Geschlechtergerechtigkeit
Als „Retraditionalisierung“ bezeichnete die Soziologin Jutta Allmendiger schon zu Beginn der Covid-19-Pandemie, was Frauen als drohendes Versinken unter der gestiegenen Last von Betreuungsarbeit, Home Schooling und Home Office erlebten. Häusliche Gewalt nahm zu, Gender Pay Gap und Gender Time Gap klafften, Frauen blieben in den zentralen Entscheidungs- und Beratungsorganen der Gesundheitspolitik und in den Medien als Expertinnen unterrepräsentiert. Dieser Backlash, die neue wie alte Ungleichheit im Geschlechterverhältnis, ist ein Gerechtigkeitsproblem.
Gleichheit als Bedingung von Gerechtigkeit

Die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen gilt heute in der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie als grundlegende Bedingung von Gerechtigkeit.1 Die Negierung von Gleichheit durch die Ungleichbehandlung von Menschen lässt sich demnach als ungerecht beschreiben. Dies umso mehr, wenn die Ungleichbehandlung auf der Zuschreibung als diskriminierend pönalisierter Merkmale beruht, zum Beispiel Geschlecht, Religion, „Rasse“, Behinderung. Doch was folgt daraus für real existierende Phänomene sozialer Ungleichheit? Eine Antwort könnte lauten: Jede Ungleichbehandlung von Menschen verbietet sich. Strikt formell gedachte Gleichbehandlung ermöglicht den gleichen Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten, zu Leistungen und Institutionen. Was aber, wenn trotzdem die Einen auf der Strecke bleiben, während die Anderen von Privilegien zehren können? Dann zeigt sich, dass zur Gerechtigkeit auch die Ungleichbehandlung gehören kann, die darauf gerichtet ist, tatsächliche Hürden abzubauen und Benachteiligte aktiv zu fördern und zu unterstützen („affirmative action“).
Gleichberechtigung als Versprechen des Rechts

Im modernen Rechtsstaat ist die Gerechtigkeitsvorstellung von der Anerkennung aller Menschen als gleich und frei ein Versprechen des Verfassungsrechts. Art. 3 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes (GG) besagt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Dieser allgemeine Gleichheitssatz ist in der Pandemie vielfach vor den (Verwaltungs-)Gerichten bemüht worden. Es ging um Betriebsschließungen und Beschränkungen durch infektionsschutzrechtliche Maßnahmen, zum Beispiel um den Betreiber eines Baumarktes mit einer großen Verkaufsfläche, der sich ungleich behandelt sah, weil Geschäfte mit geringerer Verkaufsfläche geöffnet blieben, während er schließen musste. In vielen Fällen konnten wirtschaftliche Interessen unter Berufung auf den Gleichheitssatz erfolgreich gerichtlich durchgesetzt werden. Kaum – weder vor Gericht, noch in der Politik – verhandelt wurden hingegen die eingangs skizzierten geschlechtsbezogenen Auswirkungen der Pandemie. Das verwundert vor allem deshalb, weil das Grundgesetz der Gleichberechtigung der Geschlechter große Bedeutung zumisst.

Art. 3 Abs. 2 GG lautet als Ergebnis des engagierten Einsatzes der vier „Mütter des Grundgesetzes“ seit 1949: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ 1994 wurde ein zweiter klarstellender Satz ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Das Grundgesetz stellt damit – so das Bundesverfassungsgericht in mittlerweile ständiger Rechtsprechung – ein Gleichberechtigungsgebot auf und erstreckt dieses explizit auf die gesellschaftliche Wirklichkeit.2 Das Gleichberechtigungsgebot enthält zwei Komponenten: Es beinhaltet zunächst ein Durchsetzungsgebot, also das Gebot, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern. Es enthält zudem den staatlichen Handlungsauftrag, „die Lebensverhältnisse von Männern und Frauen auch real anzugleichen“, um so die „faktische Gleichberechtigung“ zu erreichen.3 Die Verfassung verspricht also materielle Gleichheit und erklärt es zur staatlichen Aufgabe, auch tief verankerte gesellschaftliche Verhältnisse mit konkreten Maßnahmen zu adressieren. Diskussionen über Fördermaßnahmen, finanzielle Entlastungen und Quotierungen werden auf dieser Grundlage geführt und sind keineswegs als ideologisch oder als Ausdruck eines „Gerechtigkeitsfanatismus“ abzutun. Sie betreffen die Umsetzung der durch die Verfassung vorgegebenen Staatsaufgabe, für die Gleichberechtigung der Geschlechter Sorge zu tragen.
Die Einlösung des Gleichberechtigungsversprechens

Bei der Umsetzung und Ausgestaltung des rechtlichen Versprechens der Gleichberechtigung hat der Staat, insbesondere die Gesetzgebung, einen weiten Gestaltungsspielraum. Dieser Spielraum ist auch Ausdruck der weitreichenden Aufgabe der Gleichberechtigung, die nicht nur staatliche Aufgabe ist, sondern gesellschaftliche Verantwortung. Der staatliche Gleichberechtigungsauftrag wird aber durch Phänomene wie den beschriebenen Backlash, die Retraditionalisierung, besonders aktiviert. Die Gesetzgebung darf nämlich nicht – so Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer und Professorin Nora Markard in ihrer Kommentierung zum Gleichberechtigungsauftrag – „geschlechtstypische Lebenslagen schlicht unberücksichtigt lassen“ und einfach „mehr Emanzipation voraussetz[en] als sie [tatsächlich] existiert.“4 Die Gesetzgebung kann also vor den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Pandemie ebenso wenig die Augen verschließen wie vor anderen offensichtlichen Ungleichheitslagen. Vielmehr ist sie durch das verfassungsrechtliche Gleichberechtigungsgebot aufgerufen, Rückschritt aktiv aufzuhalten und den Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter zu beschleunigen. Dazu ist es erforderlich, keinen neuen Gender Gap in Konjunkturpaketen entstehen zu lassen, sondern – im Gegenteil – auch über positive Maßnahmen wie die finanzielle Entlastung von Personen mit Betreuungsaufgaben nachzudenken.