Gerechtigkeit in der Pflege

Ist das aktuelle Pflegesystem gerecht? Die nachfolgenden Überlegungen machen deutlich: Wir müssen Pflege neu denken. Insbesondere unter Berücksichtigung des größten Pflegedienst Deutschlands: pflegende, vor allem weibliche, Angehörige.
Essay von Larissa Zwar, 16. November 2022

Eine Frau hält die Hände einer älteren Frau, beide lächeln.
Es sind noch immer Frauen, die hauptsächlich Pflege für gesundheitlich eingeschränkte und ältere Personen leisten.

Pflege in Deutschland

Mit dem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung, wächst auch der Pflegebedarf. Dadurch wird die Frage immer wichtiger, wie Pflege den Pflegebedürftigen und den Pflegenden gerecht werden kann. Neben den ausgebildeten Pflegekräften, die im Bereich der ambulanten und stationären Versorgung (z.B. in Pflegeheimen) tätig sind, spielen vor allem die informell Pflegenden eine wichtige Rolle. Ihre Relevanz wird bereits im Sozialgesetzbuch hervorgehoben (§3 Vorrang der Pflege, SGB XI)1. Hauptsächlich sind dies Angehörige der Pflegebedürftigen, die unentgeltlich und ohne pflegerische Ausbildung Pflegeaufgaben übernehmen. Etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung2 in Deutschland ist informell pflegend tätig; sie stellen damit den größten Pflegedienst Deutschlands. Pflege findet also hauptsächlich im familiären oder zumindest privaten Bereich statt. In der öffentlichen Debatte findet dies noch zu selten Beachtung. Umso wichtiger ist es die Gerechtigkeit von Pflege gerade im Hinblick auf informelle Pflege zu diskutieren.

Die Perspektive der Pflegenden

Bereits ein erster Blick auf die Verteilung von informeller Pflegetätigkeit macht deutlich2, Gerechtigkeit in der Pflege ist stark verknüpft mit Geschlechtergerechtigkeit. Nicht nur im professionellen, sondern auch im privaten Kontext sind es noch immer Frauen, die hauptsächlich Pflege für gesundheitlich eingeschränkte und ältere Personen leisten2,3. Obwohl mit steigendem Alter auch mehr Männer Pflege übernehmen, gibt es bedeutende Unterschiede: Frauen leisten meist intensivere Pflege – sie leisten mehr Pflegestunden und übernehmen dabei häufiger Unterstützung bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B. Hilfe beim Ankleiden, Baden oder beim Toilettengang)4. Gerade diese Formen von Pflege belasten pflegende Angehörigen besonders4,5. Schlechtere psychische Gesundheit sowie Hinweise auf eine Verschlechterung der physischen Gesundheit werden in der Forschung immer wieder festgestellt5,6. Dazu kommen soziale Folgen in Form von eingeschränkten gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und soziale Isolation7. Entsprechend sind Frauen durch diese immer noch gesellschaftlich unsichtbare, aber sich vielfältig auswirkende Fürsorgetätigkeit stärker in Gesundheit und Wohlbefinden gefährdet.

Hinzu kommt, dass zeitintensive Pflege die Berufstätigkeit ungünstig beeinflussen kann. Entsprechend steigt vor allem bei Frauen die Wahrscheinlichkeit von Frühberentung und Reduktion von Berufstätigkeit8. Hier ist auch von einer Wechselwirkung auszugehen – Personen, die bereits geringere Arbeitszeiten haben, übernehmen eher Pflegetätigkeit9. Auch dies sind laut Mikrozensus noch immer hauptsächlich Frauen10. Zudem können auch ohne Veränderung der Arbeitszeit, Produktivitätsverluste und vermehrte Fehlzeiten (z.B. Krankheitstage) auftreten11, die sich negativ auf Karrieremöglichkeiten und monetäre Ressourcen der Pflegenden auswirken können.

Ein älterer Mann unterstützt eine ältere Frau beim Aufstehen aus einem gelben Sessel, sie stützt sich auf einen Gehstock.
Pflegende Männer sind auch im privaten Bereich eher die Ausnahme. Frauen leisten mehr Pflegestunden und übernehmen belastendere Aufgaben.

Entsprechend kann informelle Pflegetätigkeit auf verschiedenen Ebenen Einschränkungen und Einbußen für Pflegende und damit vor allem für Frauen mit sich bringen. Dies verschlechtert ihre Chancengleichheit und Verwirklichungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft, und trägt damit zu sozioökonomischen Geschlechtsunterschieden bei, wie der immer noch bestehenden Gender Pay Gap und der Gender Pension Gap12.

Auch unabhängig vom Geschlecht, zeigen die bisherigen Befunde, dass eine primäre Fokussierung der Versorgung der vor allem alternden pflegebedürftigen Bevölkerung durch informell Pflegende der Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zuwiderläuft. Diese Fokussierung der Versorgung zeichnet sich jedoch unter dem aktuellen Pflegesystem und Pflegeverständnis in der Gesellschaft hauptsächlich ab3 (siehe Grafik 1).

Ein Kreisdiagramm in bräunlichen Farbtönen zeigt die Pflegeversorgung in Deutschland gemäß der Pflegestatistik aus dem Jahr 2019: Demnach erfolgen 20 Prozent der Pflege vollstationär, 24 Prozent Zuhause durch ambulante Dienste mit / ohne pflegende Angehörige und 56 Prozent Zuhause ausschließlich durch Angehörige.
Pflege findet zu einem großen Teil im familiären oder zumindest privaten Bereich statt.

Die Perspektive der Gepflegten

Nun lässt sich argumentieren, dass die Schwerpunktsetzung in Deutschland auf informelle Pflege den Pflegebedürftigen und ihren Bedürfnissen gerecht werden soll. Doch ist dies überhaupt der Fall? Einschränkungen in der Autonomie und reduzierte Lebenszufriedenheit werden von Empfänger:innen informeller Pflege berichtet13,14. Häufig wird von Schuldgefühlen und Scham gegenüber den pflegenden Angehörigen erzählt. Pflegebedürftige machen sich Sorgen, den Angehörigen zur Last zu fallen, und um deren Gesundheit 15,16. Dies ist wenig überraschend, schließlich handelt es sich meist um nahestehende Personen deren Wohlergehen den Pflegebedürftigen ebenso wichtig ist wie umgekehrt. Berücksichtigt werden muss auch, dass eine angemessene Pflege gewisse Kompetenzen und Fachwissen voraussetzt, das pflegende Angehörige im Vergleich zu ausgebildeten Pflegefachkräften meist nicht haben. Daher ist im Hinblick auf angemessene, den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen gerecht werdende Pflege fraglich, ob die aktuelle Schwerpunktsetzung in der Pflege wirklich eine zukunftsträchtige Lösung für den wachsenden Pflegebedarf sein kann.

Auch hier zeigen sich Verzahnungen mit Geschlechtergerechtigkeit. Der Großteil von Pflegeempfangenden, die in Deutschland mit dem Pflegegrad erfasst werden, sind Frauen3. Davon wird ein größerer Anteil, verglichen mit Männern, durch das professionelle Pflegesystem versorgt3. Ausgehend von einem durchschnittlichen heterosexuellen Beziehungsbild, trägt unter anderem die höhere Lebenserwartung von Frauen und dass sie meist die jüngere Person in ihrer Beziehung sind, dazu bei, dass ihre männlichen Partner häufig früher Pflegebedarf aufweisen oder früher versterben und somit seltener als informell Pflegeleistende für die Partnerin verfügbar sind. Das heißt, sollte die Fokussierung auf das informelle Pflegenetzwerk tatsächlich Pflegebedürftigen zugunsten kommen, profitieren pflegebedürftige Frauen derzeit weniger davon als pflegebedürftige Männer.

Auch die Problematik von Lohn- und Rentenunterschieden spielt eine Rolle (die erwähnten Gender Pay Gap und Gender Pension Gap12). Da Pflege von Frauen meist länger, ohne verfügbaren pflegenden Partner und oft durch professionelle Dienstleister finanziert werden muss, ist von höheren Pflegekosten auszugehen. Frauen stehen jedoch durch die erwähnten Unterschiede grundlegend weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung und damit weniger Möglichkeiten Pflegeleistungen oder zusätzliche Pflegeversicherungen zu finanzieren. Altersarmut, die hauptsächlich Frauen betrifft17, wirkt hier mit dem unterfinanzierten deutschen Pflegesystem zusammen und trägt zur Ungerechtigkeit auch auf Seite der Gepflegten bei.

Ein Ausblick auf die globale Perspektive

Die sozioökonomische Situation spielt eine wichtige Rolle, um sich angemessene Pflege leisten zu können18. Dies hat nicht nur auf individueller, sondern auch auf globaler Ebene Bedeutung. Menschen mit höherem Einkommen sind eher in der Lage, zusätzliche Pflegeleistungen zu finanzieren wie beispielsweise Vollzeitbetreuungskräfte, die mit den Pflegebedürftigen im häuslichen Kontext zusammenleben. Diese sogenannten Live-Ins sind meist migrantische Arbeitskräfte aus einkommensschwächeren Ländern, die ohne pflegerische Ausbildung (unter meist prekären Arbeitsbedingungen) für Pflegetätigkeit eingestellt werden19. In Deutschland sind dies vor allem Personen aus Osteuropa. Diese Pflegepersonen fehlen dann in ihren Herkunftsländern als Pflege- und Arbeitskräfte und müssen dort anderweitig ersetzt werden, wodurch globale Sorgeketten entstehen können20. Bei den Live-Ins handelt es sich fast ausschließlich um Frauen19. Entsprechend wird die zuvor beschriebene soziale Ungerechtigkeit, die sich ungleich mehr auf Frauen auswirkt, zwar auf nationaler Ebene in den einkommensstarken Schichten anteilig abgefangen, aber dafür auf internationaler Ebene an einkommensschwächere Gruppen weitergegeben. So verlagert sich die Ungerechtigkeit aus den nationalen Pflegesystemen und verstärkt soziale Ungerechtigkeit zwischen den Ländern. Nationale Pflegeentscheidungen haben daher auch eine globale Gerechtigkeitsdimension.

Der Arm einer Frau liegt auf der Schulter eines im Rollstuhl sitzenden älteren Mannes, der dem Betrachter den Rücken zukehrt.
Das aktuelle Pflegesystem ist nicht gerecht, sowohl für die Pflegenden als auch für die Gepflegten.

Wie kann gerechte Pflege aussehen?

Die Betrachtung der aktuellen Pflegesituation und deren Auswirkungen zeigt, dass das derzeitige deutsche Pflegesystem nicht gerecht ist. Berücksichtigt man die gesundheitlichen Folgen, die verstärkte Belastung und finanziellen Einschränkungen der vor allem weiblichen Bevölkerung durch das derzeitige Pflegesystem, so wird das System aktuell weder den Pflegenden noch den Gepflegten gerecht. Vielmehr birgt es langfristige Gefahren für Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt und benachteiligt vor allem Frauen und Personen mit geringerem Einkommen.

Obwohl diese Diskussion nur die Spitze des Eisbergs darstellt, zeigt sich die Notwendigkeit, Pflege aus dem Kontext der Privathaushalte heraus zu holen, sie sichtbar zu machen und im öffentlichen Raum zu diskutieren. Deutlich wird auch, dass eine Antwort auf die Frage, wie gerechte Pflege aussehen kann, nur unter Berücksichtigung aller betroffenen Gruppen gefunden werden kann. Neben den Pflegebedürftigen und professionellen Pflegedienstleistern gehören dazu auch pflegende Angehörige sowie migrantische Betreuungskräfte. Zudem wird ersichtlich, dass Gerechtigkeit in der Pflege noch immer eine wichtige Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit darstellt. Forschung, Politik und Gesellschaft müssen Pflege daher unter Berücksichtigung dieser Aspekte neu denken, um Alternativen zu finden, welche die Herausforderung des wachsenden Pflegebedarfs nicht durch Verstärkung globaler Ungerechtigkeit lösen, sondern den Bedürfnissen pflegender und pflegebedürftiger Personen im globalen Kontext gerecht werden.

Quellenverzeichnis

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Dr. Larissa Zwar

Larissa Zwar studierte Psychologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, der Freien Universität in Berlin und der Bangor Universität in Wales. Für ihre Promotion 2020 zu gesundheitlichen und psychosozialen Folgen von informeller Pflege für Pflegende und Gepflegte erhielt sie den Uwe Koch-Gromus Promotionspreis am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Ihre Forschung ist interdisziplinär ausgerichtet und bezieht sich primär auf die Disziplinen Psychologie, Gerontologie und Versorgungsforschung. Im Rahmen ihres PostDocs und für die Habilitation arbeitet sie derzeit am Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung des UKE an Projekten zur Vertiefung ihrer Schwerpunkte informelle Pflege, erfolgreiches Altern und Stigmatisierung und Diskriminierung im Kontext der Pflege von älteren Personen.