Gerechtigkeit und Tiere
Welche Regeln und Gesetze wollen wir uns als Mitglieder einer Gesellschaft selbst auferlegen? Nach welchen Grundsätzen wollen wir uns individuell beschränken, um gemeinschaftlich zu wachsen? Oft gelten solche Fragen als Ausgangspunkt der Suche nach Gerechtigkeit. Zugrunde liegt der Gedanke, dass „gerechte“ Normen in einer fairen Verhandlung der betroffenen Akteurinnen und Akteure bestimmt werden können. Diese fairen Ausgangsbedingungen mögen ein hohes Maß an Abstraktion von der derzeitigen gesellschaftlichen Realität erfordern und egoistisches oder parteiisches Taktieren per idealistischer Annahme ausschließen. Doch die Hypothese bleibt: Gerechtigkeit kann als hypothetischer Vertrag der Gesellschaftsmitglieder gedacht werden.[1]
Dieses Verständnis von Gerechtigkeit offenbart jedoch mitunter einen blinden Fleck. Zwar wird – zurecht – viel Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet, ob und wann die Vertragsbedingungen „fair“ sind. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit die hypothetischen Vertragsparteien hinreichend über die Möglichkeiten und Konsequenzen ihres Entschlusses informiert sind, statt aus einer Notlage heraus zu entscheiden und gegebenenfalls übervorteilt zu werden? Hier liegt der Fokus auf den materiellen und epistemischen Voraussetzungen einer fairen Verhandlungssituation für die Akteur:innen.
Wer regelt, und wer wird ge(maß)regelt?
Dabei gerät leicht in Vergessenheit, wer diese Akteur:innen eigentlich sind: Wer sitzt am (fiktiven) Verhandlungstisch, und wer bleibt außen vor? Meist zählt als „Gesellschaft“ jene Gruppe von Menschen, die im Hier und Jetzt interagieren und ihre Beziehungen zu regeln versuchen. Doch die so bestimmten Regeln schaffen Fakten, die in Raum und Zeit wirken. Die heutige Energiepolitik hat Konsequenzen für nachfolgende Generationen, die hiesige Wirtschafts- und Außenhandelspolitik betrifft Bürgerinnen und Bürger fremder Staaten. Doch bei einem eng gefassten Verständnis jener Gemeinschaft, die nach „gerechten“ Normen sucht, werden die Interessen dieser Gruppen nicht (direkt) berücksichtigt.[2]
Sicherlich: Es kommt – zum Glück – vor, dass wir Personen außerhalb unserer direkten Gemeinschaft in unsere Überlegungen einbeziehen. Eltern sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder und Enkelkinder, manche Konsument:innen bedenken die ökologischen und sozialen Auswirkungen, welche ihre Kaufentscheidungen in den Herkunftsländern haben. Doch damit werden jene Personen, die räumlich oder zeitlich von uns entfernt sind, allenfalls indirekt in die Gerechtigkeitsüberlegungen einbezogen. Und zwar nur dann, wenn sie uns wichtig sind, nicht weil sie wichtig sind.

Gerechtigkeit in Raum und Zeit
Vor diesem Hintergrund haben hier sowohl Mojib Latif als auch Martin Kaltschmitt und Detlef Schulz bereits angemahnt, die intergenerationellen und internationalen Dimensionen der Gerechtigkeitsdebatte nicht außer Acht zu lassen. Denn die Regeln unserer heutigen Gesellschaft betreffen auch Akteur:innen, die nicht direkt am Aushandeln eben jener Regeln beteiligt sind. Wir müssen diese Akteur:innen um ihrer selbst willen berücksichtigen, nicht nur zur Befriedigung unseres eigenen Gewissens. Wenn wir als Gesellschaft danach streben, das individuelle Erleben von Freude und das Vermeiden von Leid zu ermöglichen, dann sollte es keine Rolle spielen, wann und wo diese Freude gelebt wird.[3]
Doch wenn wir erkannt haben, dass wir keine besonderen Ansprüche aus unserem Hier und Jetzt ableiten können, dann zeigt sich: Die Ausweitung der Gruppe betroffener Akteur:innen reicht noch weiter. Denn nicht nur der Mensch ist ein empfindungsfähiges Wesen, das Freude erleben und Leid vermeiden möchte. Auch manche „höheren“ Tiere streben danach. Auch sie machen positive wie negative Erfahrungen, wenn sie mit ihrer Umwelt – und mit dem Menschen – interagieren. Diese Interaktion aber ist maßgeblich jenen Regeln unterworfen, die wir Menschen schaffen. Wie schon im Falle anderer Generationen und anderer Nationen zeigt sich also auch im Fall anderer Spezies: Sie sind vom Ausgang der Verhandlungen betroffen, dürfen aber nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Dieser kategorische Ausschluss von Tieren stellt damit eine rein auf den Menschen beschränkte, eine sogenannte anthropozentrische Auffassung von Gerechtigkeit dar. Und wie schon im Falle anderer Generationen und anderer Nationen, so ist auch im Falle anderer Spezies kritisch zu hinterfragen, ob ein solcher Ausschluss moralisch gerechtfertigt ist.
Von Mäusen und Menschen
Die Forderung, auch nichtmenschliche empfindungs- und leidensfähige Wesen in unsere Gerechtigkeitsüberlegungen mit einzubeziehen, muss dabei keinen Dammbruch bedeuten. Denn erstens können wir differenzieren zwischen solchen Tieren, die ein gewisses Bewusstsein ihrer selbst besitzen, und jenen Organismen oder Ökosystemen, die bloß auf Umwelteinflüsse reagieren. Eine gewisse Zentralisation des Nervensystems oder die Beobachtung von Mimik oder Fluchtverhalten bei negativen äußeren Einflüssen können Indikatoren sein, dass viele Tiere wohl wie wir Leid empfinden und es vermeiden wollen. Bei Unsicherheit sollte ein solches Vermögen eher zu- als abgesprochen werden: im Zweifel für die Angeklagten.

Zweitens können wir innerhalb der Tierwelt nicht nur anhand des Maßes an Empfindungsfähigkeit und Rationalität differenzieren. Vielmehr können wir auch fragen, in welchem Umfang einzelne Tiere (als Individuen oder als Spezies) den menschlichen Regeln unterworfen sind. Einige Gruppen von Tieren sind über Generationen hinweg durch Züchtung und Domestikation derart geprägt worden, dass sie alleine kaum mehr überlebensfähig sind. Dies gilt insbesondere angesichts der Zerstörung natürlichen Lebensraumes durch den Menschen im Anthropozän. Hier offenbaren sich besondere Pflichten unsererseits ihnen gegenüber. Diese Pflichten reichen weiter als gegenüber wild lebenden Tieren, die weniger vom Menschen beeinflusst sind. Aus diesem Grund ist es beispielsweise auch kein Gebot der Gerechtigkeit, dass wir Beutetiere in der Wildnis vor ihren Jägern schützen.
Zuletzt können wir, drittens, nicht nur innerhalb der Tierwelt differenzieren. Auch zwischen Tier und Mensch gibt es moralisch relevante Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Menschen besitzen in der Regel eine deutlich komplexere Wahrnehmung ihrer selbst in der Beziehung zu anderen und haben stark zukunftsgerichtete Präferenzen. Das mag Grund genug sein, ihrem Streben nach freudvollen Erfahrungen mehr Gewicht einzuräumen, wenn menschliche und tierische Interessen im Konflikt stehen. So kann beispielsweise die Tötung von Tieren durchaus gerechtfertigt sein, wenn sie der Subsistenzwirtschaft dient oder als Bestandsregulierung und Seuchenschutz fungiert. Als Konsumartikel wohlhabender Industrienationen mit hinreichenden fleischlosen Alternativen sollte tierisches Leben jedoch nicht dienen.[4]
Anthropozentrik im Anthropozän?
Vielleicht bilden solche Konflikte menschlicher und tierischer Interessen ohnehin eher die Ausnahme als die Regel. Denn es gibt allen Grund zur Annahme, dass ein nachhaltiger Umgang mit der nichtmenschlichen Natur – und damit auch mit Tieren – nicht nur im Interesse ebenjener Tiere ist, sondern auch im Interesse der Menschen. Das betrifft nachfolgende Generationen, die aller Voraussicht nach wie wir Freude an einem Leben in einer intakten und biodiversen Umwelt empfinden werden. Und es betrifft andere Nationen, in denen schon heute die Auswirkungen menschlichen Handels auf die Natur zu dramatischen sozialen und ökonomischen Verwerfungen führen.

Im Idealfall weisen also die verschiedenen Forderungen nach ökologischer Gerechtigkeit, wie sie bereits Anna Margaretha Horatschek in ihrem Essay diskutiert, in dieselbe Richtung. Dort, wo sie es nicht tun, hat die Stimme der Menschen sicherlich ein besonderes Gewicht. Aber es darf nicht die einzige Stimme sein, die gehört wird. Wenn wir am fiktiven Verhandlungstisch darüber beraten, welche Regeln wir uns als Gesellschaft geben wollen, müssen wir die Interessen all jener berücksichtigen, die von eben jenen Regeln betroffen sind. Dafür gilt es nicht nur räumliche und zeitliche Grenzen zu überwinden, sondern auch Speziesgrenzen. Gerade im Anthropozän gilt es, nicht bloß anthropozentrisch zu denken.
Fußnoten
- Vertragstheoretische Ansätze finden sich beispielsweise bei John Rawls (2012) und bei David Gauthier (1986). Im Englischen wird hier weiter differenziert zwischen „Contractualism“ (Rawls) und „Contractarianism“ (Gauthier).
- Fragen internationaler und globaler Gerechtigkeit werden beispielsweise von Thomas Pogge (2011) diskutiert. Das Thema intergenerationeller Gerechtigkeit findet sich bei Kirsten Meyer (2018).
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Als „Bibel“ der Tierrechtsbewegung gilt mitunter das Werk Peter Singers (1996).
Weiterführende Literatur
- Donaldson, Sue, und Will Kymlicka. 2013. Zoopolis: eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin: Suhrkamp.
- Gauthier, David. 1986. Morals by Agreement. Oxford: Oxford University Press.
- Meyer, Kirsten. 2018. Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik. Stuttgart: Reclam.
- Pogge, Thomas. 2011. Weltarmut und Menschenrechte: Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. Berlin: de Gruyter.
- Rawls, John. 2012. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Singer, Peter. 1996. Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.