Gerechtigkeit
Vermeintliche Bindestrich-Gerechtigkeiten (Sprachgerechtigkeit, Gendergerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Klimagerechtigkeit u .a. m.) sind Ausdruck der Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten, die in allen Gestalten sozialen Lebens auftreten und als solche wahrgenommen werden. Menschen geben damit zu erkennen, dass sie sehr wohl eine Idee und Vorstellung von Gerechtigkeit haben, aber gleichwohl wissen, dass eine solche nicht zu erreichen ist. Alle Versuche in der Geschichte, „Gerechtigkeit“ zu erzeugen, sind in totalitären Systemen geendet und haben jeweils Ausmaße von Ungerechtigkeit erzeugt, die das menschliche Vorstellungsvermögen bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt überschritten. Vor „Gerechtigkeitsfanatikern“ muss daher aus allen vernünftigen und übervernünftigen Gründen gewarnt werden.
Wenn und weil das so ist, ist es den Menschen aufgegeben, Ungerechtigkeit, wo sie als solche wahrgenommen wird, entgegenzutreten und Bedingungen und Möglichkeiten für ein gerechteres Leben zu schaffen. Ein solches ist freilich immer nur relativ – in Hinsicht auf eine gedachte, erwünschte oder erhoffte Gerechtigkeit, die auf Erden nicht zu haben ist, oder auf vermeintlich oder tatsächlich gerechtere Verhältnisse, die durch menschliche Mentalitäten und Aktivitäten gefördert und auf den Weg gebracht werden.
Die Schriften der Bibel, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten, wissen um menschliche Ungerechtigkeit(en). Daher spielt das Thema „Gerechtigkeit“ in ihnen eine bedeutende Rolle. Die Grunderkenntnis lautet durchgängig, dass es nicht menschliche Gerechtigkeit ist und sein kann, die das Leben menschenfreundlicher macht. So heißt es etwa in dem alttestamentlichen Danielbuch: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit“ (Daniel 9, 18). Auch der Prophet Jeremia lässt Gott erklären: „dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden“ (Jeremia 9,23). Gerechtigkeit, so die biblische Erfahrungsliteratur, kann nicht von Menschen hergestellt werden, sie wäre, sie ist Gottes Werk.
Soll oder muss man daher aber an der Vorstellung oder Vision von Gerechtigkeit verzweifeln oder irre werden? Ein Beispiel aus der Theologiegeschichte mag einen eines Besseren belehren. Martin Luther (1483-1546) hat um Begriff und Sache der Gerechtigkeit gerungen. Aus der Einsicht in die Verfasstheit des Menschen hat er dessen Unfähigkeit zur Gerechtigkeit, die die Bibel „Sünde“ nennt, erkannt, zugleich aber danach gesucht, dass und wie der Mensch aus diesem Stand befreit werden könne. Das kann nur geschehen, indem Gott dem Menschen Gerechtigkeit zueignet, also ihn gerecht macht. In der Zueignung von Gottes Gerechtigkeit, in der Gott den Menschen an seinem Leben teilgibt, wird der Mensch, wenngleich als solcher ungerecht (peccator), gerecht (iustus), also gerecht und Sünder zugleich (simul iustus et peccator) und damit zu einem neuen Menschsein befreit. Diese Gerechtigkeit ist nicht Ziel irgendwelcher Anstrengungen, sondern die Voraussetzung von allem, was ist, und ganz besonders: die Voraussetzung unseres Lebens.
Den Grund dafür hat Jesus von Nazareth mit seinem Leben und seinen Worten in der Bergpredigt gelegt: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“ (Matthäus 5,7). Wer auch immer sich um Gerechtigkeit in der Welt bemüht, darf sicher sein, dass dieses Bemühen nicht ohne Wirkung, nicht vergeblich sein wird.
Das ist das Vermächtnis an die Welt, das wir Jesus von Nazareth verdanken, den die Christen als Gott erkennen. Folgte man seiner Zusage, gäbe es in dieser Welt mehr Gerechtigkeit.