgrund seiner Abkunft, noch aufgrund eines Kaufes einen Dienst [leiste]. […] Unter solchen Umständen erschien es [den Richtern] gut, dass derselbe Mann mit 12 Männern – mit seiner Hand 13 – in der Kirche des Herrn Soundso in soundsoviel Nächten gemeinsam schwören sollte, dass er ihm seit 30 Jahren und länger niemals einen Dienst geleistet habe […]“.[34]

Hier wird also von einer mächtigeren Person versucht, eine andere in ihre Obhut und ihren Dienst zu ziehen. Die Argumente, die dagegen sprechen, sind, dass diese beanspruchte Person weder aufgrund ihrer Abstammung (ihre Eltern waren keine Sklaven oder Leibeigenen) oder wegen irgendeiner anderen Ursache (Versklavung, Selbstverkauf wegen Schulden oder was auch immer) dem Ankläger zum Dienst schuldig geworden ist, und ihre Eidhelfer bezeugen, dass es keinen solchen Präzedenzfall gegeben habe. Anders gesagt: Die Freiheit des Einen liegt in der Hand der Anderen, die zu ihm halten müssen! Unter den im Langzeitvorhaben „Formulae – Litterae – Chartae“ edierten Musterdokumenten aus dem Frühmittelalter gibt es viele Beispiele von solchen Eidleistungen.[35]

Schlussbetrachtung

Es wurde gezeigt, dass jenseits der rechtlichen Freiheit, die ein Mensch im frühen Mittelalter genießen konnte, sein Spielraum von verschiedenen Mitakteuren – wie Eltern, Verwandten, Freunden oder Nachbarn – eingeschränkt oder sogar bestimmt werden konnte und dass die Anerkennung, die ihm gebührte, und seine Stellung in der Gesellschaft sehr stark von den Anderen abhingen. So kann man behaupten, dass in dieser nicht egalitären Gesellschaft Freiheit nicht losgelöst von Solidarität war und einem gewissen sozialen Zwang unterlag. Ob es mutatis mutandis in unserer rechtlich egalitären Gesellschaft anders ist, ist hier als offene Frage zu betrachten.

Fußnoten

  1. „Art 5 GG - Einzelnorm“. Zugegriffen 22. Januar 2025. www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html.
  2. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, herausgegeben von Michael Schröter, Frankfurt 1991.
  3. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990.
  4. Colin Morris, The Discovery of the Individual 1050-1200, New York 1972.
  5. Barbara Rosenwein, Y avait-il un „moi“ au haut Moyen Âge?, in: Revue historique 633/1 (2005), S. 31-52.
  6. Otto Paul Clavadetscher, Freiheit und Freiheiten im Mittelalter, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 26 (1976), S. 4-8.
  7. Johannes Fried, Die abendländische Freiheit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1991.
  8. Nithard, Vier Bücher Geschichten, IV, 2: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, 1, Darmstadt 1955, S. 448-449.
  9. Lukas Bothe, Stefan Esders und Han Nijdam (Hg.), Wergild, Compensation and Penance. The Monetary Logic of Early Medieval Conflict Resolution, Leiden 2021.
  10. Régine Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe-Xe siècle). Essai d’anthropologie sociale, Paris 1995, S. 138-141.
  11. Elke Goez, Mathilde von Canossa, Darmstadt 2012.
  12. Werner Goez, „Mathilda Dei gratia si quid est”. Die Urkunden-Unterfertigung der Burgherrin von Canossa, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 47 (1991), S. 379-394 (hier S. 393).
  13. Philippe Depreux, Une faide exemplaire? À propos des aventures de Sichaire: vengeance et pacification aux temps mérovingiens, in: Dominique Barthélemy, François Bougard und Régine Le Jan (Hg.), La vengeance 400-1200, Rom 2006 (Collection de l’École Française de Rome, 357), S. 65-85.
  14. Dhuoda, Manuel pour mon fils, hg. von Pierre Riché, Paris 1975, S. 134 (Kap. III, 1); Übersetzung ins Deutsche von Wolfgang Fels: Liber manualis. Ein Wegweiser aus karolingischer Zeit für ein christliches Leben, Stuttgart 2008, S. 41 (Text leicht geändert).
  15. Ebd. S. 140-142 bzw. S. 45 (Kap. III, 2).
  16. Ebd. S. 148 bzw. S. 49 (Kap. III, 4).
  17. Siehe Régine Le Jan, Dhuoda ou l’opportunité du discours féminin, in: Cristina La Rocca (Hg.), Agire da donna: Modelli e pratiche di rappresentazione (secoli VI-X), Turnhout 2007, S. 109-128 (hier S. 124).
  18. Dhuoda, Manuel / Liber manualis, S. 308 bzw. S. 139 (Kap. VIII, 5-6) und S. 318-322 bzw. S. 145-147.
  19. Ebd. S. 354 bzw. S. 163 (Kap. X, 5).
  20. Dazu siehe R. Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc, op. cit. (wie Anm. 9).
  21. Mayke de Jong, In Samuel’s image: Child oblation in early medieval West, Leiden 1996.
  22. Die Benediktsregel, Lateinisch/Deutsch, hg. von Ulrich Faust, Stuttgart 2009, S. 138-139 (Kap. 58, 17-20).
  23. Ebd., S. 140-141 (Kap. 59, 1-2). Zur Ausstellung solcher Urkunden siehe Philippe Depreux, La profession monastique au temps de la réforme d’Aix (816 – 819) et les formules de vœux, de petitio des novices et d’oblation des enfants, in: Joseph Goering, Stephan Dusil und Andreas Thier (Hg.), Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law, Città del Vaticano 2016, S. 487-501.
  24. Hans F. Haefele, Wolo cecidit. Zur Deutung einer Ekkehard-Erzählung, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 35 (1979), S. 18–32.
  25. Ernst Tremp, Das frühmittelalterliche Kloster als Freiraum und Engnis. Beobachtungen an den literarischen Quellen St. Gallens, in: Tiziana Suárez-Nani und Martin Rohde (Hg.), Représentations et conceptions de l’espace dans la culture médiévale, Berlin 2011, S. 323-340, hier S. 323.
  26. James Bruce Ross, Rise and Fall of a Twelfth-century Clan: The Erembalds and the Murder of Count Charles of Flanders, in: Speculum. A Journal of Medieval Studies 34/3 (1959), S. 367-390.
  27. Galbertus Brugensis, De multro, traditione, et occisione gloriosi Karoli, comitis Flandriarum, hg. von Jeff Rider, Turnhout 1994, S. 19 (Kap. 7).
  28. Ebd. S. 27 (Kap. 11).
  29. Maximilian Singer, Ordnung ins Chaos. Digitale Netzwerkanalyse am Beispiel von Galberts von Brügge De multro, traditione, et occisione gloriosi Karoli, comitis Flandriarum: II Langfristige Beziehungen und einmalige Kontakte: Analyse und Visualisierung der Kapitel 12 bis 52, in: mittelalter.hypotheses.org/22750 (28. Oktober 2019), abgerufen am 19. Dezember 2024 von doi.org/10.58079/rh6m.
  30. Werner Hechtberger, Adel, Ministerialität und Rittertum im Mittelalter, München 2004.
  31. Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen, Sigmaringen 1993.
  32. Herbert Helbig, Fideles Dei et regis. Zur Bedeutungsentwicklung von Glaube und Treue im hohen Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 33 (1951), S. 275-306.
  33. Philippe Depreux, La prestation de serment dans le monde franc: formes et fonctions (VIe – IXe siècles), in: Françoise Laurent (Hg.), Serment, promesse et engagement: rituels et modalités au Moyen Âge, Montpellier 2008, S. 517-532.
  34. Angers 10.
  35. Siehe Formulae - Litterae - Chartae Werkstatt, werkstatt.formulae.uni-hamburg.de. Zugegriffen 22. Januar 2025.

Prof. Dr. Philippe Depreux

Nach meinem Geschichtsstudium an der Sorbonne habe ich mich auf Mittelalterliche Geschichte spezialisiert und meine Dissertation zur Entourage Kaiser Ludwigs des Frommen (814-840) in München vorbereitet (Promotion 1994 an der Universität Paris IV). Nach einem Aufenthalt in Oxford und einer Lehrtätigkeit in Lille wurde ich 1998 Maître de conférences an der Universität von Tours, wo ich hauptsächlich mit Archäologen zusammenarbeitete. Während meiner Zeit als Referent für Mittelalter an der Mission historique française in Göttingen (2003-2006) habilitierte ich mich an der Universität Paris I (2005) mit einer Untersuchung an der Schnittstelle zwischen Sozial-, Rechts- und Ritualgeschichte, nämlich zu den Investituren bis zum Investiturstreit. 2006 kehrte ich als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Limoges nach Frankreich zurück und war von 2007 bis 2012 Mitglied des Institut universitaire de France. 2013 erhielt ich den Ruf zum W3-Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg, wo ich seitdem tätig bin.

Meine akademische Laufbahn steht unter dem Zeichen der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Lehre und Forschung, die ich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland als Leiter von Vorhaben im Rahmen der Förderprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der französischen Agence Nationale de la Recherche sowie der Deutsch-Französischen Hochschule durchführ(t)e.

In Hamburg kann ich meinem Interesse für Sozial- und Kulturgeschichte sowie Hilfswissenschaften und Handschriftenkunde nicht nur als Mitglied des ehemaligen SFB „Manuskriptkulturen“ und des aktuellen Clusters „Understanding Written Artefacts“, sondern auch dank des Programms der Akademienunion als Leiter des Langzeitvorhabens „Formulae – Litterae – Chartae“ (2017-2031), das sich mit der Neuedition frühmittelalterlicher Musterdokumente befasst, nachgehen. Meine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf der abendländischen Geschichte des Früh- und Hochmittelalters, insbesondere auf gesellschaftlichen, kulturellen und historisch-anthropologischen Themen, auf dem politischen Leben (in Bezug auf Menschen, Strukturen und Ideale), auf Schriftlichkeit und normativer Verschriftlichung, sowie auf der Geschichte des karolingischen Reichs und der daraus entstandenen Länder.