Ist es wirklich wahr? Einige Überlegungen zu Wahrheit und Postwahrheit.

Seit Donald Trumps Wahlkampagne 2016 wird behauptet, dass die Frage nach der Wahrheit irrelevant geworden ist. Leben wir in einem Zeitalter jenseits der Wahrheit (post-truth) und jenseits der Fakten (post-fact)? Ist die Wahrheit bedeutungslos geworden?
Gastbeitrag von Chris Lorenz (Ruhr-Universität Bochum), 24. August 2023

Trump 1964
Trump 1964

Lügen aus Gewohnheit

Zu Beginn möchte ich das grundlegende Verhältnis zwischen den Begriffen Wahrheit und Tatsache klären. Die wichtigste Klarstellung in unserem Zusammenhang ist, dass in der Alltagssprache Wahrheit und Tatsache synonym verwendet werden: Die Worte sind austauschbar, wenn man behaupten möchte, dass etwas wirklich der Fall ist. Die Aussage „Es ist wahr, dass Donald Trump ein Gewohnheitslügner ist“, hat die gleiche Bedeutung wie die Aussage: „Es ist eine Tatsache, dass Donald Trump ein Gewohnheitslügner ist.“ Beide Aussagen behaupten, dass Donald Trump ein Gewohnheitslügner ist, und ihre Austauschbarkeit ist unabhängig von der Frage, ob Donald Trump wirklich ein Gewohnheitslügner ist oder nicht.

Die Antwort auf die Frage, ob Trump ein Gewohnheitslügner sei, ist nicht so offensichtlich, wie viele meinen, denn wahrscheinlich kann man Trump viel besser als Bullshitter bezeichnen. Also einen Produzenten von Bullshit, was auf Deutsch etwa Bockmist oder Hohlsprech bedeutet - und das macht einen wichtigen Unterschied. Meine These ist, dass Phänomene, die mit den Begriffen Postwahrheit und Postfaktizität bezeichnet werden, am besten als Formen von Bullshit verstanden werden können.

Trump 1985
Trump 1985

Was ist Bullshit?

Im Jahr 2005 analysierte der Princeton-Philosoph Harry Frankfurt in seinem wunderbaren Büchlein On Bullshit als Erster den Begriff des Bullshits. [I] Er erläuterte die Kernbedeutung von Bullshit, indem er den Begriff von verwandten Begriffen wie Humbug und Lüge abgrenzte. Sowohl Lügen als auch Bullshitting sind Formen der Falschdarstellung:
„This is the crux of the distinction between him and the liar. Both he and the liar represent themselves falsely as endeavoring to communicate the truth.“ [II]

Der Lügner versucht die Tatsache zu verbergen, dass er uns von einer korrekten Wahrnehmung der Realität wegführen will. „[W]e are not to know that he wants us to believe something he supposes to be false.“ [III] Im Gegensatz dazu unternimmt der Bullshitter den Versuch zu verbergen, dass ihm die Wahrhaftigkeit seiner Äußerungen eigentlich gleichgültig ist: „[W]hat we are not to understand is that his intention is neither to report the truth nor to conceal it.“ [IV]

Gleichgültig der Wahrheit gegenüber

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Bullshitter der Wahrheit gegenüber indifferent ist, während der Lügner dies nicht ist. Indem der Lügner die Wahrheit absichtlich leugnet, erkennt er die Existenz der Wahrheit zumindest an. Bullshitter ignorieren die Wahrheit einfach, wenn es ihnen passt. Nur in diesem Sinne kann man sagen, dass Bullshitter „jenseits von Wahrheit und Fakten“ stehen. Donald Trump scheint perfekt auf Frankfurts Beschreibung des „Bullshitters“ zu passen, zwischen 2016 und 2021 produzierte er etwa 30.000 nachgewiesene Unwahrheiten. [V]

Es ist jedoch sehr wichtig zu erkennen, dass die Gleichgültigkeit der Bullshitter gegenüber Fakten und Wahrheit nicht bedeutet, dass sie nicht wissen, was diese Begriffe bedeuten. Angesichts der Tatsache, dass Politiker wie Trump und Johnson diese Worte regelmäßig verwenden, müssen wir davon ausgehen, dass sie eine Bedeutung für sie haben. Nehmen wir Donald Trumps berüchtigte „Stop the steal“-Rede vom 6. Januar 2021 in der Nähe des Kapitols. [VI] In dieser Rede forderte Trump die „Fake-Medien“, die er der „Verfälschung“ des Wahlergebnisses beschuldigte, auf, „to show what’s really happening out here“. Insgesamt benutzte er das Wort „real“ und „wirklich“ viermal in seiner Rede. In den folgenden Zeilen benützt er das Wort „real“ zweimal: 

„Almost 75 million people voted for our campaign, the most of any incumbent president by far in the history of our country, 12 million more people than four years ago. And I was told by the real pollsters, we do have real pollsters. They know that we were going to do well, and we were going to win.“ (p.1). [VII]

Obwohl alle von Trump genannten Zahlen nachweislich falsch waren, und damit auch sein Anspruch auf einen Wahlsieg, berief er sich auf „echte“ Wahlforscher als Quelle seiner Tatsachenbehauptungen. Trump schien also mit der Idee vertraut zu sein, dass Tatsachenbehauptungen durch „echte“ Beweise untermauert werden müssen. Sein einziges Problem war, dass es keine echten Beweise für seinen Sieg gab, also ersetzte er die „echten“ Beweise durch die Wahlforscher seiner Vorstellung - Wahlforscher, die Trump angeblich auch die Beweise für die „Unterdrückung“ seines Sieges lieferten:

„I ( Trump – CL) called up a real pollster. I said, „What is that?“ „Sir, that’s called a suppression poll.“ [VIII]

Trump beanspruchte also am 6. Januar 2021 die Realität wahrhaft zu beschreiben und er verwendete immer wieder den Begriff der Tatsache und der Wahrheit. Obwohl er die Worte wahr und Wahrheit nur zwei Mal in seiner Rede verwendete, berief er sich insgesamt vier Mal auf Fakten. Im nächsten Zitat gibt es zwei Mal das Wort ‚true/truth’ und einmal das Wort ‚fact’: 

„This is the most corrupt election in the history, maybe of the world „ (-) „In fact, it’s so egregious, it’s so bad, that a lot of people don’t even believe it. It’s so crazy that people don’t even believe it. It can’t be true. So they don’t believe it“ (-)  „As this enormous crowd shows, we have truth and justice on our side“. [IX]

Daraus können wir schließen, dass, was auch immer Post-Wahrheit und Post-Faktizität bedeuten sollen, Trump selbst sich überraschenderweise nicht jenseits von Wahrheit und Fakten bewegt. Meine Schlussfolgerung ist also, dass uns Leute wie Trump nicht mit einem neuen philosophischen Problem namens Post-Wahrheit oder Post-Faktizität konfrontieren. Er produziert vielmehr andere Arten von Problemen. Eines davon ist das Problem, dass er sich nicht darum kümmert, seine Wahrheits- und Tatsachenbehauptungen mit überprüfbarer Evidenz zu untermauern. Daraus schließe ich, dass sich Bullshitten à la Trump weder jenseits Wahrheit noch jenseits Fakten bewegt, Bullshitter verhalten sich in ihrer Kommunikation jedoch gleichgültig gegenüber der überprüfbaren Wahrheit und Faktizität.

Trump 2017
Trump 2017

Emotionen statt Fakten?

Daraus folgt eine weitere Frage, und zwar, ob die Begriffe Post-Wahrheit und Post-Faktizität nur neue Bezeichnungen für das Phänomen sind, das als Bullshit bekannt ist, oder ob es um mehr oder etwas anderes geht. [X] Beginnen wir mit den Definitionen von Post-Wahrheit und Post-Faktizität, wie sie im Jahr 2016 von den Oxford Dictionaries und der Gesellschaft für Deutsche Sprache vorgeschlagen wurden. Als die Oxford Dictionaries das Wort „Post-Truth“ als „Wort des Jahres“ 2016 vorschlugen, wurde seine mögliche Verbindung zu „Bullshit“ leider nicht untersucht. Die Oxford Dictionaries definierte „post-truth“ als „relating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief”. Der Grund für die Wahl dieses Begriffs zum Wort des Jahres lag in der exponentiell zunehmenden Häufigkeit seiner Verwendung. [XI]

Im selben Jahr schlug die Gesellschaft für Deutsche Sprache das Wort „postfaktisch“ als deutsches Wort des Jahres vor. Postfaktisch wurde von der Gesellschaft als „gefühlsmäßig“ und „unsachlich“ definiert: „Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der „gefühlten Wahrheit“ führt im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg.“ [XII]

Postwahrheit und Postfaktizität verweisen demnach auf die gestiegene Bedeutung von Emotionen und persönlichen Überzeugungen sowie die gesunkene Bedeutung von Fakten im politischen Diskurs seit den Trump- und Brexit-Kampagnen - mit zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit als Folge. Obwohl die behauptete „Zunahme“ von Emotionen und persönlicher Überzeugung eine vergleichende historische Forschung erfordert, die es, soweit ich weiß noch nicht gibt, vermute ich, dass die Behauptung bezüglich der zunehmenden Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit auf festerem Boden steht, wie ich am Fall Trump dargelegt habe. Soweit ich sehen kann, lässt sich eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit durch zwei Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären: 1. der Aufstieg der organisierten Wissenschaftsleugnung, finanziert von wirtschaftlichen und ideologischen Interessengruppen, und 2. der Aufstieg sozialer Medien als Hauptinformationsquelle für die Mehrheit der Bevölkerung, zumindest in weiten Teilen der Welt.

Organisierte Wissenschaftsleugnung

In Merchants of Doubt zeigen die US-Historikerin Naomi Oreskes und ihr Kollege Erik Conway, dass die organisierte Wissenschaftsleugnung mit der sogenannten Tabakstrategie in den frühen 1950er Jahren begann. [XIII] Die Tabakindustrie kämpfte gegen den wissenschaftlichen Konsens, dass Rauchen Krebs verursacht, indem sie „alternative“ Forschung förderte So wurde versucht, Zweifel an den Ergebnissen der unabhängigen wissenschaftlichen Forschung zu säen und die Medien davon zu überzeugen, dass es „zwei Seiten der Erzählung“ über die Risiken des Tabaks gibt und dass jede Seite mit gleichem Gewicht betrachtet werden sollte“.

Die Strategie der Wissenschaftsleugnung bestand darin, die Ergebnisse unabhängiger Forschung zu bekämpfen, indem „zusätzliche Forschung“ gefördert wurde, die auf einer „alternativen“ Hypothese oder Theorie beruhte. Diese „zusätzliche Forschung“ wurde über einen eigens zu diesem Zweck geschaffenen ‘Think Tank’ oder eine Agentur abgewickelt. Die Forschungsgelder wurden an eine Handvoll handverlesener Wissenschaftler gezahlt, die in den betreffenden Fachgebieten keine aktuellen Forschungsleistungen vorweisen konnten, aber überdurchschnittliche Sympathien für die Industrie hatten.

Was Wissenschaftsleugner verkaufen, ist also das Produkt Zweifel. Sie behaupten, dass es „keinen endgültigen Beweis“ für einen kausalen Zusammenhang gibt, dass die wissenschaftliche Frage daher „umstritten“ bleibt und dass es daher zwei gleichrangige konkurrierende „Theorien“ gibt. Solange es „Zweifel“ gibt, sei demnach politisches Handeln „verfrüht“ und sogar „unverantwortlich“. Diese Strategie hat für die Tabakindustrie so gut funktioniert, dass sie von der Kohleindustrie in den 1960-er und 1970-er Jahren wiederholt wurde, als klar wurde, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Kohleverbrennung und saurem Regen gibt - und sie wird auch heute noch in der Klimadebatte angewendet.

Einer der für Wissenschaftler meist frustrierenden Aspekte der anhaltenden Erfolge der organisierten Wissenschaftsleugnung ist die verbreitete falsche Annahme, dass das Fehlen endgültiger Beweise und der Mangel an Einstimmigkeit unter Wissenschaftlern ein Problem darstellen würde und dass es deshalb zwei „gleichrangige’’ Auffassungen gibt. Dies zeigt ein geringes Verständnis dafür, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert, nämlich durch ein „critical review by a jury of scientific peers“ [XIV] Nichtsdestoweniger wird diese Bullshit-Auffassung von Wissenschaft sowohl in der Politik als auch in den Medien täglich reproduziert. [XV]

Trump 2023
Trump 2023

Für Soziale Medien ist der Wahrheitsgehalt irrelevant

Zur Rolle der sozialen Medien bei der jüngsten Explosion des Bullshits müssen drei kurze Hinweise genügen. Der erste Hinweis betrifft die hegemoniale Rolle, die die sozialen Medien in letzter Zeit als wichtigste Informationsquelle für wachsende Teile der Weltbevölkerung erlangt haben. Der zweite Hinweis betrifft die Tatsache, dass die Verbreitung von Informationen durch die sozialen Medien in erster Linie von ihrem Reaktionspotenzial angetrieben wird und nichts mit ihrem Wahrheitswert zu tun hat. Dies macht sie zur idealen Verbreitungsplattform für Bullshit. Der dritte und letzte Hinweis ist die Informationsstruktur der sozialen Medien, die zur Bildung geschlossener Filterblasen führt. In ihren Blasen werden die Menschen nur mit Informationen konfrontiert, denen sie bereits zustimmen, selbst wenn es Bullshit ist. Somit bleibt der politische Kampf gegen Bullshit eine Herausforderung. [XVI]

Dennoch - das ist meine Schlussfolgerung - stellen uns weder die politisch und ökonomisch motivierten Wissenschaftsleugner noch die sozialen Medien vor ein grundsätzlich neues philosophisches Problem, das neue Konzepte wie Postwahrheit erfordern würde – wie ich oben in meine Analyse der Trump-Rede argumentiert habe. [XVII] Das Kernproblem ist und bleibt die überwältigende - und wahrscheinlich zunehmende - Rolle von Bullshit in der Politik und in den Medien. Ob die Menge Bullshit zukünftig weiterhin wachsen wird, ist wegen der medialen Lage wahrscheinlich, aber hängt auch davon ab, wie sich die Wissenschaft im öffentlichen Raum verorten wird und wie „widerstandsfähig“ sie gegen alte und neue Ideologien agieren wird.

Dieser Gastbeitrag basiert auf einem Vortrag von Professor Chris Lorenz, den er während des Jahresempfangs der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 6. Juli 2023 gehalten hat.

Quellen

Chris Lorenz

Gastautor

Chris Lorenz ist seit 2016 International Research Fellow am Institut für Soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Projekt 'Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Concepts of Time in Contemporary History" wurde 2013-2015 von der Marie Curie / Gerda Henkel Stiftung finanziert. Seine Forschungsthemen umfassen die moderne Geschichtsschreibung, die Geschichtsphilosophie und die Hochschulbildungspolitik. Gastprofessuren in Graz (1999), Erfurt (2000), Stellenbosch (2003) und Ann Arbor (2005). Von 1989 bis 2004 war er außerdem Professor für Geschichtsphilosophie in Leiden. Er ist ist Professor emeritus für German Historical Culture an der VU University Amsterdam / Duitsland Instituut Amsterdam.