Von Realitäten, Science Comics und Spitzennachwuchs

Prof. Dr. Anna Margaretha Horatschek im Gespräch

Wie schafft Sprache Realität und Bewusstsein – damit beschäftigt sich Anna Margaretha Horatschek als Literaturwissenschaftlerin schon lange. Wie der Blick des einzelnen Menschen auf die Welt dabei aus der Perspektive anderer Fachrichtungen zu verstehen ist, also was beispielsweise Quantenphysik, Neurowissenschaft und Theologie an Erkenntnissen anbieten, das interessiert und inspiriert sie. 

Interdisziplinär zu denken und zu forschen reizt die Kieler Professorin der Anglistik sehr. Seit zehn Jahren ist Anna Margaretha Horatschek Akademiemitglied. Als Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg hat sie sich seit April 2016 engagiert. Ihre Amtszeit endet jetzt zum 31. Mai 2021. Zeit für einen Rück- und Ausblick auch auf ihr Herzensthema: den wissenschaftlichen Spitzennachwuchs in die Akademie einzuladen, ihn einzubinden und sich von den jungen, frischen Ideen begeistern zu lassen.

Was hat die fünf Jahre Ihrer Zeit als Vizepräsidentin geprägt?

Aus meiner persönlichen Perspektive ist es die Tatsache, dass wir einen sehr, sehr starken Akzent auf die Nachwuchsförderung gelegt haben. Es gab auch andere wichtige Themen, aber weil ich mich da sehr stark engagiert habe, ist das für mich das Bleibende. Es war für mich zentral und soll auch für mich zentral in der Zukunft bleiben! Die Idee mit den Young Academy Fellows, die kam erst auf, als ich anfing als Vizepräsidentin. Die Akademie in Hamburg ist ja die jüngste der Akademien der Wissenschaften in Deutschland und sie hatte bis zu dem Zeitpunkt noch kein eigenes Nachwuchsförderprogramm. Uns war dabei klar, weil unsere Akademie in gewisser Weise eine Sonderstellung hat, dass das nicht so werden soll wie an anderen Akademien, die mehr in Klassen oder Sektionen sortiert sind. Der Begriff „Klasse“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf einen Fächerbereich wie zum Beispiel die Geisteswissenschaften oder die Naturwissenschaften. Und an diesen Akademien treffen sich hauptsächlich diejenigen aus einem Fächerbereich. Bei uns in Hamburg ist das anders – wir begegnen uns interdisziplinär. Und das soll sich in unserem Nachwuchsprogramm widerspiegeln. So haben wir angefangen, und das Programm ist noch nicht fertig – es ist wirklich Open End. Das ist eine ganz neue Art, so etwas zu strukturieren, im Grunde sehr postmodern. (lachtLearning by doing – gemeinsam mit den ersten Young Academy Fellows haben wir ein paar Grundprinzipien entwickelt und etabliert, die wir aber auch immer wieder anpassen.

2020 ist der erste Reigen der Young Academy Fellows gestartet. Wie lief der Auswahlprozess?

Die Bewerbungen waren mit Blick auf die Fächer sehr weit gestreut. Es waren sehr viele Physiker dabei, viele aus der Medizin. Wir schauen da auf eine gute Mischung. Wichtigstes Auswahlkriterium ist neben der wissenschaftlichen Exzellenz, dass die jeweilige Person kreativ Impulse setzen will.  Und dann gucken wir darauf, dass wir regional breit gestreut sind: Unsere Akademie hat zwar ihren Sitz in Hamburg und ist ein Anlaufpunkt für die Spitzenforschung hier in der Stadt. Aber wir sind ebenso zuständig für die Wissenschaft in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. Natürlich ist der Gender-Proporz wichtig. Zugleich schauen wir, dass die Ausgewählten an unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere stehen. Also dass große Diversität gegeben ist. Wie gut unsere Young Fellows sind, sieht man auch daran, dass bereits im ersten Jahr von den ursprünglich acht Young Fellows eine auf eine Juniorprofessur berufen wurde.

Gab es schon einen Schlüsselmoment, an den Sie sich sofort erinnern, weil er Ihnen gezeigt hat, dass das Konzept funktioniert?

Ja, ich erinnere mich sofort! Und zwar vor der ersten Ausschreibung hatten wir gedacht: Bevor wir jetzt einen langen Text schreiben, was wir alles wollen und was die alles müssen – da machen wir erstmal einen zweitägigen Workshop. Wir haben dann 20, 30 junge Leute eingeladen und dazu ein paar Experten und Expertinnen für Interdisziplinarität, Karriereförderung und so weiter. Vor allem wollten wir aber, dass die jungen Leute sagen, was sie brauchen. Natürlich kamen da so Punkte wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Sprache, aber es ging auch um Themen, die ich gar nicht erwartet und noch in keinem Förderprogramm gesehen hatte. Und das Tollste war – am Ende des Workshops kamen mehrere von diesen jungen Leuten zu uns und die haben geschwärmt: „Boah, so etwas haben wir uns immer gewünscht, dass wir mal so einen Raum haben, den es in der Uni so fast nicht mehr gibt, wo wir einfach mal losdenken können!“ Einer erzählte, dass er so eine Atmosphäre zuletzt in Cambridge erlebt habe. Tatsächlich müssen die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute viele Vorgaben erfüllen, auch Drittmittel einwerben. Also das wird immer enger für eigene Kreativität. Und genau das wollen wir den jungen Leuten bieten: den Raum für kreatives Losdenken über Fächergrenzen hinweg.

Der erste Jahrgang der Young Academy Fellows besteht jetzt aus sieben herausragenden Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Was hat sich der Corona-Pademie zum Trotz in den vergangenen Monaten entwickelt?

Wir waren selbst überrascht, was da trotz dieser wirklich sehr widrigen Umstände schon passiert ist. Ich möchte zwei Beispiele nennen. Das eine ist, dass die Gruppe selbst einen Workshop zur Interdisziplinarität mit Vortragenden von außen organisieren wird. Das andere ist, dass wir neue Kanäle der Kommunikation nach außen erschließen möchten. Da kam die Idee auf, das Format Science Comics zu nutzen. Das nutzen auch andere angesehene Institute, um wissenschaftliches Wissen in die Öffentlichkeit zu tragen. Also das Spezialwissen herunterzubrechen, weg vom Fachjargon. Zugleich schafft es dieses Format, dass sich die wichtigsten Dinge noch vermitteln.

Science Comics zur Wissensvermittlung nutzen

Da haben wir dann lange hin und her überlegt. Es ist jetzt wirklich so weit, dass tatsächlich alle Young Academy Fellows jeweils einen eigenen Künstler, eine eigene Künstlerin gefunden haben. Mit denen erstellen sie jeweils ihren persönlichen Comic, der ihre Forschungsprojekte vermittelt. Auf einer Seite. Die werden dann auf der Website der Akademie zu sehen sein. Darüber hinaus soll es etwa eine Vortragsreihe geben zu Comics: Wie funktionieren die überhaupt? Gehören Comics zur Literatur oder nicht? Auf solche und ähnliche Fragen sucht die Vortragsreihe dann nach Antworten.

Wie offen die Akademie der Wissenschaften in Hamburg für die Impulse der jungen Spitzenforscher ist, zeigt sich auch darin, dass die Historikerin Franziska Neumann von der Universität Rostock den Anstoß gegeben hat, eine neue Arbeitsgruppe zu gründen. Wie kam es dazu?

Franziska Neumann beschäftigt sich damit, wie sich die Vorstellungen von dem, was Abfall ist, verändert haben seit der Frühen Neuzeit. Das ist ein sehr spannendes und zugleich sehr aktuelles Projekt. In dem ersten halben Jahr, in dem sie dabei war, haben sich auch andere Ordentliche Mitglieder der Akademie so dafür interessiert, dass da eine ausgesprochen aktive und lebendige Akademie-AG am Entstehen ist. Und obwohl diese Young Academy Fellow jetzt wegberufen wurde, weil sie einfach so überaus gut ist, wird diese AG weiterbestehen. Und auch in den anderen Arbeitsgruppen haben die Young Academy Fellows schon wichtige Impulse gegeben.

Apropos Arbeitsgruppen. Sie haben von 2014 bis 2017 an der Arbeitsgruppe „Gesellschaftliche Legitimierung von Wissensbeständen – Vergleichende Perspektiven“ mitgewirkt. Auch als Sprecherin. Warum?

Das ist ein Thema, das mich von Anbeginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn fasziniert hat. Ich war immer gerne unterwegs an den Rändern, was noch als Wissen gilt. (lacht) Und das schätze ich so an der Akademie, dass man da mit hochintelligenten und motivierten Menschen zusammen Herzensfragen diskutieren kann. In der genannten Arbeitsgruppe ging es darum, zu fragen: Was gilt in unterschiedlichen Kulturen und in unterschiedlichen Epochen als Wissen? Denn zum Beispiel was heute bei uns als Wissenschaft gilt, ist nicht abzutrennen von der Entwicklung seit der Frühen Neuzeit. Die Aufklärung im 18. Jahrhundert hat normativ festgeschrieben, was für Bedingungen gegeben sein müssen, damit bei uns etwas als Wissenschaft anerkannt ist. Es gibt aber unendlich viel mehr Wissen, als das, was die Wissenschaft hergibt und was unseren Alltag bestimmt. Und in anderen Kulturen gelten völlig andere Normen für das, was als Wissen gilt.

Wissenschaft historisch und interdisziplinär verstehen

Es war eine tolle, natürlich interdisziplinäre Gruppe. Wir hatten 2017 eine hoch produktive internationale Tagung mit Teilnehmenden auch aus Indien. Daraus ist ein Aufsatzband entstanden: „Competing Knowledges – Wissen im Widerstreit“.

Was haben Sie persönlich aus dieser Arbeitsgruppe für Ihre wissenschaftliche Arbeit mitgenommen?

Es war aufregend zu erleben, wie es uns alle bewegt hat, herauszufinden: Wieso denken wir wie wir denken? Wie können wir denken, dass unser Wissen das ´richtige´ ist? Wenn ich eine Quintessenz nennen sollte: Ich habe unglaublich viel von den anderen Fächern gelernt. Also etwa aus dem Bereich Pharmaziegeschichte: Was gilt als Medikament? Wie wird das Verhältnis von Medikament und Krankheit gesehen durch die Zeit? Ich bin auch interessiert an anderen kulturellen Wissensbeständen. Und da ist der Fokus bei mir verstärkt auf Indien gefallen, weil da eine große Diversität in allen Bereichen zu finden ist.

Ich kann jetzt viel besser eingrenzen, was Wissenschaft ausmacht, und ich nehme mehr wahr diese – etwas polemisch gesagt – fachbedingte Blindheit. Ich denke da an diese Haltung in manchen Wissenschaften: „Jetzt haben wir die Theorie, mit der wir alles erklären können.“ Zurzeit ist das wohl in der Quantenphysik verbreitet – so mein Eindruck. Obwohl durch die Jahrtausende zu sehen ist, dass das nicht funktioniert, ist immer wieder diese Überzeugung zu beobachten.

In den zurückliegenden Monaten der Corona-Pandemie haben wir erlebt und wir erleben es noch, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler öffentlich die Grenzen der aktuellen Erkenntnisse zur COVID19-Infektion und dem Umgang damit benannt haben. Könnte daraus gesamtgesellschaftlich ein größeres Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten erwachsen? 

Bei allen Schrecklichkeiten der Pandemie: Was das anbelangt, fand ich es zu Beginn toll, wie Wissenschaft in diesem Prozess an die Öffentlichkeit kam. Es gab auch gute Vermittler wie etwa den Virologen Christian Drosten. Das war spannend zu sehen: Wissenschaft ist eigentlich nur dann gut, wenn sie sich immer darüber klar ist, dass ihr Ergebnis vorläufig ist.

Woran arbeiten Sie aktuell als Wissenschaftlerin?

Ich bin jetzt seit zwei Jahren emeritiert. Und was ich sehr schön finde, ist, dass die Interessen, die ich im Laufe meiner ganzen Karriere seit meiner Promotion verfolgt habe, eigentlich wieder zusammen kommen. Ich habe mich immer wieder beschäftigt mit der historisch und kulturell konditionierten und konstruierten Form dessen, was wir jeweils als Realität wahrnehmen. Und in die wir als Einzelne mit unseren Emotionen und Werten voll einsteigen. Ich bin Literaturwissenschaftlerin. Ich achte auf die Form, mit deren Hilfe wir unsere Realität konstruieren. Sprache ist natürlich ein wesentliches Mittel: Wie wir etwas sagen, mit welchen Worten wir es sagen, das ist ganz wichtig für das, was da an Realität kommuniziert wird. Eine große Rolle spielt auch das Medium: Ist das gehörte Sprache oder in Bilder übersetzte Sprache? Ist es ein Podcast, ein Video, ein Comic oder eine Graphic Novel? Das alles wirkt entscheidend daran mit, was für eine Realität wir produzieren.

Bewusstsein aus vielen Perspektiven untersuchen

Konkret befasse ich mich gerade intensiv mit Consciousness Studies, also mit der Erforschung von Bewusstsein. Ein riesiges Projekt in Europa, in Deutschland ist es nicht wirklich etabliert. In vielen anderen Ländern ist das ein großes Thema. Natürlich haben Philosophen und Theologen und kluge Menschen in allen Kulturen schon seit Jahrtausenden darüber nachgedacht, aber von den Naturwissenschaften wurde es erst in den 1990er-Jahren entdeckt. Leitgedanke vieler Naturwissenschaften ist jetzt: Wie entsteht Bewusstsein im Gehirn, um es mal etwas platt zu sagen. Die Geisteswissenschaften haben da natürlich eine völlig andere Perspektive und andere Fragestellungen.

Gerade vor ein paar Tagen fand eine Konferenz statt, die ich gemeinsam mit indischen Kolleginnen und Kollegen organisiert habe. Und zwar waren da drei Kontinente und acht verschiedene Länder beteiligt: Es waren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Kiel dabei, welche aus Kanada, aus Agra, aus Santa Barbara in Kalifornien. Alles per Zoom. Es entspannen sich so unglaubliche Diskussionen rund um das Thema Consciousness über Fächergrenzen hinweg.

Welche drei Bücher würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?

Oh, das ist schwierig! Auf jeden Fall würde ich Shakespeares Werke mitnehmen. Also nicht nur „Hamlet“, eines meiner Lieblingsdramen von Shakespeare – ein unglaubliches Stück! Hier wird in der Frühen Neuzeit schon die Selbstdarstellung der Naturwissenschaften verhandelt und die Zweifel daran. Dann würde ich mitnehmen Lyrik, wahrscheinlich Lyrik der britischen Romantik im 19. Jahrhundert. Und dann noch ein klassisches Werk der indischen Philosophie. Das müsste ich noch genauer aussuchen. Ich finde es auf jeden Fall immer inspirierend, die vielen Parallelen zu sehen zu dem, was im Westen gelaufen ist, und dann zu sehen, welche anderen Schlüsse in Indien gezogen wurden.

Welches Buch empfehlen Sie gern?

Das hängt davon ab, wofür man sich interessiert. Wenn sich jemand für Umweltschutz interessiert, da finde ich ganz toll von Richard Powers den Roman „The Overstory“. Das Buch hat zu Recht viele Preise gewonnen und ist schon auf Deutsch erschienen: „Die Wurzeln des Lebens“. Und wenn jemand sich für künstliche Intelligenz interessiert und die Liebe von und mit einem Roboter, dann unbedingt Ian McEwan „Machines Like Me“, auf Deutsch erschienen als „Maschinen wie ich“.

Bitte ergänzen Sie diesen Satz: Wenn es die Akademie der Wissenschaften in Hamburg nicht schon geben würde, müsste man sie erfinden, weil...

... sie Freiraum für kreatives Losdenken bietet.

Das Interview führte Dagmar Penzlin.

Veröffentlicht am 31. Mai 2021