Gerechtigkeit und Tiere

Gerechte Institutionen sollten das Wohl jener berücksichtigen, die ihnen unterworfen sind. Diese Unterwerfung reicht oft über Generationen-, Staats- und Speziesgrenzen hinaus. Ein Plädoyer dafür, Tiere in Gerechtigkeitsüberlegungen einzubeziehen.
Essay von Colin von Negenborn, 2. Dezember 2022

Zwei Galloway-Rinder mit langem braunen Fell auf einer grünen Weide mit hohem Gra
Galloway Rinder auf der Weide, art-gerechte Haltung?

Welche Regeln und Gesetze wollen wir uns als Mitglieder einer Gesellschaft selbst auferlegen? Nach welchen Grundsätzen wollen wir uns individuell beschränken, um gemeinschaftlich zu wachsen? Oft gelten solche Fragen als Ausgangspunkt der Suche nach Gerechtigkeit. Zugrunde liegt der Gedanke, dass „gerechte“ Normen in einer fairen Verhandlung der betroffenen Akteurinnen und Akteure bestimmt werden können. Diese fairen Ausgangsbedingungen mögen ein hohes Maß an Abstraktion von der derzeitigen gesellschaftlichen Realität erfordern und egoistisches oder parteiisches Taktieren per idealistischer Annahme ausschließen. Doch die Hypothese bleibt: Gerechtigkeit kann als hypothetischer Vertrag der Gesellschaftsmitglieder gedacht werden.[1]

Dieses Verständnis von Gerechtigkeit offenbart jedoch mitunter einen blinden Fleck. Zwar wird – zurecht – viel Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet, ob und wann die Vertragsbedingungen „fair“ sind. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit die hypothetischen Vertragsparteien hinreichend über die Möglichkeiten und Konsequenzen ihres Entschlusses informiert sind, statt aus einer Notlage heraus zu entscheiden und gegebenenfalls übervorteilt zu werden? Hier liegt der Fokus auf den materiellen und epistemischen Voraussetzungen einer fairen Verhandlungssituation für die Akteur:innen.

Wer regelt, und wer wird ge(maß)regelt?

Dabei gerät leicht in Vergessenheit, wer diese Akteur:innen eigentlich sind: Wer sitzt am (fiktiven) Verhandlungstisch, und wer bleibt außen vor? Meist zählt als „Gesellschaft“ jene Gruppe von Menschen, die im Hier und Jetzt interagieren und ihre Beziehungen zu regeln versuchen. Doch die so bestimmten Regeln schaffen Fakten, die in Raum und Zeit wirken. Die heutige Energiepolitik hat Konsequenzen für nachfolgende Generationen, die hiesige Wirtschafts- und Außenhandelspolitik betrifft Bürgerinnen und Bürger fremder Staaten. Doch bei einem eng gefassten Verständnis jener Gemeinschaft, die nach „gerechten“ Normen sucht, werden die Interessen dieser Gruppen nicht (direkt) berücksichtigt.[2]

Sicherlich: Es kommt – zum Glück – vor, dass wir Personen außerhalb unserer direkten Gemeinschaft in unsere Überlegungen einbeziehen. Eltern sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder und Enkelkinder, manche Konsument:innen bedenken die ökologischen und sozialen Auswirkungen, welche ihre Kaufentscheidungen in den Herkunftsländern haben. Doch damit werden jene Personen, die räumlich oder zeitlich von uns entfernt sind, allenfalls indirekt in die Gerechtigkeitsüberlegungen einbezogen. Und zwar nur dann, wenn sie uns wichtig sind, nicht weil sie wichtig sind.

Das Gemälde „Adam benennt die Tiere, aus der Geschichte von Adam und Eva“	 von Jan Brueghel der Jüngere aus dem 17. Jahrhundert. Es zeigt Adam unbekleidet, umrundet von verschiedenen Tieren unter einem Baum stehend.
Das Gemälde „Adam benennt die Tiere, aus der Geschichte von Adam und Eva“ von Jan Brueghel der Jüngere aus dem 17. Jahrhundert. Es zeigt Adam unbekleidet, umrundet von verschiedenen Tieren unter einem Baum stehend.

Gerechtigkeit in Raum und Zeit

Vor diesem Hintergrund haben hier sowohl Mojib Latif als auch Martin Kaltschmitt und Detlef Schulz bereits angemahnt, die intergenerationellen und internationalen Dimensionen der Gerechtigkeitsdebatte nicht außer Acht zu lassen. Denn die Regeln unserer heutigen Gesellschaft betreffen auch Akteur:innen, die nicht direkt am Aushandeln eben jener Regeln beteiligt sind. Wir müssen diese Akteur:innen um ihrer selbst willen berücksichtigen, nicht nur zur Befriedigung unseres eigenen Gewissens. Wenn wir als Gesellschaft danach streben, das individuelle Erleben von Freude und das Vermeiden von Leid zu ermöglichen, dann sollte es keine Rolle spielen, wann und wo diese Freude gelebt wird.[3]

Doch wenn wir erkannt haben, dass wir keine besonderen Ansprüche aus unserem Hier und Jetzt ableiten können, dann zeigt sich: Die Ausweitung der Gruppe betroffener Akteur:innen reicht noch weiter. Denn nicht nur der Mensch ist ein empfindungsfähiges Wesen, das Freude erleben und Leid vermeiden möchte. Auch manche „höheren“ Tiere streben danach. Auch sie machen positive wie negative Erfahrungen, wenn sie mit ihrer Umwelt – und mit dem Menschen – interagieren. Diese Interaktion aber ist maßgeblich jenen Regeln unterworfen, die wir Menschen schaffen. Wie schon im Falle anderer Generationen und anderer Nationen zeigt sich also auch im Fall anderer Spezies: Sie sind vom Ausgang der Verhandlungen betroffen, dürfen aber nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Dieser kategorische Ausschluss von Tieren stellt damit eine rein auf den Menschen beschränkte, eine sogenannte anthropozentrische Auffassung von Gerechtigkeit dar. Und wie schon im Falle anderer Generationen und anderer Nationen, so ist auch im Falle anderer Spezies kritisch zu hinterfragen, ob ein solcher Ausschluss moralisch gerechtfertigt ist.

Von Mäusen und Menschen

Die Forderung, auch nichtmenschliche empfindungs- und leidensfähige Wesen in unsere Gerechtigkeitsüberlegungen mit einzubeziehen, muss dabei keinen Dammbruch bedeuten. Denn erstens können wir differenzieren zwischen solchen Tieren, die ein gewisses Bewusstsein ihrer selbst besitzen, und jenen Organismen oder Ökosystemen, die bloß auf Umwelteinflüsse reagieren. Eine gewisse Zentralisation des Nervensystems oder die Beobachtung von Mimik oder Fluchtverhalten bei negativen äußeren Einflüssen können Indikatoren sein, dass viele Tiere wohl wie wir Leid empfinden und es vermeiden wollen. Bei Unsicherheit sollte ein solches Vermögen eher zu- als abgesprochen werden: im Zweifel für die Angeklagten.

Das Gemälde „Trial of Bill Burns”, von P. Mathews zeigt eine Szene in einem Gerichtssaal, in der ein Esel im Fokus steht. Das lachende Publikum richtet seine Aufmerksamkeit auf den Esel. Mehrere Gegenstände liegen verstreut auf den Boden.
Eine der ersten Anklagen wegen Tierquälerei: Darstellung eines Gerichtsprozesses von 1838. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, seinen Esel geschlagen zu haben. Es wird berichtet, dass der Ankläger das Tier, dessen Rechte er vertrat, im Gerichtssaal vorführte. ("Trial of Bill Burns", von P.Mathews, 1838)

Zweitens können wir innerhalb der Tierwelt nicht nur anhand des Maßes an Empfindungsfähigkeit und Rationalität differenzieren. Vielmehr können wir auch fragen, in welchem Umfang einzelne Tiere (als Individuen oder als Spezies) den menschlichen Regeln unterworfen sind. Einige Gruppen von Tieren sind über Generationen hinweg durch Züchtung und Domestikation derart geprägt worden, dass sie alleine kaum mehr überlebensfähig sind. Dies gilt insbesondere angesichts der Zerstörung natürlichen Lebensraumes durch den Menschen im Anthropozän. Hier offenbaren sich besondere Pflichten unsererseits ihnen gegenüber. Diese Pflichten reichen weiter als gegenüber wild lebenden Tieren, die weniger vom Menschen beeinflusst sind. Aus diesem Grund ist es beispielsweise auch kein Gebot der Gerechtigkeit, dass wir Beutetiere in der Wildnis vor ihren Jägern schützen.

Zuletzt können wir, drittens, nicht nur innerhalb der Tierwelt differenzieren. Auch zwischen Tier und Mensch gibt es moralisch relevante Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Menschen besitzen in der Regel eine deutlich komplexere Wahrnehmung ihrer selbst in der Beziehung zu anderen und haben stark zukunftsgerichtete Präferenzen. Das mag Grund genug sein, ihrem Streben nach freudvollen Erfahrungen mehr Gewicht einzuräumen, wenn menschliche und tierische Interessen im Konflikt stehen. So kann beispielsweise die Tötung von Tieren durchaus gerechtfertigt sein, wenn sie der Subsistenzwirtschaft dient oder als Bestandsregulierung und Seuchenschutz fungiert. Als Konsumartikel wohlhabender Industrienationen mit hinreichenden fleischlosen Alternativen sollte tierisches Leben jedoch nicht dienen.[4]

Eine leere Stierkampfarena in Sevilla, Spanien
Eine leere Stierkampfarena in Sevilla, Spanien

Anthropozentrik im Anthropozän?

Vielleicht bilden solche Konflikte menschlicher und tierischer Interessen ohnehin eher die Ausnahme als die Regel. Denn es gibt allen Grund zur Annahme, dass ein nachhaltiger Umgang mit der nichtmenschlichen Natur – und damit auch mit Tieren – nicht nur im Interesse ebenjener Tiere ist, sondern auch im Interesse der Menschen. Das betrifft nachfolgende Generationen, die aller Voraussicht nach wie wir Freude an einem Leben in einer intakten und biodiversen Umwelt empfinden werden. Und es betrifft andere Nationen, in denen schon heute die Auswirkungen menschlichen Handels auf die Natur zu dramatischen sozialen und ökonomischen Verwerfungen führen.

Anti-Stierkampf-Graffiti auf einer Wand in Sevilla. Es sind drei Abbildungen zu sehen. Die obere zeigt eine Person, welche einen spitzen Gegenstand in den Nacken eines Stiers sticht. Darüber ist zu lesen „Sevicia“. Die mittlere zeigt ein Portrait in roter Farbe mit dem Schriftzug „Carajita“ – „kleiner Liebling“. Die untere zeigt eine Hand, die eine Gabel hält, darunter der Schriftzug „Revolucion Vegetariana“ – „vegetarische Revolution“.
Anti-Stierkampf-Graffiti auf einer Wand in Sevilla. Es sind drei Abbildungen zu sehen. Die obere zeigt eine Person, welche einen spitzen Gegenstand in den Nacken eines Stiers sticht. Darüber ist zu lesen „Sevicia“. Die mittlere zeigt ein Portrait in roter Farbe mit dem Schriftzug „Carajita“ – „kleiner Liebling“. Die untere zeigt eine Hand, die eine Gabel hält, darunter der Schriftzug „Revolucion Vegetariana“ – „vegetarische Revolution“.

Im Idealfall weisen also die verschiedenen Forderungen nach ökologischer Gerechtigkeit, wie sie bereits Anna Margaretha Horatschek in ihrem Essay diskutiert, in dieselbe Richtung. Dort, wo sie es nicht tun, hat die Stimme der Menschen sicherlich ein besonderes Gewicht. Aber es darf nicht die einzige Stimme sein, die gehört wird. Wenn wir am fiktiven Verhandlungstisch darüber beraten, welche Regeln wir uns als Gesellschaft geben wollen, müssen wir die Interessen all jener berücksichtigen, die von eben jenen Regeln betroffen sind. Dafür gilt es nicht nur räumliche und zeitliche Grenzen zu überwinden, sondern auch Speziesgrenzen. Gerade im Anthropozän gilt es, nicht bloß anthropozentrisch zu denken.

Fußnoten

  1. Vertragstheoretische Ansätze finden sich beispielsweise bei John Rawls (2012) und bei David Gauthier (1986). Im Englischen wird hier weiter differenziert zwischen „Contractualism“ (Rawls) und „Contractarianism“ (Gauthier).
  2. Fragen internationaler und globaler Gerechtigkeit werden beispielsweise von Thomas Pogge (2011) diskutiert. Das Thema intergenerationeller Gerechtigkeit findet sich bei Kirsten Meyer (2018).
  3. Als „Bibel“ der Tierrechtsbewegung gilt mitunter das Werk Peter Singers (1996).
     

Weiterführende Literatur

  • Donaldson, Sue, und Will Kymlicka. 2013. Zoopolis: eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin: Suhrkamp.
  • Gauthier, David. 1986. Morals by Agreement. Oxford: Oxford University Press.
  • Meyer, Kirsten. 2018. Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik. Stuttgart: Reclam.
  • Pogge, Thomas. 2011. Weltarmut und Menschenrechte: Kosmopolitische Verantwortung und Reformen. Berlin: de Gruyter.
  • Rawls, John. 2012. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Singer, Peter. 1996. Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Dr. Colin von Negenborn

In seiner Forschung verbindet Colin von Negenborn die analytische Methodik der Mathematik und Mikroökonomie mit den normativen Fragestellungen der praktischen Philosophie. So beleuchtet er Fragen nach der Gerechtigkeit von Verteilungen und Verfahren: Wie kann eine „nachhaltige“ Ressourcennutzung die Balance zwischen heutigen und künftigen Bedürfnissen ermöglichen? Was bedeutet es, wenn Gemeingüter wie die Hohe See als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ gelten sollen? Und wie sehen überhaupt „faire“ Abstimmungsprozesse aus? Colin von Negenborn studierte u.a. Physik sowie Philosophy, Politics and Economics. Nach einer Promotion zu ökonomischem Design an der Humboldt- Universität Berlin arbeitete er als Postdoc an der CAU Kiel in den Fachbereichen Umweltethik und Internationales Recht. Ab Herbst 2022 forscht er an der Universität Hamburg im Rahmen des interdisziplinären Exzellenzprojekts „Grounds, Norms, Decisions“.