Automatisierung und Gerechtigkeit

Die Automatisierung wird in den kommenden Jahrzehnten große Auswirkungen auf unsere Lebensumstände haben. Sie ist Garant für weiteres wirtschaftliches Wachstum und den Erhalt unseres Wohlstandes. Aber ist sie auch gerecht?
Essay von Kerstin Thurow, 31. Oktober 2022

Ein weißer Roboterarm vor schwarzem Hintergrund, inmitten von jungen grünen Setzlingen.
Konzept für einen automatisierten Farm-Roboter. Ein Werkzeug gegen den Welthunger?

Seit Anbeginn der Menschheit strebt der Mensch danach, sich das Leben zu vereinfachen und mithilfe von Maschinen zu erleichtern. Wissenschaftliche Entwicklungen und Innovationen haben über Jahrhunderte hinweg zu drei wesentlichen industriellen Revolutionen geführt. Die Dampfmaschine war um 1800 der Motor für den Beginn des Industriezeitalters. Die zweite industrielle Revolution geht einher mit der Entdeckung der Elektrizität und der Einführung des Fließbandes, welches 1913 erstmals von Henry Ford in der Automobilindustrie eingesetzt wurde. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts startete die dritte industrielle Revolution durch die Entwicklung der Computertechnologie und eine weitere Automatisierung durch Elektronik. Gegenwärtig befinden wir uns in der Phase der digitalen Revolution, die durch eine zunehmende Digitalisierung gekennzeichnet ist. Sie ermöglicht eine außergewöhnliche IT-gestützte Prozessoptimierung und damit weitere Erhöhung der Effizienz von Produktionsprozessen. Die zunehmende Automatisierung bringt aber auch weitere Vorteile mit sich. So kann die Produktqualität vergleichmäßigt werden. Mehr Produkte können pro Zeiteinheit hergestellt werden, was zu einer Reduktion der Preise führen kann und damit Produkte für größere Menschengruppen verfügbar macht. Repetitive, nicht ergonomische oder gar gefährliche Tätigkeiten können von Robotern übernommen werden. Der Mensch gewinnt damit Zeit für kreative Aufgaben. Viele Mitarbeiter wünschen sich genau dies – mehr Produktivität und Zeit für Innovationen und Kreativität.

Ein schwarzer Dampftraktor aus dem späten 19. Jahrhundert auf einem Stoppelfeld.
Ein Dampftraktor als Beispiel für technischen Fortschritt zu Beginn des Industriezeitalters.

Trotzdem sind – wie bei allen industriellen Revolutionen – auch Ängste und Bedenken vorhanden. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird aufgeworfen. Gerechtigkeit ist ein wesentlicher Grundwert im Zusammenleben in unserer modernen Gesellschaft. Kurz gefasst könnte man sagen, Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Menschen gleich behandelt werden. Aber kann Automatisierung gerecht oder ungerecht sein?

Ist Automatisierung gerecht?

Automatisierung an sich ist nur ein Mittel, das der Optimierung von Prozessabläufen dient. Der Mensch steht dabei nicht im Mittelpunkt der Innovationen und Entwicklungen. Automatisierung selber kennt daher keine Kategorien wie ‚gerecht‘ oder ‚ungerecht‘. Allerdings können die Folgen der Automatisierung sehr unterschiedlich für unterschiedliche Menschengruppen sein und durchaus als ungerecht empfunden werden. Werden immer mehr Arbeiten von Maschinen übernommen, bedeutet dies den Verlust von Jobs oder sogar das Verschwinden von Berufsbildern. Besonders davon betroffen werden zunächst Menschen mit formal geringerer Bildung sein. Zum einen fallen deren Arbeitsplätze zuerst der Automatisierung zum Opfer. Zum anderen werden sie es aber auch schwerer haben, damit umzugehen, da mit einer besseren Bildung mehr und sehr unterschiedliche Aufgaben übernommen werden können. Hier kann also eine größere Ungleichheit entstehen; die Automatisierung hätte negative und ungerechte Auswirkungen.

Ungleichheit durch Automatisierung kann auch zwischen Städten entstehen. Während größere Städte in der Regel flexiblere Möglichkeiten haben, sich auf neue Entwicklungen und Tendenzen einzustellen, dürfte dies bei kleinen Städten auch aus finanzieller Sicht problematischer sein. Das in vielen Bereichen oft zu findende Stadt-Land-Gefälle ist in Bezug auf die Automatisierung dagegen kaum erkennbar. Insbesondere die IoT-Technologien (Internet of Things) führen zu einer besseren Vernetzung. Die Einführung neuer Automationssysteme kann langfristig auch zu einer Verbesserung der oft schweren Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft führen und so u.a. dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Dadurch erhöht sich die Versorgungssicherheit der Bevölkerung insgesamt.

Besondere Auswirkungen wird die Automatisierung im internationalen Vergleich haben und zu einer steigenden Ungleichheit armer und reicher Staaten führen. Durch eine zunehmende Automatisierung können auch in Ländern mit eigentlich hohen Personalkosten Produkte billig hergestellt werden. Dies wird zu einer erfreulichen Rückverlagerung von Produktion in die wirtschaftlich starken Länder führen. Gleichzeitig werden aber zahlreiche Arbeitsplätze, die bislang von Unternehmen aufgrund der geringen Kosten in Entwicklungsländern genutzt wurden, dort entfallen. Damit geht die Möglichkeit für wirtschaftlich schwache Staaten verloren, über billige Arbeitsplätze Wachstum und auch Wohlstand zu erreichen und zu den wirtschaftlich starken Staaten aufschließen zu können.

Vernichtet Automatisierung Arbeitsplätze?

Ein Schwarz-weiß-Foto zeigt einen Laternenanzünder, der eine Straßenlaterne mit einem langen Stab entzündet.
Der Beruf des Laternenanzünders ist durch Automatisierung überflüssig geworden.

Die wesentliche Frage in der Diskussion um die Gerechtigkeit der Automatisierung ist die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Ist die Angst vor dem Abbau von Arbeitsplätzen durch eine zunehmende Automatisierung aber gerechtfertigt? Zu diesem Thema existieren zahlreiche Studien, die zu unterschiedlichen Zahlen kommen. Alle Studien gehen jedoch davon aus, dass insbesondere im verarbeitenden Gewerbe zahlreiche Arbeitsplätze verloren gehen werden. Zunehmend gibt es aber auch Überlegungen, wie viele neue Jobs durch zunehmende Automatisierung neu geschaffen werden. Roboter müssen schließlich konstruiert, gebaut, programmiert, trainiert und gewartet werden. Gleiches trifft auf IT-Systeme zu. Neueste Untersuchungen gehen gar davon aus, dass durch die Automatisierung und Digitalisierung zukünftig sogar mehr Arbeitsplätze entstehen als vernichtet werden. Dies belegt u.a. eine Studie von Terry Gregory vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), die nachweist, dass im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert ca. 1,5 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze in Europa durch Automatisierung geschaffen wurden1.  Die Möglichkeit, Produkte und Waren kostengünstiger herzustellen, führt zu steigenden Umsätzen und Nachfrage und somit auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Bei der Betrachtung von Automatisierungsfolgen muss auch ein weiteres Phänomen beachtet werden – der zunehmende Arbeitskräftemangel. Die demographische Entwicklung führt in Deutschland und anderen entwickelten Nationen zunehmend dazu, dass Stellen nicht mehr besetzt werden können. Folge sind dann entweder eine Reduzierung der Produktionskapazitäten bis hin zur Schließung von Firmen oder eine Verlagerung der Produktion in Staaten mit ausreichender und kostengünstiger Personalkapazität. Beides führt zu einer weitreichenden Reduzierung von Arbeitsplätzen. Hier kann die Automatisierung Abhilfe schaffen und so dafür sorgen, dass der Produktionsstandort Deutschland erhalten bleiben kann.

Gerechtigkeit schaffen?

Eine zeichnerische Darstellung von zwei Maschinenstürmern, welche einen Webstuhl mit Vorschlaghämmern zerstören.
Wenig Akzeptanz für Automatisierung: Maschinenstürmer zerstören einen Webstuhl (1812)

Automatisierung wird zum Abbau von Arbeitsplätzen führen – dies ist nicht zu leugnen. Zur Abmilderung dieser Folgen werden unterschiedliche Vorschläge unterbreitet. Am häufigsten wird eine Robotersteuer ins Gespräch gebracht. Unternehmen sollen auf alle Produkte, die sie mithilfe von Robotern / Automatisierung produzieren, eine zusätzliche Steuer zahlen. Damit soll ein Anreiz gegen Automatisierung und den Ersatz menschlicher Arbeitskräfte geschaffen werden. Einnahmen aus der Steuer sollen der Qualifizierung von Arbeitnehmern dienen. Aber ist so ein Ansatz sinnvoll? Den technischen Fortschritt durch zusätzliche Steuern aufhalten zu wollen, scheint kaum möglich.

Eine Belohnung von Nichtautomatisierung und Beschäftigung zahlreicher menschlicher Arbeitskräfte ist zwar ethisch nachvollziehbar und vor dem Hintergrund der Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes wünschenswert. Wirtschaftlich gesehen ist dieser Ansatz aber nicht realistisch. Hohe Personalkosten führen in den entwickelten Ländern zu hohen Produktionspreisen und damit nicht konkurrenzfähigen Produkten. Hier soll Automatisierung ja gerade Abhilfe schaffen. Eine Robotersteuer hingegen würde die Herstellung von Produkten in analoger Weise verteuern. Firmen würden in beiden Fällen weiter die Möglichkeit der Abwanderung in andere Staaten nutzen, die geringere Arbeitskosten haben und somit eine effektivere Produktion ermöglichen. Dies könnte zu einem weit höheren Abbau von Arbeitsplätzen führen als ihn allein die Automatisierung verursachen würde. Darüber hinaus wird sich eine derartige Steuer nicht weltweit durchsetzen lassen. Andere Staaten setzen längst auf Automatisierung und investieren große Summen in diesem Bereich. Deutschland würde extrem schnell seine wirtschaftliche Stellung in der Welt verlieren. Eine Verteuerung der produzierten Waren hätte aber auch unmittelbaren Einfluss auf das Konsumverhalten. Gerade Geringverdienende wären besonders betroffen und könnten sich die dann teureren Produkte nicht mehr leisten. Damit wären nicht die Folgen der Automatisierung, sondern die gesellschaftlichen Ansätze zum Umgang mit diesen Folgen zutiefst ungerecht.

Automatisierung erhält unseren Wohlstand

Die Automatisierung wird in den kommenden Jahren immer mehr Lebensbereiche erreichen. Diesen Prozess aufzuhalten, ist nicht möglich und kann auch nicht das Ziel sein. Ganz im Gegenteil haben Veränderungen auch immer ein großes Entwicklungspotenzial. Die in vielen Bereichen der Wirtschaft durch die Automatisierung erfolgende Produktivitätssteigerung wird zu steigendem Wohlstand für alle führen.

Jede industrielle Revolution hat bisher dazu geführt, dass Arbeitsplätze vernichtet wurden oder Berufsbilder sogar ganz verschwunden sind. Gleichzeitig entstanden aber neue Berufsbilder und Jobs. Dies wird auch in der jetzigen digitalen Revolution nicht anders ein. Klassische, uns vertraute Berufe werden verschwinden und durch neue Berufe und Arbeitsplätze ersetzt werden, die menschliche Fähigkeiten und menschliches Eingreifen erfordern. Auch in Zukunft wird aber menschliche Expertise für hochkomplexe Probleme ebenso wie bei der Generierung neuer Forschungsergebnisse erforderlich sein.

Der Abbau klassischer industrieller Arbeitsplätze bietet aber auch Chancen. Er setzt Kapazitäten frei für Bereiche, die nicht automatisierbar sind oder bei denen man aus ethisch-moralischen Gründen auf eine Automatisierung verzichtet. Der gesamte Sozialbereich von der Kinderbetreuung bis hin zur Pflege alter und kranker Menschen leidet schon heute unter einem großen Personaldefizit. Hier bestehen zukünftig enorme Möglichkeiten, die auch zu einer Rückbesinnung auf das führen können, was wir Menschen eigentlich sind – soziale Wesen.

Zwei Bilder nebeneinander: Auf der linken Seite schiebt eine Person einen elektrischen Rasenmäher, auf der rechten Seite arbeitet ein autonomer Rasenmähroboter.
Entlastung von Gartenarbeit

Die Debatte um Automatisierung und Gerechtigkeit muss zukünftig auf eine vernünftige Grundlage gestellt werden, die möglichst frei von emotionalen Ansätzen sein sollte. Ziel der Automatisierung ist nicht die Entlassung, sondern die Entlastung von Arbeitnehmern. Ziel der Automatisierung ist der Erhalt von Arbeitsplätzen und der wirtschaftlichen Stärke des Standortes Deutschland. Automatisierung ist keine Naturgewalt. Wir können uns langfristig auf sie vorbereiten und aktiv dafür sorgen, dass die Auswirkungen nicht zu Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten führen. Insbesondere darf die Kluft zwischen Akademikern und Arbeitern nicht zu groß werden. Der Schlüssel dazu ist Bildung – Ausbildung, Weiterbildung und Umschulungen werden eine immer größer werdende Bedeutung bekommen. Hier sind Unternehmen und Staat gleichermaßen gefragt, diese Herausforderung in Angriff zu nehmen.

Literaturhinweis

  1. Gregory, Terry; Salomons, Anna; Zierahn, Ulrich (2022): Racing With or Against the Machine? Evidence on the Role of Trade in Europe. In: Journal of the European Economic Association, 20 (2), 869–906. doi.org/10.1093/jeea/jvab040

Prof. Dr.-Ing. habil. Prof. E. h. Kerstin Thurow

Nach der Promotion in Metallorganischer Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München habe ich meine Ausbildung im Bereich der Ingenieurwissenschaften fortgesetzt. Die interdisziplinäre Verbindung von Messtechnik und Naturwissenschaft war Thema meiner Habilitation und Grundlage der weiteren Forschungsfokussierung. Das Center for Life Science Automation (celisca), dessen Leitung ich mit seiner Gründung 2003 übernommen habe, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem weltweit führenden Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Entwicklung und Ausbildung an der Schnittstelle zwischen Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie Medizin entwickelt.