Zum russischen Verständnis von Gerechtigkeit

„Pravda“ gilt als spezifisch russisches Gegenkonzept zu einem westlich-individualistischen Gerechtigkeitsverständnis. Als einer in der Gemeinschaft geteilten inneren Überzeugung im Recht zu sein, dient sie auch der Legitimierung hegemonialer Ansprüche.
Essay von Ulrike Jekutsch, 15. Dezember 2022

Eine Panorama-Aufnahme des Moskauer Regierungsviertels. Es ist unter anderem der Kreml und die Christ-Erlöser-Kathedrale zu erkennen.
Eine Panorama-Aufnahme des Moskauer Regierungsviertels. Es ist unter anderem der Kreml und die Christ-Erlöser-Kathedrale zu erkennen.

Gerechtigkeit ist ein vieldeutiger, multidimensionaler Begriff, der in Abhängigkeit von seinem Anwendungsgebiet (Individuum, Familie, Staat), seinen Kontextualisierungen (politisch, sozial, international, global) und der jeweiligen Kultur unterschiedliche Ausprägungen erfährt. Gemeinsam ist ihm ein universalistischer Kern, insofern alle Völker, alle Kulturen dieser Erde eine Vorstellung von Gerechtigkeit entwickelt haben; die jeweilige Füllung des Begriffs kann allerdings von Kultur zu Kultur, von Region zu Region differieren.

Ein Ausschnitt des Titelblatts der russischen Tageszeitung „Pravda“ vom 10. Juli 1953.
Ein Ausschnitt des Titelblatts der russischen Tageszeitung „Pravda“ vom 10. Juli 1953.

„Pravda“ als spezifisches russisches Verständnis von Gerechtigkeit

Die russische Sprache hat zwei etymologisch mit „pravo“ (Recht) verbundene Wörter, die „Gerechtigkeit“ bezeichnen und die häufig gegeneinander ausgespielt werden: Während „spravedlivost‘“ die Angemessenheit, Rechtmäßigkeit, Ausgewogenheit von Gesetzen, Gerichtsentscheidungen usw. bezeichnet und somit eine (zumindest in europäischer Sicht) universalistische Auffassung des Begriffs abdeckt, steht das ältere Wort „pravda“, das als „Wahrheit“ oder auch als „Recht“, „Gerechtigkeit“ übersetzt werden kann, für ein spezifisch russisches Konzept von Gerechtigkeit als einer in der Gemeinschaft geteilten „inneren (‚ursprünglichen‘, auch ‚von Gott gegebenen‘) Überzeugung, in der Wahrheit, im Recht, in der Gerechtigkeit zu sein“. Das Konzept der „pravda“ als Merkmal einer durch das Gefühl „innerer Gerechtigkeit“ verbundenen Gemeinschaft der Russen wurde im 19. Jahrhundert von den russischen Slavophilen als ein spezifisch russisches der als rational, individualistisch und formal(-juristisch) abgewerteten westlichen Auffassung von Gerechtigkeit gegenübergestellt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wendete die eurasische Bewegung die konzeptionelle Unterscheidung als Gegensatz des orthodox-ideokratischen Gerechtigkeitsstaates (gosudarstvo pravdy) versus liberal-demokratischen Rechtsstaat ins Politische. Die postsowjetische Phase setzte und setzt diese „russische Idee“ weiterhin in Gegensatz zu den als „liberal“ diffamierten Werten und Menschenrechten der westlichen Welt. Das gemeinsame Gefühl „recht zu haben“ und die zugeordneten „genuin russischen Werte“ der Autokratie, Orthodoxie und der traditionellen Familie werden höher als formelle Rechtsnormen geschätzt.

Ein skizzenhaftes Selbstporträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, der den Betrachter direkt anschaut und dabei Stift und Papier hält.
Ein skizzenhaftes Selbstporträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, der den Betrachter direkt anschaut und dabei Stift und Papier hält.

Die „russische Idee“ als Legitimation regionaler Machtansprüche

Diese „russische Idee“ wird, wie wir nicht erst in diesem Jahr gesehen haben, von den höchsten staatlichen und kirchlichen Instanzen zur Legitimierung der Entscheidungen der Staatsführung einschließlich des Angriffs auf die Ukraine eingesetzt. Russland sieht sich als Repräsentant des Ostens Europas und Nordasiens – wie steht es zu den westlich von ihm angesiedelten Nationen der Weißrussen und Ukrainer? Alle drei ostslavischen Staaten sehen in der Kiever Rus‘, dem ersten ostslavischen Staat des Mittelalters mit seinem Zentrum Kiev, ihre staatlichen Anfänge, ihre Frühgeschichte, sie bezeichnen sich traditionell als Brudervölker. Die Russen sind diejenigen, die während der Jahrhunderte der Tatarenherrschaft ihren Moskauer Staat bilden und die angrenzenden Völker und Regionen, einschließlich der tatarisch beherrschten Gebiete, einbinden und zur europäischen Großmacht aufsteigen konnten. Sie haben eine imperiale russische Kultur entwickelt, die die kulturelle wie politische Unterlegenheit der in ihrem Machtbereich integrierten Völker als selbstverständlich gegeben annimmt.

Demgegenüber ist die historische Entwicklung der ukrainischen und weißrussischen Nation durch sich verändernde regionale Segmentierungen zwischen benachbarten Großreichen, durch zahlreiche Verwerfungen und die Unterdrückung politischer wie kultureller Autonomiebestrebungen gekennzeichnet. Das nationale Erwachen der Ukrainer beginnt im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem programmatischen literarischen Werk des Nationaldichters Taras Ševčenko, der als Leibeigener eines russischen Herrn zum Kunstmaler ausgebildet und später von Russen freigekauft wurde. Seine der Hochromantik zuzurechnenden Lieder klagen die Unterdrückung, Not und Leiden des ukrainischen Volkes an, sie führten zu seiner Verurteilung zur sibirischen Zwangsarbeit und zu einem Verbot des Drucks ukrainischer Schriften und Zeitungen im Russischen Reich. In den Jahren der Revolution und des Bürgerkriegs entstand bis 1921 eine freie ukrainische Republik, die jedoch bald einer sozialistischen ukrainischen Sowjetrepublik weichen musste. Zwar sahen die aufeinanderfolgenden Verfassungen der Sowjetunion theoretisch ein Recht der Republiken zum Austritt aus dem Verbund vor, doch stand es nur auf dem Papier. Erst Anfang der 1990 Jahre wurde es zur realen Option, die von der Ukraine und von Weißrussland 1991 wahrgenommen wurde.

Der Autor Serhij Zadan hält ein Mikrofon in der Hand und liest aus seinem Roman vor.
Der Autor Serhij Zadan hält ein Mikrofon in der Hand und liest aus seinem Roman vor.

Sprachliche Identität in der Ukraine und Belarus

Bis 1991 waren die Ukraine und Weißrussland Provinzen des Russischen Reichs beziehungsweise der Sowjetunion, in denen Russisch die Lingua franca war, die alle nichtrussischen Einwohner als erste Fremdsprache lernten. Beide, Russisch wie Ukrainisch beziehungsweise Weißrussisch, waren dort offizielle Amtssprachen. In der Praxis war Russisch die Sprache mit dem höheren Prestige, die Sprache des sozialen Aufstiegs in den Städten, während auf dem Land die jeweilige Muttersprache dominierte, die das Stigma der Provinzialität bekam.

Vom Land in die Stadt umsiedelnde Ukrainer übernahmen dort häufig das Russische als ihre Sprache, die sie oft nicht vollständig frei beherrschten – der „Suržyk“ entstand, eine russische und ukrainische Elemente mischende Umgangssprache. Entsprechendes spielte sich in Weißrussland ab – die dortige Mischsprache „Trasjanka“ ist wie der „Suržyk“ seit einigen Jahren zum Forschungsgegenstand der slavistischen Linguistik geworden. Seit der Loslösung der Ukraine und Weißrussland aus der Sowjetunion 1991 sind sich beide Länder ihrer eigenen nationalen Identität, Geschichte und Sprache, ihrer eigenen Traditionen stärker bewusst geworden, in der Ukraine freier, breiter und ungehinderter als in Belarus‘. Der Char’kiver Schriftsteller Serhij Žadan hat die nach 1991 in der Ostukraine noch verbreitete Geringschätzung des Ukrainischen als Verinnerlichung der Fremdzuschreibung durch das Russische an der zentralen Figur seines Romans „Internat“ aufgezeigt: Paša ist „Lehrer der Sprache“, die im ganzen Roman unbenannt bleibt, offensichtlich von geringem Prestige und ebenso geringer Bedeutung im Schulcurriculum ist und auf entsprechend niedriges Interesse der Schüler trifft.

Kulturelle Stereotype dienen der Rechtfertigung eines Angriffskrieges

Jeder Versuch Russlands, ukrainische Gebiete zu separieren und in die Russische Föderation zu integrieren, angefangen von den Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen im Donbass und Luhansk über die Annexion der Krim während des Euro-Maidans bis zum seit dem 24. Februar 2022 andauernden russischen Angriffskrieg rief einen neuen Schub ukrainischer nationaler Bewusstwerdung hervor. Serhij Žadan erwähnt wiederholt in seinem Tagebuch der ersten vier Monate dieses Krieges, dass die Bevölkerung „ausschließlich ukrainisch“ zu sprechen beginnt, dass „aus den Charkiwern heute ihr Ukrainischsein aufscheint“. In Russland dagegen änderte sich der Blick auf die ostslavischen Nachbarn kaum, deren Nationalsprachen nach wie vor von vielen Russen als Dialekte des Russischen wahrgenommen werden. Die weit verbreiteten Stereotypen „wir sind eins“ – Ukrainer sind Kleinrussen (malorossijane), die Ukraine ist Teil Russlands, Ukrainisch ist keine Sprache – blieben weitgehend erhalten und werden von einem Teil der russischen Bevölkerung vielleicht für „pravda“ gehalten, von Putin und seinen Leuten zynisch zur Rechtfertigung ihres Angriffskriegs eingesetzt.

Literatur

  • Hentschel, Gerd; Taranenko, Oleksandr; Zaprudskij, Sjarhej (Hgg.): Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede. Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Berlin: Peter Lang, 2014.
  • Kuße, Holger; Plotnikov, Nikolaj (Hgg.): Pravda. Diskurse der Gerechtigkeit in der russischen Ideengeschichte. München, Berlin: Sagner, 2011.
  • Plotnikov, Nikolaj (Hg.): Gerechtigkeit in Rußland. Sprachen, Konzepte, Praktiken. Paderborn: Wilhelm Fink, 2019.
  • Žadan, Serhij: Internat. Aus dem Russischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Berlin: Suhrkamp, 2018.
  • Žadan, Serhij: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot, Sabine Stoehr und Claudia Dathe. Berlin: Suhrkamp, 2022.

Prof. Dr. Ulrike Jekutsch

Nach dem Studium der Slawischen Philologie in Göttingen habe ich mich zunächst Forschungen zur russischen Lehrdichtung des 18.Jahrhunderts im Kontext der zeitgenössischen Debatten um Kunst, Bildung und Wissen-schaft im Russischen Reich gewidmet. Die Erforschung der russischen Literatur wurde erweitert um die der polnischen Literatur, in der es mir insbesondere um die Gestaltung des Verhältnisses der Dichtung zu Religion und Kirche und um die für Polen in der Zeit der Teilungen zentrale Frage der Bewahrung der nationalen Identität geht. Die Arbeit in der Akademie und in der Arbeitsgruppe bietet aufgrund ihrer Interdisziplinarität stets neue, spannende Einblicke in benachbarte und entferntere Fächer und gibt dadurch immer wieder Anregungen zu neuen Ideen und Forschungsfragen.