Wenn die subjektive Wahrheit Leid verursacht
„Also, als es alles anfing, hatte ich plötzlich so ‘ne komische Idee, dass jemand mich verfolgt. Ich dachte wirklich, dass Leute mich überwachen, sogar in meinem eigenen Zimmer. Ich war so sicher, dass da Kameras waren. Das hat mich total verunsichert. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr richtig konzentrieren.
Meine Eltern haben dann Hilfe gesucht. Ich war zuerst total skeptisch, aber die Leute, die sich um mich kümmern, haben versucht, mir zu erklären, dass meine Gedanken vielleicht nicht ganz stimmen.“
– Max, 19 Jahre
Eine gesicherte objektive Wahrheit wird es vermutlich nie geben, aber diese Frage gehört eher in die Philosophie. Hier geht es um die Perspektive der Psychologie, genauer, der klinischen Psychologie. Als Teildisziplin innerhalb der Psychologie untersucht die klinische Psychologie, wie es zu Abweichungen im menschlichen Denken, Fühlen und Verhalten kommt, die mit psychischem Leid einhergehen. Ihr Ziel ist, Menschen zu helfen, psychische Probleme zu bewältigen. Um sich dem Thema Wahrheit aus dieser Perspektive zu nähern, erscheint es hilfreich, zunächst grob vereinfachend dennoch von einer „objektiven Wahrheit“ auszugehen und diese von einer „subjektiven Wahrheit“ abzugrenzen. Unter objektiver Wahrheit wird dabei eine auf mess- und nachprüfbare Fakten oder Informationen bezogene Wahrheit verstanden. Im Gegensatz dazu wird der Begriff der „subjektiven Wahrheit“ verwendet, um Überzeugungen oder Einschätzungen zu beschreiben, die auf persönlichen Erfahrungen, Gefühlen, Motiven und Erwartungen beruhen und daher – mehr oder weniger stark – von der objektiven Wahrheit abweichen können.
Irren ist menschlich
Aus anderen Teildisziplinen der Psychologie wissen wir, dass Menschen grundsätzlich anfällig dafür sind, in ihren Urteilen von der objektiven Wahrheit abzuweichen. Spätestens seit den Arbeiten von Amos Tversky und Daniel Kahneman (1974) ist klar: Wir vereinfachen die auf uns einströmende Information, indem wir kategorisieren oder grobe Faustregeln anwenden. Außerdem fackeln wir oft nicht lange, bevor wir uns ein Urteil erlauben. Im Gegensatz zum mühseligen Sammeln und Abwägen von Anhaltspunkten für oder gegen einen Standpunkt, sparen schnelle Entscheidungen Zeit und Energie. Diese steht dann für Wichtigeres zur Verfügung. Hinzukommt, dass unsere Wahrnehmung stark durch bisherige Erfahrungen und Hinweisreize in der Umgebung beeinflusst wird. Wir sehen eher das, was wir erwarten, als das, was tatsächlich da ist. Auch das ist effizient. Leicht lassen wir uns zudem in unseren Urteilen von anderen Menschen beeinflussen. Das begünstigt zwar Irrtümer, erleichtert aber das soziale Miteinander. Eine gewisse Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Wahrheit ist also offenbar der Preis für ein reibungsloses Funktionieren. Die Fehleranfälligkeit, die diese Diskrepanz mit sich bringt, ist für uns zumeist auch kein Problem. Insbesondere dann nicht, wenn wir in der Lage bleiben, genauer hinzuschauen, wenn es darauf ankommt und uns gegebenenfalls zu korrigieren. Gleichwohl kann die menschliche Tendenz, es mit der objektiven Wahrheit nicht so genau zu nehmen, manchmal doch zu größeren Problemen führen. Beispielsweise dann, wenn grobe Vereinfachungen zu Vorurteilen führen, die anderen Menschen schaden, oder wenn gefährliche Fehlinformationen bewusst verbreitet werden. Mit solchen Problemen beschäftigt sich die Sozialpsychologie, eine andere Teildisziplin der Psychologie.
Wann entsteht psychisches Leid?
Aus klinisch-psychologischer Perspektive wird die Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit zum Problem, wenn sie das normale Funktionieren einer Person beeinträchtigt und die Person unter ihren Folgen leidet. Dies ist oft der Fall, wenn die Diskrepanz sehr deutlich ausfällt und wenn sie bei anderen Menschen auf Unverständnis stößt. Leidensdruck entsteht zudem eher bei negativen Überzeugungen, die einen starken Bezug zur eigenen Person haben. Diese Merkmale treffen auf viele psychische Störungen zu. Beispielsweise geht Depression typsicherweise mit stark subjektiv verzerrten negativen Annahmen über die eigene Person oder die Zukunft einher, die von anderen nicht nachvollzogen werden können. Angststörungen sind durch eine Überschätzung der Gefahr gekennzeichnet, dass einem selbst oder nahestehenden Personen etwas Schlimmes zustößt, und Essstörungen durch eine stark verzerrte Wahrnehmung der eigenen Figur als zu dick.
Was versteht man unter einer Wahnvorstellung?
Besonders deutlich wird die klinische Relevanz eines Abweichens von der objektiven Wahrheit bei sogenannten „psychotischen Störungen“, zu denen nach gängigen Klassifikationssystemen wie der International Classification of Diseases (ICD-11, WHO, 1992) auch die Schizophrenie gezählt wird. Zu deren Kernsymptomen gehören sogenannte „Wahnüberzeugungen“. Diese werden definiert als eine nicht der Realität entsprechende starke Überzeugung, an der eine Person trotz Gegenbeweisen und fehlender Übereinstimmung mit der Wahrnehmung anderer Menschen festhält (APA, 2013). Der Begriff Wahn leitet sich aus verschiedenen indogermanischen und altdeutschen Wortstämmen ab, wobei wan (leer, Vermutung) im Sinne eines falschen Verdachts als wesentliche sprachliche Wurzel gilt (Moritz und Lincoln, 2008). Prinzipiell kann eine Wahnüberzeugung jedes Thema betreffen. Interessanterweise gibt es aber Themen, die vermehrt „wahnhaft verarbeitet“ werden. Besonders häufig kommt es zu einem sogenannten Verfolgungswahn, wie er eingangs von Max geschildert wird. Dabei glauben Betroffene, dass ihnen durch andere Personen, Organisationen oder Gruppen geschadet werden soll. Die Bezeichnung „Beziehungswahn“ beschreibt das subjektiv verzerrte Beziehen von unbedeutenden Ereignissen auf sich selbst („Die Radiomoderatorin hat eine versteckte Botschaft für mich. Sie hat dieselben Worte verwendet, die ich gerade in einer Sprachnachricht auch verwendet habe.“). Mit „Größenwahn“ ist eine positiv verzerrte Überzeugung gemeint, eine ganz besondere Person zu sein, über besondere Fähigkeiten zu verfügen oder eine besondere Aufgabe übertragen bekommen zu haben („Ich bin auserwählt worden, die Welt zu retten.“). Vergleichsweise seltenere Wahnüberzeugungen sind die falsche Überzeugung, von einer Person geliebt zu werden (Liebeswahn), Schuld an einem schlimmen Ereignis oder Verbrechen zu sein (Schuldwahn), nicht mehr zu existieren (nihilistischer Wahn), betrogen zu werden (Eifersuchtswahn), an einer schlimmen Erkrankung zu leiden (hypochondrischer Wahn) oder die Überzeugung, dass nahestehende Personen durch einen Doppelgänger ausgetauscht worden sind (Doppelgängerwahn).
Wie gut kann wahnhaftes Erleben von „normalem“ Erleben abgegrenzt werden?
Für die Diagnose einer psychischen Störung nach ICD-11 (WHO, 1992) wird Wahn als „Symptom“ klassifiziert. Dies verlangt eine kategoriale Einschätzung, das heißt, eine Überzeugung ist entweder als wahnhaft oder als nicht wahnhaft einzuschätzen. Dennoch ist es für das Verständnis des Phänomens und des (therapeutischen) Umgangs damit wichtig, sich bewusst zu machen, dass sich verzerrte Überzeugungen, die im Rahmen von verschiedenen psychischen Störungen besonders deutlich hervortreten, empirisch nicht kategorial abbilden lassen. Erhebungen aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen zeigen beispielsweise klar, dass sogar paranoide Überzeugungen kein vollständig vom „normalen“ Erleben abgrenzbares Phänomen sind, sondern – in abgeschwächter Form – auch bei psychisch gesunden Menschen weit verbreitet sind (Johns & van Os, 2001). In Forschungskreisen ist man daher einig, dass sich solche Phänomene am besten anhand ihrer Ausprägungsstärke beschreiben lassen mit allmählichen Übergängen von „psychisch gesund“ zu „psychisch krank“. Die Ausprägungsstärke einer „subjektiv verzerrten Überzeugung“ lässt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben, beispielsweise daran, wie sehr sie von kulturellen Normen abweicht, wie abwegig sie ist, wie stark an ihr festgehalten wird oder wie sehr sie sich auf das Verhalten auswirkt.
Wie entstehen wahnhafte Überzeugungen?
Weniger sicher sind sich Forschende über die Ursachen von Wahnüberzeugungen. Ergebnisse aus der Familien- und Zwillingsforschung weisen schon lange auf eine starke genetische Komponente der Schizophrenie hin. Dennoch lässt sich kein „Schizophrenie-Gen“ oder gar ein „Wahn-Gen“ ausmachen, sondern lediglich eine Vielzahl genetischen Regionen, die jeweils einen schwachen Zusammenhang mit Schizophrenie aufweisen. Weitere Risikofaktoren sind Schädigungen der frühkindlichen Gehirnentwicklung durch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen. Hochrelevant sind auch soziale Einflüsse wie Traumatisierung, soziale Ausgrenzung oder Benachteiligung. Des Weiteren wurden verschiedene Merkmale von Personen identifiziert, die Menschen anfällig für die Entwicklung von Wahn machen könnten. Zu diesen zählen Auffälligkeiten im Urteilen und Entscheiden, die sich durch die Tendenz beschreiben lassen, „voreilig“ zu schlussfolgern (das heißt noch! voreiliger als Gesunde) und einmal gefällte Urteile weniger zu korrigieren, wenn widersprechende Informationen hinzukommen (Moritz und Lincoln, 2008). Auch verfestigte negative Einstellungen über sich selbst und andere Menschen sowie Schwierigkeiten in der Stress- und Emotionsregulation spielen eine Rolle. Neurobiologisch gibt es Hinweise auf eine Fehlregulation im dopaminergen, also im auf Dopamin reagierenden Neurotransmittersystem, mit der beobachtete Abweichungen in der Reizwahrnehmung möglicherweise erklärt werden könnten. Auf Basis der identifizierten Risikofaktoren und Korrelate, sind verschiedene Erklärungsmodelle für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Wahn postuliert worden, bei denen mal der eine, mal der andere Faktor stärker betont wird. Leider erklärt keines dieser Modelle bislang wirklich befriedigend, wie es zu solch extremen Abweichungen von der objektiven Wahrheit kommen kann und warum Menschen an diesen Überzeugungen trotz ihrer offensichtlich negativen Konsequenzen festhalten.
Welche Therapieansätze gibt es?
Lange glaubte man, dass Wahnvorstellungen von normalem Erleben dermaßen entrückt seien, dass man mit therapeutischen Ansätzen, die an kognitiven Prozessen ansetzen, keinen Erfolg haben würde. Viele befürchteten sogar, dass man die Überzeugungen nur verstärken würde, wenn man versuchte, mit den Betroffenen über diese Überzeugungen zu sprechen. Daher überließ die klinische Psychologie das Thema zunächst weitgehend der Medizin und diese konzentrierte sich auf biologische Ansätze. Seit dem Aufkommen von Neuroleptika in den 50er- und 60er-Jahren, die vor allem am Botenstoff Dopamin und somit an der neurobiologischen Reizverarbeitung ansetzen, haben sich diese zur Behandlung von Wahnsymptomen durchgesetzt (DGPPN, 2019). Allerdings können Neuroleptika beeinträchtigende Nebenwirkungen haben, die sich negativ auf die Bereitschaft auswirken, sie einzunehmen. Weitgehend ungeklärt sind zudem die Langzeitfolgen.
Wie findet jemand wieder zur Wahrheit zurück?
Im Zuge der Zunahme partizipativer Behandlungsplanung in den letzten Jahrzehnten äußerten Betroffene zunehmend hörbarer den Wunsch nach psychotherapeutischen Ansätzen, die ihre Erlebnisse, Überzeugungen und Gefühle auch in Form von Gesprächen adressieren. Derweil zog in der klinisch-psychologischen Forschung die Erkenntnis, dass sowohl Wahnüberzeugungen als auch ihre kognitiven Korrelate sich dimensional abbilden lassen, eine weitere nach sich, nämlich, dass kognitive Mechanismen an der Wahnentstehung beteiligt sein müssen und folglich auch Therapien, die diese Mechanismen adressieren einen Beitrag zur Wahnreduktion leisten könnten. In neueren, inzwischen ebenfalls als wirksam nachgewiesenen, kognitiven Therapieansätzen (Korff und Lincoln, 2023) steht die Erhöhung der kognitiven Flexibilität an oberster Stelle. Betroffene werden behutsam darin unterstützt, sich mit den Anhaltspunkten, die für und gegen ihre als wahnhaft diagnostizierten Überzeugungen sprechen, auseinanderzusetzen und diese gegeneinander abzuwägen. Ferner werden die Konsequenzen eines weiteren Festhaltens an der Überzeugung gemeinsam reflektiert und Betroffene ermutigt, ihr Vermeidungsverhalten aufzugeben. So können sie neue, den Wahn korrigierende Erfahrungen machen. Darüber hinaus werden individuelle Risikofaktoren herausgearbeitet, die die Wahnüberzeugungen begünstigen und – soweit dies möglich ist – ebenfalls adressiert.
Trotz dieser rasanten Weiterentwicklungen in dem Verständnis von Wahnüberzeugungen und den darauf basierenden wirksamen Therapien helfen leider weder die medikamentösen noch die kognitiven Therapien allen Betroffenen. Es bleibt daher zu hoffen, dass die zunehmende Entschlüsselung der Entstehungsmechanismen die Passgenauigkeit von Therapieansätzen verbessert, damit in Zukunft noch mehr Menschen von ihnen profitieren können.
Quellen
- American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5. 5th ed. Washington, DC.
- World Health Organization (1992). Tenth revision of the International Classification of Diseases, Chapter V (F): Mental and behavioural disorders (including disorders of psychological development). Clinical descriptions and diagnostic guidelines. Geneve: WHO.
- Moritz, S. & Lincoln, T.M. (2008). Kognitive Korrelate des schizophrenen Wahns. In: Kircher, T.T. & Gauggel, S. (Hrsg.). Neuropsychologie der Schizophrenie, pp. 456-467. Springer. Berlin.
- Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science, New Series, Vol. 185, No. 4157., pp. 1124-1131.
- Korff, S. & Lincoln, T. (2023). Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze bei Wahnüberzeugungen. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 73, 413-429.
- DGPPN e.V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Schizophrenie. Kurzfassung, 2019, Version 1.0, zuletzt geändert am 15. März 2019, verfügbar unter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-009.html
- Johns, L. C., & van Os, J. (2001). The continuity of psychotic experiences in the general population. Clinical Psychology Review, 21(8), 1125–1141.