Gerechtigkeit in der Pflege

Pflege in Deutschland
Mit dem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung, wächst auch der Pflegebedarf. Dadurch wird die Frage immer wichtiger, wie Pflege den Pflegebedürftigen und den Pflegenden gerecht werden kann. Neben den ausgebildeten Pflegekräften, die im Bereich der ambulanten und stationären Versorgung (z.B. in Pflegeheimen) tätig sind, spielen vor allem die informell Pflegenden eine wichtige Rolle. Ihre Relevanz wird bereits im Sozialgesetzbuch hervorgehoben (§3 Vorrang der Pflege, SGB XI)1. Hauptsächlich sind dies Angehörige der Pflegebedürftigen, die unentgeltlich und ohne pflegerische Ausbildung Pflegeaufgaben übernehmen. Etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung2 in Deutschland ist informell pflegend tätig; sie stellen damit den größten Pflegedienst Deutschlands. Pflege findet also hauptsächlich im familiären oder zumindest privaten Bereich statt. In der öffentlichen Debatte findet dies noch zu selten Beachtung. Umso wichtiger ist es die Gerechtigkeit von Pflege gerade im Hinblick auf informelle Pflege zu diskutieren.
Die Perspektive der Pflegenden
Bereits ein erster Blick auf die Verteilung von informeller Pflegetätigkeit macht deutlich2, Gerechtigkeit in der Pflege ist stark verknüpft mit Geschlechtergerechtigkeit. Nicht nur im professionellen, sondern auch im privaten Kontext sind es noch immer Frauen, die hauptsächlich Pflege für gesundheitlich eingeschränkte und ältere Personen leisten2,3. Obwohl mit steigendem Alter auch mehr Männer Pflege übernehmen, gibt es bedeutende Unterschiede: Frauen leisten meist intensivere Pflege – sie leisten mehr Pflegestunden und übernehmen dabei häufiger Unterstützung bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. Hilfe beim Ankleiden, Baden oder beim Toilettengang)4. Gerade diese Formen von Pflege belasten pflegende Angehörigen besonders4,5. Schlechtere psychische Gesundheit sowie Hinweise auf eine Verschlechterung der physischen Gesundheit werden in der Forschung immer wieder festgestellt5,6. Dazu kommen soziale Folgen in Form von eingeschränkten gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und soziale Isolation7. Entsprechend sind Frauen durch diese immer noch gesellschaftlich unsichtbare, aber sich vielfältig auswirkende Fürsorgetätigkeit stärker in Gesundheit und Wohlbefinden gefährdet.
Hinzu kommt, dass zeitintensive Pflege die Berufstätigkeit ungünstig beeinflussen kann. Entsprechend steigt vor allem bei Frauen die Wahrscheinlichkeit von Frühberentung und Reduktion von Berufstätigkeit8. Hier ist auch von einer Wechselwirkung auszugehen – Personen, die bereits geringere Arbeitszeiten haben, übernehmen eher Pflegetätigkeit9. Auch dies sind laut Mikrozensus noch immer hauptsächlich Frauen10. Zudem können auch ohne Veränderung der Arbeitszeit, Produktivitätsverluste und vermehrte Fehlzeiten (z.B. Krankheitstage) auftreten11, die sich negativ auf Karrieremöglichkeiten und monetäre Ressourcen der Pflegenden auswirken können.

Entsprechend kann informelle Pflegetätigkeit auf verschiedenen Ebenen Einschränkungen und Einbußen für Pflegende und damit vor allem für Frauen mit sich bringen. Dies verschlechtert ihre Chancengleichheit und Verwirklichungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft, und trägt damit zu sozioökonomischen Geschlechtsunterschieden bei, wie der immer noch bestehenden Gender Pay Gap und der Gender Pension Gap12.
Auch unabhängig vom Geschlecht, zeigen die bisherigen Befunde, dass eine primäre Fokussierung der Versorgung der vor allem alternden pflegebedürftigen Bevölkerung durch informell Pflegende der Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zuwiderläuft. Diese Fokussierung der Versorgung zeichnet sich jedoch unter dem aktuellen Pflegesystem und Pflegeverständnis in der Gesellschaft hauptsächlich ab3 (siehe Grafik 1).
Die Perspektive der Gepflegten
Nun lässt sich argumentieren, dass die Schwerpunktsetzung in Deutschland auf informelle Pflege den Pflegebedürftigen und ihren Bedürfnissen gerecht werden soll. Doch ist dies überhaupt der Fall? Einschränkungen in der Autonomie und reduzierte Lebenszufriedenheit werden von Empfänger:innen informeller Pflege berichtet13,14. Häufig wird von Schuldgefühlen und Scham gegenüber den pflegenden Angehörigen erzählt. Pflegebedürftige machen sich Sorgen, den Angehörigen zur Last zu fallen, und um deren Gesundheit 15,16. Dies ist wenig überraschend, schließlich handelt es sich meist um nahestehende Personen deren Wohlergehen den Pflegebedürftigen ebenso wichtig ist wie umgekehrt. Berücksichtigt werden muss auch, dass eine angemessene Pflege gewisse Kompetenzen und Fachwissen voraussetzt, das pflegende Angehörige im Vergleich zu ausgebildeten Pflegefachkräften meist nicht haben. Daher ist im Hinblick auf angemessene, den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen gerecht werdende Pflege fraglich, ob die aktuelle Schwerpunktsetzung in der Pflege wirklich eine zukunftsträchtige Lösung für den wachsenden Pflegebedarf sein kann.
Auch hier zeigen sich Verzahnungen mit Geschlechtergerechtigkeit. Der Großteil von Pflegeempfangenden, die in Deutschland mit dem Pflegegrad erfasst werden, sind Frauen3. Davon wird ein größerer Anteil, verglichen mit Männern, durch das professionelle Pflegesystem versorgt3. Ausgehend von einem durchschnittlichen heterosexuellen Beziehungsbild, trägt unter anderem die höhere Lebenserwartung von Frauen und dass sie meist die jüngere Person in ihrer Beziehung sind, dazu bei, dass ihre männlichen Partner häufig früher Pflegebedarf aufweisen oder früher versterben und somit seltener als informell Pflegeleistende für die Partnerin verfügbar sind. Das heißt, sollte die Fokussierung auf das informelle Pflegenetzwerk tatsächlich Pflegebedürftigen zugunsten kommen, profitieren pflegebedürftige Frauen derzeit weniger davon als pflegebedürftige Männer.
Auch die Problematik von Lohn- und Rentenunterschieden spielt eine Rolle (die erwähnten Gender Pay Gap und Gender Pension Gap12). Da Pflege von Frauen meist länger, ohne verfügbaren pflegenden Partner und oft durch professionelle Dienstleister finanziert werden muss, ist von höheren Pflegekosten auszugehen. Frauen stehen jedoch durch die erwähnten Unterschiede grundlegend weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung und damit weniger Möglichkeiten Pflegeleistungen oder zusätzliche Pflegeversicherungen zu finanzieren. Altersarmut, die hauptsächlich Frauen betrifft17, wirkt hier mit dem unterfinanzierten deutschen Pflegesystem zusammen und trägt zur Ungerechtigkeit auch auf Seite der Gepflegten bei.
Ein Ausblick auf die globale Perspektive
Die sozioökonomische Situation spielt eine wichtige Rolle, um sich angemessene Pflege leisten zu können18. Dies hat nicht nur auf individueller, sondern auch auf globaler Ebene Bedeutung. Menschen mit höherem Einkommen sind eher in der Lage, zusätzliche Pflegeleistungen zu finanzieren wie beispielsweise Vollzeitbetreuungskräfte, die mit den Pflegebedürftigen im häuslichen Kontext zusammenleben. Diese sogenannten Live-Ins sind meist migrantische Arbeitskräfte aus einkommensschwächeren Ländern, die ohne pflegerische Ausbildung (unter meist prekären Arbeitsbedingungen) für Pflegetätigkeit eingestellt werden19. In Deutschland sind dies vor allem Personen aus Osteuropa. Diese Pflegepersonen fehlen dann in ihren Herkunftsländern als Pflege- und Arbeitskräfte und müssen dort anderweitig ersetzt werden, wodurch globale Sorgeketten entstehen können20. Bei den Live-Ins handelt es sich fast ausschließlich um Frauen19. Entsprechend wird die zuvor beschriebene soziale Ungerechtigkeit, die sich ungleich mehr auf Frauen auswirkt, zwar auf nationaler Ebene in den einkommensstarken Schichten anteilig abgefangen, aber dafür auf internationaler Ebene an einkommensschwächere Gruppen weitergegeben. So verlagert sich die Ungerechtigkeit aus den nationalen Pflegesystemen und verstärkt soziale Ungerechtigkeit zwischen den Ländern. Nationale Pflegeentscheidungen haben daher auch eine globale Gerechtigkeitsdimension.
Wie kann gerechte Pflege aussehen?
Die Betrachtung der aktuellen Pflegesituation und deren Auswirkungen zeigt, dass das derzeitige deutsche Pflegesystem nicht gerecht ist. Berücksichtigt man die gesundheitlichen Folgen, die verstärkte Belastung und finanziellen Einschränkungen der vor allem weiblichen Bevölkerung durch das derzeitige Pflegesystem, so wird das System aktuell weder den Pflegenden noch den Gepflegten gerecht. Vielmehr birgt es langfristige Gefahren für Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt und benachteiligt vor allem Frauen und Personen mit geringerem Einkommen.
Obwohl diese Diskussion nur die Spitze des Eisbergs darstellt, zeigt sich die Notwendigkeit, Pflege aus dem Kontext der Privathaushalte heraus zu holen, sie sichtbar zu machen und im öffentlichen Raum zu diskutieren. Deutlich wird auch, dass eine Antwort auf die Frage, wie gerechte Pflege aussehen kann, nur unter Berücksichtigung aller betroffenen Gruppen gefunden werden kann. Neben den Pflegebedürftigen und professionellen Pflegedienstleistern gehören dazu auch pflegende Angehörige sowie migrantische Betreuungskräfte. Zudem wird ersichtlich, dass Gerechtigkeit in der Pflege noch immer eine wichtige Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit darstellt. Forschung, Politik und Gesellschaft müssen Pflege daher unter Berücksichtigung dieser Aspekte neu denken, um Alternativen zu finden, welche die Herausforderung des wachsenden Pflegebedarfs nicht durch Verstärkung globaler Ungerechtigkeit lösen, sondern den Bedürfnissen pflegender und pflegebedürftiger Personen im globalen Kontext gerecht werden.
Quellenverzeichnis
1. Bundesamt für Justiz. Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) Soziale Pflegeversicherung Bundesamt für Justiz; 1994.
2. Verbakel E, Tamlagsrønning S, Winstone L, Fjær EL, Eikemo TA. Informal care in Europe: findings from the European Social Survey (2014) special module on the social determinants of health. Eur J Public Health. Feb 1 2017;27(suppl_1):90-95. doi:10.1093/eurpub/ckw229
3. Statistisches Bundesamt. Pflegestatistik 2019: Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung - Deutschlandergebnisse. 2020.
4. Pinquart M, Sörensen S. Gender differences in caregiver stressors, social resources, and health: An updated meta-analysis. The Journals of Gerontology Series B: Psychological Sciences and Social Sciences. 2006;61(1):33-45.
5. Bom J, Bakx P, Schut F, van Doorslaer E. The Impact of Informal Caregiving for Older Adults on the Health of Various Types of Caregivers: A Systematic Review. Gerontologist. Sep 17 2019;59(5):e629-e642. doi:10.1093/geront/gny137
6. Allen AP, Curran EA, Duggan A, et al. A systematic review of the psychobiological burden of informal caregiving for patients with dementia: Focus on cognitive and biological markers of chronic stress. Neuroscience and Biobehavioral Reviews. Feb 2017;73:123-164. doi:10.1016/j.neubiorev.2016.12.006
7. Greenwood N, Mezey G, Smith R. Social exclusion in adult informal carers: A systematic narrative review of the experiences of informal carers of people with dementia and mental illness. Maturitas. Jun 2018;112:39-45. doi:10.1016/j.maturitas.2018.03.011
8. Meng A. Informal Caregiving and the Retirement Decision. German Economic Review. 2012;13(3):307-330. doi:10.1111/j.1468-0475.2011.00559.x
9. Bauer JM, Sousa-Poza A. Impacts of Informal Caregiving on Caregiver Employment, Health, and Family. journal article. Journal of Population Ageing. September 01 2015;8(3):113-145. doi:10.1007/s12062-015-9116-0
10. Statistisches Bundesamt. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2020: Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung, Ergebnisse des Mikrozensus zum Arbeitsmarkt (Endgültige Ergebnisse). Statistisches Bundesamt; 2022;Fachserie 1(Reihe 4). https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/_inhalt.html#_a2w9emp4y
11. Coumoundouros C, Ould Brahim L, Lambert SD, McCusker J. The direct and indirect financial costs of informal cancer care: A scoping review. Health Soc Care Community. Sep 2019;27(5):e622-e636. doi:10.1111/hsc.12808
12. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,. 4. Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. Stand: Juli 2020. 25.08.2022.
13. Zwar L, König HH, Hajek A. Life satisfaction of informal care recipients: Findings from the German Ageing Survey. British Journal of Health Psychology. 2019;24(4):859-875.
14. Zwar L, König H-H, Hajek A. Perceived autonomy of informal care recipients and the relevance of self-esteem. Psychology and Aging. 2022;37:542-555. doi:10.1037/pag0000680
15. Barken R. Reconciling tensions: Needing formal and family/friend care but feeling like a burden. Canadian journal on aging = La revue canadienne du vieillissement. Mar 2017;36(1):81-96. doi:10.1017/s0714980816000672
16. Zygouri I, Cowdell F, Ploumis A, Gouva M, Mantzoukas S. Gendered experiences of providing informal care for older people: a systematic review and thematic synthesis. BMC Health Services Research. 07/23 2021;21doi:10.1186/s12913-021-06736-2
17. Fey JW, Michael. Hohes Alter in Deutschland (D80+) Kurzberichte 2: Das Einkommen der Hochaltrigen in Deutschland. 2021.
18. Quashie NT, Wagner M, Verbakel E, Deindl C. Socioeconomic differences in informal caregiving in Europe. European Journal of Ageing. 2022/09/01 2022;19(3):621-632. doi:10.1007/s10433-021-00666-y
19. Freitag N. Arbeitsausbeutung beenden: Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland. (Analyse / Deutsches Institut für Menschenrechte). . Deutsches Institut für Menschenrechte; 2020. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-71165-4
20. Yeates N. Global care chains: a state‐of‐the‐art review and future directions in care transnationalization research. Global Networks. 2012;12(2):135-154.