Wahrheit, Wissen, Glauben: Gibt es die absolute Wahrheit?

Intensive öffentliche Debatten über objektive Realität und subjektives Wahrheitsempfinden verdeutlichen das grundlegende Bedürfnis nach Wahrheit. Die Suche nach absoluter Wahrheit und religiösem Wahrheitsanspruch prägt die Menschheit seit der Antike.
Essay von Christiane Zimmermann, 8. August 2023

Harmonie von Glaube und Wissenschaft (Deckenfresko der Kaiserstiege im Stift Altenburg, Niederösterreich, Paul Troger, 1738)
Harmonie von Glaube und Wissenschaft (Deckenfresko der Kaiserstiege im Stift Altenburg, Niederösterreich, Paul Troger, 1738)

Man unterscheidet heute zwischen einem alltäglichen und einem wissenschaftlichen Wahrheitsverständnis und sucht darüber hinaus nach der absoluten Wahrheit. Denn nur die absolute Wahrheit scheint Sicherheit zu geben.

Die Suche nach der Wahrheit beschäftigt die Menschheit seit der Antike, wie uns philosophische und religiöse Schriften aus dieser Zeit zeigen. Nachdem Parmenides um 500 v. Chr. die Frage nach der Wahrheit in das philosophische Denken eingeführt hatte, führte Platon als „Wahrheitssucher“ par excellence der griechischen Antike die Suche nach der Wahrheit fort. In zahlreichen seiner Schriften nimmt er seine Leser in Gesprächen seines Lehrers Sokrates mit auf den Weg der Wahrheitssuche. Dabei ist das Kernanliegen dieser Gespräche die Unterscheidung von bloßer Meinung und eigentlicher Wahrheit, auf deren Suche sich Sokrates mit seinem Gesprächspartner im Frage-Antwort-Stil begibt. Mit der Vorstellung einer allem übergeordneten sogenannten „Idee des Guten“ schafft Platon eine Bezugsgröße für die Bestimmung der Wahrheit, die Züge einer absoluten, transzendenten Größe aufweist und zugleich in ihrer Kontur unscharf bleibt.

Göttliche Wahrheitsansprüche

La Vérité (Jules Joseph Lefebvre, Musée d'Orsay, 1870)
La Vérité (Jules Joseph Lefebvre, Musée d'Orsay, 1870)

Für die meisten Menschen der griechisch-römischen Antike war jedoch nicht die gelehrte Philosophie das Bezugssystem, innerhalb dessen sie die Welt verstanden. Es waren vielmehr religiöse Systeme, die ihre Sicht auf die Welt prägten. Auch in diesen religiösen Systemen erscheint Wahrheit früh als wichtige Größe: Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. gilt die Wahrheit (Aletheia) in der griechischen Mythologie als Göttin, als Tochter des höchsten Gottes Zeus (siehe Pindar, Oden 10,4)[1]; im römischen Götterapparat erscheint sie später als Veritas. Der Blick auf die Entwicklung der religiösen Systeme im Abendland zeigt, dass der Wahrheitsanspruch zunächst jedem dieser Systeme inhärent war, jedoch erst in dem Moment explizit zum Thema wurde, in dem verschiedene Systeme aufeinandertrafen und damit in Konkurrenz zueinander traten.

Dies lässt sich etwa am Gottesglauben des antiken Judentums zeigen: Jahwes Bedeutung geriet in dem Moment in Gefahr, als das Volk Israel im Zuge seiner unruhigen Geschichte immer häufiger mit Fremdgöttern, also etwa mit griechischen und römischen Gottheiten der Zeit in Berührung kam. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich nicht nur der jüdische Monotheismus, sondern auch die eng damit verbundene Behauptung, dass nur Jahwe der „wahre“ Gott sei. Alle anderen Gottheiten seien „Trugbilder“; so argumentiert dann auch zur Zeit des aus dem Judentum entstehenden Christentums einer der frühesten christlichen Theologen, der Apostel Paulus. Er führt als Argument, wie bereits andere jüdische Autoren vor ihm, die Tatsache an, dass allein dieser eine Gott, Jahwe, die Welt geschaffen habe (siehe 1. Korintherbrief 8,6)[2]. Hinzu kommt als weiteres Argument, dass dieser Gott den am Kreuz gestorbenen Jesus, seinen Sohn, auferweckt und damit den Tod besiegt habe.

Dass dies schon in früher Zeit selbst nicht alle Anhänger und Anhängerinnen der Verkündigung des Paulus überzeugte, zeigen die Ausführungen im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs (Verse 12-19)[3]. Dort setzt sich Paulus mit Leugnern der Auferstehung der Toten auseinander und behauptet in einem zirkulären Argument die Wahrheit der Totenauferstehung anhand der als Faktum anzuerkennenden Auferstehung Jesu, die durch Gott ausgeführt wurde. Nach Paulus ist Jahwe der einzige und wahre Gott, seine Worte und Handlungen sind wahr und nicht zu hinterfragen. Darin unterscheidet er sich von allen weiteren Gottheiten der Zeit.

Isis Büste im Archäologischen Museum in Thessaloniki in Griechenland
Isis Büste im Archäologischen Museum in Thessaloniki in Griechenland

Auch für die ägyptische Göttin Isis postuliert ein Papyrus aus etwa derselben Zeit, dem 1. Jahrhundert n. Chr., dass sie selbst die „Wahrheit“ sei (Papyrus Oxyrhynchus XI 1380, 63)[4]. Eine Inschrift aus Thessaloniki, ebenfalls aus dem 1. bis 2. Jahrhundert n. Chr., sagt über Isis zudem, sie habe bestimmt, dass das Wahre für schön gehalten werden solle (Inscriptiones Graecae X,2,1 no. 254, Z. 16)[5]. Der vom Verfasser des Papyrus formulierte Wahrheitsanspruch der Isis richtet sich ebenfalls gegen alle anderen Gottheiten der Zeit, die von den Einwohnern des römischen Reiches verehrt wurden. Sie ist die einzig wahre Gottheit und fordert zugleich die Wahrheit von ihren Verehrern und Verehrerinnen, erhebt also das, was sie für sich beansprucht, die Wahrheit, zum Ideal für diejenigen, die sie für wahr und damit für einzig halten.

Der Weg, die Wahrheit, das Leben

Jesusdarstellung mit der Selbstaussage „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Fresco mit dem Zitat aus dem Johannesevangelium 14,6 im Chorgewölbe der Kirche St. Martin in Deux Acren, Belgien).
Jesusdarstellung mit der Selbstaussage „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Fresco mit dem Zitat aus dem Johannesevangelium 14,6 im Chorgewölbe der Kirche St. Martin in Deux Acren, Belgien).

Im frühen Christentum entwickeln sich ungefähr zur selben Zeit Aussagen, die noch weiter in Richtung der eingangs erwähnten „absoluten“ Wahrheit führen: Der Verfasser des Johannesevangeliums, das vermutlich am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden ist, gehen so weit, Jesus nicht nur mit der Wahrheit zu identifizieren, sondern ihm die Worte in den Mund zu legen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6)[6].

Mit diesen Worten überträgt der Verfasser des Johannesevangeliums den bereits von Platon formulierten Gedanken einer absoluten, dem Menschen im irdischen Dasein noch nicht erkennbaren, wahren „Idee des Guten“ auf den auferstandenen und zum Sohn Gottes erhöhten Christus, der von sich selbst sagt, er sei „die Wahrheit“. Umrahmt wird diese Aussage durch die Begriffe „Weg“ und „Leben“. Diese Dreiheit kann so verstanden werden, dass der Verfasser Christus nicht nur selbst als absolute Wahrheit verstehet, sondern auch als den Weg zu Gott, der das allein „wahre“ Leben, das heißt Leben im Glauben gewährt. Durch die (durch Gott bevollmächtigte) Auslegung Gottes zeigt der johanneische Jesus den Menschen den Weg zu Gott, denn er hat diesen als einziger gesehen und kann ihn daher erklären (Joh 1,18)[7].

Einen Beweis dafür im Sinne für den menschlichen Verstand nachvollziehbarer Argumente liefert dieser Jesus jedoch nicht. Diese Wahrheit ist nicht durch den Verstand zu erkennen, sondern ist nur über das Vertrauen auf die Wahrheit dieser Behauptung, also durch den Glauben daran zu erlangen. Spätere christliche Theologen wie Augustin (4. Jahrhundert n. Chr.) schreiben diesen ausschließlichen Wahrheitsanspruch Gottes fort.

An Wahrheit glauben

Auch im Bereich der Religionen, die - da nicht wissenschaftlich – gemeinhin nicht mit Wahrheit in Zusammenhang gebracht werden, findet sich seit der Antike also die Frage, welche Gottheit nun die „wahre“ sei, welcher Gottheit als ausschließlich „wahrer“ zu vertrauen sei, bei welcher Gottheit die „absolute Wahrheit“ zu finden sei. Jahwe – Isis – Christus? Fortsetzen ließe sich die Reihe mit zahlreichen weiteren Gottheiten, die auch für die Gegenwart von Bedeutung sind. Beantworten kann diese Frage nur der „Glaube“, das heißt das Vertrauen darauf, dass eine dieser Gottheiten tatsächlich die eine, wahre ist – einen wissenschaftlichen Beweis hierfür wird man nicht finden. Zugleich eröffnet der Glaube an die Wahrheit einer Gottheit jedoch die Dimension der absoluten Wahrheit, die alle wissenschaftlich beweisbaren Wahrheiten übertrifft und eine die Menschheit seit alters begleitende, tiefe Hoffnung transzendiert.

Prof. Dr. Christiane Zimmermann

Nach einem Studium der Gräzistik, der evangelischen Theologie und der klassischen  Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München promovierte Christiane Zimmermann ebenda im Jahr 1991 mit einer Arbeit über den „Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst“ an der Philosophischen Fakultät im Fach Gräzistik. Die Habilitation erfolgte im Jahr 2006 an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin im Fach Neues Testament. Ebenso wie bereits in der Dissertation handelt es sich auch bei dieser Arbeit um ein disziplinenübergreifendes Projekt, in dem theologische Aspekte ebenso wie altertumskundliche eine wichtige Rolle spielen. Thema der Habilitationsschrift war: „Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen und ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont“. Nach einiger Zeit, die Christiane Zimmermann aus familiären Gründen weiterhin an der Humboldt-Universität als Sprachlektorin für Altgriechisch tätig war, nahm sie 2016 einen Ruf auf die Professur für die Theologie- und Literaturgeschichte des Neuen Testaments an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel an. Ein wichtiger neuer Forschungsschwerpunkt, mit dem Christiane Zimmermann auch ins Exzellenzcluster ROOTS eingebunden ist, ist die Erforschung der Entwicklung des frühen Christentums durch die Auswertung frühchristlicher Inschriften aus dem Mittelmeerraum.