Warum soziale Medien nicht das Ende der Wahrheit bedeuten

In den sozialen Medien scheint die Wahrheit an Wert zu verlieren. Digital verbreitete Fake News und „alternative Fakten“ gelten als Gefahr. Besser geeignet für die Analyse sind jedoch die Begriffe Fehlinformation, Desinformation und Verschwörungstheorie.
Essay von Stefan Wallaschek , 27. März 2023

Ein KI-generiertes Bild, welches abstrakte Darstellungen von App-Icons bekannter Social-Media-Plattformen zeigt.
Das Streben nach Authentizität in sozialen Medien ist zwar wichtig, jedoch steht die Vielzahl an Stimmen oft im Konflikt mit der Ergründung der Wahrheit.

„Angela Merkel ist ein Echsenmensch“, „Die Erde ist eine Scheibe“, „Durch die COVID-19-Impfung wurden uns Mikrochips von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung implantiert.“ Diese und ähnliche Aussagen finden sich zuhauf im Internet. Über soziale Medien werden sie vielfach geteilt. Und in der Tat vergeht wohl gegenwärtig keine Woche, in der nicht über Post-Truth (postfaktische Aussagen), ­ alternativen Fakten oder Fake News und deren Folgen gesprochen wird.

Meist werden diese Begriffe auf das Jahr 2016 zurückgeführt, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde[1] und die Menschen in Großbritannien für viele überraschend für den Brexit stimmten. Schnell wurden die sozialen Medien als Schuldige ausgemacht, die durch die digitale Verbreitung von Fake News die Wahl von Donald Trump ermöglicht und das Brexit-Votum beeinflusst hätten. Im selben Jahr wurde Post-Truth von Oxford Dictionaries zum Wort des Jahres gekürt und 2017 wurde „alternative Fakten“ in Deutschland zum Unwort des Jahres gewählt. Doch können wir überhaupt beschreiben, was mit postfaktisch (Post-Truth) gemeint ist? Wenn wir im Zeitalter nach der Wahrheit leben, gab es dann auch ein Zeitalter vor der Wahrheit (ante-truth)? Und was ist das Gegenteil von „alternativen Fakten“? Traditionelle oder konventionelle Fakten? Und was hat das alles mit sozialen Medien zu tun?

Ein KI-generiertes Bild, welches abstrakte Schlagzeilen zeigt. Es sind KI-generierte Worte zu lesen, welche an die Ausdrücke „fake“ und „news“ erinnern.
Schlagzeilen sind auf Aktualität und Aufmerksamkeit ausgerichtet, während die Wahrheit oft eher komplex als prägnant ist.

Drei Formen der Unwahrheit

Ich möchte dafür plädieren, drei Begriffe hervorzuheben, die geeigneter scheinen, die Frage nach der Wahrheit näher zu beleuchten: Fehlinformation, Desinformation und Verschwörungstheorie. Diese drei Begriffe können uns helfen, besser zu verstehen und zu erklären, worum es bei der Debatte über die Wahrheit im Kontext der sozialen Medien geht und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Zudem wird deutlich, dass es Unwahrheiten in der öffentlichen und privaten Kommunikation auch schon vor dem Aufkommen der sozialen Medien gab.

Unter Fehlinformation wird generell eine Falschinformation verstanden,[2] die als wahr oder falsch bestätigt werden kann. Fehlinformationen sind nicht neu, sondern sogar Teil unserer alltäglichen Kommunikation. Wem ist es nicht schon mal passiert, im Gespräch mit Freund:innen etwas behauptet zu haben, was sich später als falsch herausgestellt hat? Irren ist menschlich, wie es sprichwörtlich heißt. In der Öffentlichkeit wiegt eine Falschinformation schwerer, weil sie stärkere Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Durch die teil-öffentliche Kommunikation auf sozialen Medienplattformen wie Twitter, Facebook oder TikTok verbreiten sich solche Fehlinformationen leichter, schneller und sind nur schwer wieder durch Korrekturen einzufangen.[3] Es lässt sich also festhalten, dass diese Variante der Unwahrheit zwar weit verbreitetet und relativ problematisch, aber auch Teil unserer privaten und öffentlichen Kommunikation ist.

Manipulierte Informationen

Schwerer wiegt da schon die Desinformation, da der zentrale Unterschied zur Fehlinformation darin besteht, dass die Falschmeldung intentional verbreitet wird. Also hier wird bewusst getäuscht, um andere zu beleidigen, ins falsche Licht zu rücken oder gezielt Stimmung zu machen, zum Beispiel gegenüber vulnerablen Gruppen. Informationen werden manipuliert oder eine Position untermauert, die ansonsten haltlos wäre. Desinformationen sind nicht nur Text oder Zahlen, sondern es handelt sich dabei zunehmend auch um Visuals,[4] also Bilder und Videos, die leicht verfälscht werden können und sich einfach über nationale Kontexte und Sprachbarrieren hinaus verbreiten lassen. Studien[5] zeigen zudem, dass sich Desinformationen schneller verbreiten als wahre Informationen. Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten steigt die Anzahl an Desinformationen, wie es in der COVID-19-Pandemie[6] geschehen ist oder während der russischen Invasion in die Ukraine[7] passiert.

Auf sozialen Medien lassen sich Desinformationen leicht, schnell und weit verbreiten, weil es kaum Regularien gibt, die die Verbreitung untersagen, und keine schwerwiegenden Konsequenzen für diejenigen drohen, die Desinformationen verbreiten. Es gibt zwar immer wieder Sperrungen von Konten und Löschung von Inhalten auf Plattformen, zum Beispiel 2020 am Anfang der Pandemie, doch meist ist nicht ersichtlich, was wann wie gelöscht wurde. Autoritäre Regierungen zum Beispiel können unwahre Informationen also bewusst verbreiten, um die öffentliche Meinung zu manipulieren; zum Beispiel gab es Warnungen[8] vor der Beeinflussung des Wahlkampfes zum Europäischen Parlament 2019 durch digitale Desinformationskampagnen aus Russland. Gleichzeitig bleibt unklar, inwiefern solche Kampagnen die individuelle Wahlentscheidung beeinflussen.[9] Desinformationen sind als weitaus problematischer einzuschätzen als Fehlinformationen. Aber auch hier gilt, dass es Desinformationen auch bereits vor Facebook, YouTube & Co. gab. Man denke nur an gezielt gestreute Lügen über religiöse und ethnische Minderheiten oder Frauen, die als Hexen verunglimpft wurden.

Eine künstlerische Darstellung eines Seewesens namens "Porcus Marinus". Das Wesen hat einen Schweinekopf, einen beschuppten Fischkörper und vier Gliedmaßen mit Schwimmhäuten.
Porcus marinus, Wal-Hyäne oder Meerschweinchen? Der Schweizer Naturforscher Konrad Gessner zeigte dieses Wesen in einer Publikation über Meerestiere von 1558. Schon in der Renaissance war zwischen Fehlinformation und Fiktion oft nicht zu unterscheiden.

Verschwörungstheorien

Verschwörungstheorien sind die größte Gefahr für die öffentliche Meinungsbildung und stellen die Wahrheit auf den Kopf. Dabei wurden sie lange Zeit eher historisch untersucht[10] und rückten erst jüngst in die öffentliche und akademische Debatte.[11] Verschwörungstheorien sind Versuche[12] eine holistische, in sich abgeschlossene Erklärung für einen Sachverhalt zu liefern. Verschwörungstheorien sind eine Mischung aus Tatsachen, falschen Informationen, Gerüchten und wenig vertrauenswürdigen Informationen, um scheinbar rationale Zusammenhänge zu erschaffen. Zufälligkeit, Kontingenz oder falsche Entscheidungen werden zumeist nicht zugelassen oder im Nachhinein rationalisiert, um das eigentliche Ziel dahinter zu „entschlüsseln“. Ein weiteres typisches Merkmal ist die Behauptung, es gäbe korrupte Eliten, die sich gegen das „einfache Volk“ verschwören. Die „einfachen“ Leute würden stets betrogen und hinter das Licht geführt, während „die Eliten“ sich nur bereichern und allein dem eigenen Interesse folgen würden. Zumeist werden diese Eliten selbst nicht als eigenständige Gruppe beschrieben, sondern als durch im Geheimen agierende globale Machtzirkel gelenkt; häufig nutzen diese Erzählungen antisemitische Stereotype. Verschwörungstheorien sind weniger verbreitet als Fehlinformationen und Desinformationen, bergen jedoch gleichzeitig die größte Gefahr, weil sie Vertrauen in bestehende Institutionen unterminieren, Skepsis und Ablehnung säen und in der Folge sogar zu Gewalt und Hass führen können. Am Beispiel der Reichsbürgerbewegung in Deutschland, genereller Impfablehnung oder der Leugnung des Klimawandels zeigen sich die ernsthaften Konsequenzen für Gesellschaft und Demokratie.

Ein sandiger Boden mit Schuhabdrücken und zwei kleinen Steinen im Vordergrund. Im Hintergrund sind Stiefel eines Raumanzugs zu erkennen.
Dieses Bild kann eine andere Geschichte erzählen als die Tatsache, dass Neil Armstrong 1969 während der Apollo-11-Mission die ersten Schritte auf dem Mond unternommen hat.

Mangel an Verantwortung und Regulierung

Alle drei Typen von Unwahrheit gab es vor den sozialen Medien. Diese dienen aber als Brennglas und Brandbeschleuniger, weil sie es erleichtern, Informationen unkontrolliert und potenziell weltweit zu verbreiten und dies mit vergleichsweise geringen Kosten. Andererseits sind Unwahrheiten noch schwerer einzudämmen, weil die metaphorische Gatekeeper-Funktion der traditionellen Medien bei sozialen Netzwerken wegfällt. Selbstverständlich könnten Plattformen für die Verbreitung von Desinformationen haftbar gemacht werden, weil sie schließlich die Infrastruktur bereitstellen, um solche Informationen zu verbreiten, aber sie wehren sich dagegen mit aller Kraft und ziehen sich auf die Position zurück, dass sie keine Medienunternehmen seien, wie Mark Zuckerberg 2018 prominent vor dem US-Kongress argumentierte.[13] Deshalb wird beklagt und angemahnt,[14] dass soziale Medienplattformen ihre öffentliche Verantwortung nicht ernst nehmen, viel stärker gegen solche Beeinflussungskampagnen vorgegangen werden und zugleich die Politik klare Regeln für diese Unternehmen setzen sollte.

Chancen für mehr Sichtbarkeit und Repräsentation

Bei all der berechtigten Kritik an der digitalen Verbreitung von Unwahrheiten darf nicht vergessen werden, dass soziale Medien auch dazu beitragen können, Missstände aufzudecken und nützliche Informationen zu verbreiten. Zudem funktionieren soziale Medien schneller als traditionelle Medien und besitzen deshalb starkes Mobilisierungspotential.[15] Damit können Wahrheiten verbreitet werden, die ansonsten nur wenig Resonanz erfahren oder aufgrund von Informationsfiltern und geringem Nachrichtenwert kaum berücksichtigt würden. Die „MeToo“- oder die „Black Lives Matter“-Bewegung hätten ohne Twitter wohl nicht diese Aufmerksamkeit erreicht. Sie hätten es wohl nur schwerlich geschafft, die unterschiedlichen Proteste und geografisch verteilten Ereignisse im Sinne einer gemeinsamen Mobilisierung zu bündeln. Zudem lässt sich zeigen, dass Engagement auf sozialen Medien auch zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Unter dem Hashtag #myNYPD hat die New Yorker Polizei 2014 versucht, mehr Unterstützung für Polizeiarbeit zu erlangen und das Bild der Polizei aufzubessern. Jedoch wurde der Hashtag zunehmend, wie Sarah J. Jackson und Brooke Foucault Welles in ihrer Studie zeigen,[16] von Personen, die von Polizeigewalt und „Racial Profiling“ betroffen waren, umgedeutet, um ihre Erfahrungen mit der New Yorker Polizei zu teilen und somit auf Rassismus, Sexismus und Diskriminierung aufmerksam zu machen. Damit haben Menschen öffentlich gesprochen, die in traditionellen Medien weniger repräsentiert sind. Sie konnten einem Thema öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, welches sonst nur marginal behandelt wird.

Statt neue Begriffe wie Post-Truth oder Fake News zu nutzen, lohnt es, bestehende Konzepte analytisch klar zu verwenden. Der Vorwurf gegenüber sozialen Medien ist nur insofern haltbar, als dass sie die Verbreitung erleichtern, aber sie sind nicht die Ursache von Desinformationen und die Plattformen können durch klarere Regeln und Gesetze verantwortlich und haftbar gemacht werden. Soziale Medien können auch für Aufklärung und zur Verbreitung von Informationen genutzt werden, die Ungerechtigkeiten aufzeigen und Missstände darlegen.

Fußnoten

  1.  Colin von Negenborn, ‘Wahrheit Und Realität’, 24 February 2023, www.awhamburg.de/essays/wahrheit-und-realitaet.html.
  2.  Andrew M. Guess and Benjamin A. Lyons, ‘Misinformation, Disinformation, and Online Propaganda’, in Social Media and Democracy: The State of the Field, Prospects for Reform, ed. Nathaniel Persily and Joshua A. Tucker, 1st ed. (Cambridge: Cambridge University Press, 2020), 10–33, doi.org/10.1017/9781108890960.
  3.  Chloe Wittenberg and Adam J. Berinsky, ‘Misinformation and Its Correction’, in Social Media and Democracy: The State of the Field, Prospects for Reform, ed. Nathaniel Persily and Joshua A. Tucker, 1st ed. (Cambridge: Cambridge University Press, 2020), 163–98, doi.org/10.1017/9781108890960.
  4.  Viorela Dan et al., ‘Visual Mis- and Disinformation, Social Media, and Democracy’, Journalism & Mass Communication Quarterly 98, no. 3 (September 2021): 641–64, doi.org/10.1177/10776990211035395.
  5.  Katie Langin, ‘Fake News Spreads Faster than True News on Twitter—Thanks to People, Not Bots’, 8 March 2018, www.science.org/content/article/fake-news-spreads-faster-true-news-twitter-thanks-people-not-bots.
  6.  Henrich R. Greve et al., ‘Online Conspiracy Groups: Micro-Bloggers, Bots, and Coronavirus Conspiracy Talk on Twitter’, American Sociological Review 87, no. 6 (December 2022): 919–49, doi.org/10.1177/00031224221125937.
  7.  Daniel Leisegang, ‘WarTok: Der Krieg in Den Sozialen Medien’, Blätter Für Deutsche Und Internationale Politik 67, no. 4 (2022): 9–12.
  8.  Annegret Bendiek and Matthias Schulze, ‘Desinformation Und Die Wahlen Zum Europäischen Parlament’, SWP-Aktuell 2019/A 10 (Berlin: SWP, 2019), www.swp-berlin.org/10.18449/2019A10/.
  9.  Andreas Jungherr and Ralph Schroeder, ‘Disinformation and the Structural Transformations of the Public Arena: Addressing the Actual Challenges to Democracy’, Social Media + Society 7, no. 1 (January 2021): 205630512198892, doi.org/10.1177/2056305121988928.
  10.  Joseph E. Uscinski, ‘The Study of Conspiracy Theories’, Argumenta 3, no. 2 (October 2017): 1–13, https://doi.org/10.23811/53.arg2017.usc.
  11.  Daniela Mahl, Mike S. Schäfer, and Jing Zeng, ‘Conspiracy Theories in Online Environments: An Interdisciplinary Literature Review and Agenda for Future Research’, New Media & Society, 8 February 2022, 146144482210757, doi.org/10.1177/14614448221075759.
  12.  Henrich R. Greve et al., ‘Online Conspiracy Groups: Micro-Bloggers, Bots, and Coronavirus Conspiracy Talk on Twitter’, American Sociological Review 87, no. 6 (December 2022): 919–49, doi.org/10.1177/00031224221125937.
  13.  Cecilia Kang and Kevin Roose, ‘Zuckerberg Faces Hostile Congress as Calls for Regulation Mount’, New York Times, 11 April 2018, www.nytimes.com/2018/04/11/business/zuckerberg-facebook-congress.html.
  14.  Dominik Piétron and Philipp Staab, ‘EU Gegen Big Tech: Das Ende Der Gesetzlosigkeit?’, Blätter Für Deutsche Und Internationale Politik 66, no. 2 (2021): 95–101.
  15.  Sarah J. Jackson, Moya Bailey, and Brooke Foucault Welles, #HashtagActivism: Networks of Race and Gender Justice (The MIT Press, 2020), doi.org/10.7551/mitpress/10858.001.0001.
  16.  Sarah J. Jackson and Brooke Foucault Welles, ‘Hijacking #myNYPD: Social Media Dissent and Networked Counterpublics: Hijacking #myNYPD’, Journal of Communication 65, no. 6 (December 2015): 932–52, doi.org/10.1111/jcom.12185.

Dr. Stefan Wallaschek

Gegenwärtig bin ich Post-Doktorand im Forschungsprojekt „Value conflicts in a differentiated Europe: The impact of digital media on value Polarisation in Europe“ (ValCon) am Interdisciplinary Centre for European Studies (ICES) an der Europa-Universität Flensburg. Zusammen mit Kolleg*innen in Madrid und Florenz erforsche ich die Nutzung von sozialen Medien und zunehmender politischer und gesellschaftlicher Polarisierung in Europa. Ich habe Politikwissenschaft und Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universität Bremen und Universiteit van Amsterdam studiert und meine Dissertation 2019 an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS)/Universität Bremen abgeschlossen. Meine Forschungsinteressen zu Solidarität, (sozialen) Medien, Europa und Netzwerken bewegen sich stets im interdisziplinaren Raum, weswegen ich den Austausch mit Kolleg*innen in benachbarten Disziplinen stets schätze.