Objektive und ‚zweieine‘ Wahrheit im Russischen

Im Russischen unterscheidet man ‚istina‘ als objektive und ‚pravda‘ als gerechte Wahrheit. ‚Pravda‘ vereint seit dem 19. Jhd. untrennbar Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Legende erzählt, wie ‚krivda‘ über ‚pravda‘ siegt und seitdem Lüge auf Erden herrscht.
Essay von Ulrike Jekutsch, 10. Dezember 2023

Eine Steinskulptur der römischen Göttin der Wahrheit Veritas im Sommergarten Sankt Petersburg
Statue der ‚Wahrheit‘ im Sankt Petersburger Sommergarten (Летний сад)

Die russische Sprache besitzt zwei Bezeichnungen, ‚istina‘ und ‚pravda‘, für das Wort und den Begriff der ‚Wahrheit‘. Beide Wörter gehören dem gesamtslavischen Wortschatz und damit auch anderen slavischen Sprachen an. Zwar verfügen nicht alle von ihnen über beide Wörter – so hat z.B. das heutige Polnische nur das dort ‚prawda‘ geschriebene Wort für Wahrheit, aber es hat Ableitungen von altpolnischen ‚iścina‘ (z.B. istny – tatsächlich, wirklich, wahr) bewahrt. Allerdings hat keine andere slavische Kultur die Begriffe ‚istina‘ und ‚pravda‘ so stark konzeptualisiert wie die russische.

Die beiden Wörter haben eine jahrhundertelange Geschichte, die mit Bedeutungsveränderungen und -weiterentwicklungen einherging. Diese Geschichte begann im 9. Jahrhundert mit der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen in die von den Slavenaposteln Kyrill und Method gesprochene südslavische Mundart, die heute in den entsprechenden slavischen Ländern als altbulgarisch bzw. altmakedonisch bezeichnet wird.

Gebrüder Kyrill und Method, gemalt von Jan Alojzy Matejko (1885, Kloster Velehrad, Bazilika Nanebevzetí Panny Marie a svatého Cyrila a Metoděje, Tschechien)
Gebrüder Kyrill und Method, gemalt von Jan Alojzy Matejko (1885, Kloster Velehrad, Bazilika Nanebevzetí Panny Marie a svatého Cyrila a Metoděje, Tschechien)

‚Istina‘ - Wahrhaftig und wirklich

Kyrill und Method schufen mit dieser Übersetzung zugleich die erste slavische Schrift und Schriftsprache, deren Bezeichnung Altkirchenslavisch auf ihre dominant sakrale Funktion und Geltung in den slavischen Gesellschaften des Früh- und Hochmittelalters hinweist. Kyrill und Method haben das griechische Wort ‚aletheia‘ (Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Wirklichkeit) konstant mit ‚istina‘ übertragen. Gemeinhin verstanden als objektive, tatsächliche Wahrheit wird ‚istina‘ auch im heute noch gebräuchlichen traditionellen Ostergruß verwendet: Der Gruß „Christos voskrese“ (Christus ist auferstanden) verlangt die bestätigende Antwort „v istine voskrese“ (Er ist wahrhaftig [wörtlich: in Wahrheit] auferstanden). Der Begriff ‚istina‘ bezeichnet demnach eine offenbarte Wahrheit, eine Glaubenswahrheit und eine objektive, mit der Realität übereinstimmende Wahrheit zugleich, und auch wenn ‚istina‘ im 19. und 20. Jahrhundert auf die Bedeutung objektive, wissenschaftliche, mit der Wirklichkeit übereinstimmende Wahrheit eingegrenzt wurde, hat das Wort bis heute eine sakrale Komponente behalten.

‚pravda‘ – Rechtens und richtig

Mit ‚pravda‘ haben Kyrill und Method das griechische Wort  ‚dikaiosyne‘ (Gerechtigkeit, Rechtlichkeit) übertragen und damit ein mit Rechtsprechung, Rechtschaffenheit, Redlichkeit  sowie mit den Bedeutungen ‚recht, rechts, richtig‘ verknüpftes Wort gewählt, das „eine normative Komponente enthält. Als ‚Wahrheit‘ ist in diesem Wort eine Vorstellung bestimmend, die nicht ‚tatsächlich, wirklich‘ meint, sondern ‚richtig, einer Norm entsprechend‘“ (Kegler 1975: 14).  Oder, anders ausgedrückt: „Im Gegensatz zu istina hat die pravda-Wahrheit immer eher ethischen als kognitiven Bezug“ (Breckner 2011: 27).

Zweieinheit von Wahrheit und Gerechtigkeit?

Der Begriff ‚pravda‘ ist nicht nur in der russischen Alltagssprache weit verbreitet, sondern auch seit dem 19. Jahrhundert zunächst von Publizisten und Denker Nikolaj K. Michajlovskij als spezifisch russischer konzeptualisiert worden. Michajlovskij schrieb:

  „Jedesmal, wenn mir das Wort ‚Prawda‘ (pravda) in den Sinn kommt, kann ich es nicht lassen, mich über seine treffende innere Schönheit zu entzücken. Ein solches Wort gibt es offensichtlich in keiner anderen europäischen Sprache. Es scheint, nur auf Russisch werden Wahrheit (istina) und Gerechtigkeit (spravedlivost‘) mit ein und demselben Wort benannt und fließen gleichsam in ein einziges großes Ganzes zusammen […] Furchtlos der Wirklichkeit und ihrer Widerspiegelung – der Prawda-Istina, der objektiven Wahrheit, in die Augen zu schauen und zugleich die Prawda-spravedlivost‘, die subjektive Wahrheit zu bewahren – das ist die Aufgabe meines Lebens […] Die Fragen der Freiheit des Willens und der Notwendigkeit, […] Probleme der Geschichtsphilosophie, der Ethik, Ästhetik, Ökonomie, Politik und Literatur beschäftigten mich zu verschiedenen Zeiten ausschließlich vom Standpunkt der großen zweieinen Prawda (velikoj dvuedinoj pravdy) aus.“ (Zit. nach: Goerdt 1968: 65-67)

 

Postuliert wird hier ein im Wort ‚pravda‘ enthaltenes Zusammenfließen von Wahrheit und Gerechtigkeit als Einigkeit, Einheit, untrennbares Ganzes beider Wortbedeutungen. Auch wenn die Annahme, diese Zweifachbedeutung des Wortes ‚pravda‘ gebe es nur im Russischen, nicht richtig ist (wir finden sie z.B. auch im Bulgarischen), so ist doch richtig, dass diese „Zweieinheit“ nur im Russischen zum Konzept erhoben wurde. Zwar hat die sowjetische marxistische Philosophie ausschließlich den Begriff ‚istina‘ anerkannt (weder in der Großen Sowjetenzyklopädie noch in der Filosofskaja ėnciklopedija ist das mit bourgeois-idealistischer Philosophie in Verbindung gebrachte Stichwort ‚pravda‘ zu finden), aber seit den 1990er Jahren setzt sich die russische Philosophie wieder, wie zuvor bis zur Oktoberrevolution, mit den Begriffen ‚pravda‘ und ‚istina‘, ihrer Konzeptualisierung und ihrem gegenseitigen Verhältnis auseinander.

Das Taubenvogelbuch, Nicholas Roerich (1922, Staatliche Museum für Orientalische Kunst Moskau)
Das Taubenvogelbuch, Nicholas Roerich (1922, Staatliche Museum für Orientalische Kunst Moskau)

Auf Erden herrscht ‚krivda‘

Wenn wir ‚pravda‘-Wahrheit nicht als Teilsynonym zu ‚istina‘ betrachten, sondern im Hinblick auf seine Opposition, dann gelangen wir zu ‚pravda‘ (Wahrheit) vs. ‚lož‘‘ (Lüge, Falschheit) bzw. ‚krivda‘. Die analoge Wortbildung zu ‚pravda‘ zeigt die Passgenauigkeit des inzwischen veralteten Ausdrucks ‚krivda‘ an, das im Gegensatz zu dem etymologisch mit ‚pravyj‘ (recht, rechts, gerade) verbundenen ,pravda‘ mit „krivoj“ (falsch, gekrümmt, links) zusamenhängt und in der mittelalterlichen Weltanschauung die mit links assoziierte falsche, verkehrte, teuflische Seite der Welt bezeichnete. Bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein sangen die „kaleki perechožie“ (wörtlich: durchziehende Krüppel), die Gruppen der Wanderbettler, in den Dörfern u.a. das bereits in mittelalterlichen Quellen erwähnte – und 1861 von P. Bessonov mit zahlreichen, in verschiedenen Regionen und Dörfern aufgezeichneten Varianten publizierte – Lied Golubijnaja kniga (Taubenbuch). Das Taubenbuch erzählt eine Legende von der göttlichen Erschaffung der Welt mit ihrer hierarchischen Ordnung bis zum Verlust der ‚pravda‘, der Wahrheit bzw. Gerechtigkeit: Am Anfang herrschte ,pravda‘ auf der Erde, bis ‚krivda‘ erschien und ,pravda‘ im Kampf um die Vorherrschaft besiegte. ‚Pravda‘ verließ daraufhin die Erde und begab sich in die höchsten Himmel bzw. zu Christus. Seitdem herrscht ‚krivda‘ auf Erden, es gibt weder Wahrheit noch Gerechtigkeit mehr.

Umschlagentwurf von Zdeňek Mézl für „Pravda i krivda“ (1965). Ein Roman über ein ukrainisches Dorf im Jahr 1945. Das Buch des ukrainisch-sowjetischen Schriftstellers Mychajlo Stelmach erschien auf Deutsch unter dem Titel „Die Aufrechten und die Falschen“.
Umschlagentwurf von Zdeňek Mézl für „Pravda i krivda“ (1965). Ein Roman über ein ukrainisches Dorf im Jahr 1945. Das Buch des ukrainisch-sowjetischen Schriftstellers Mychajlo Stelmach erschien auf Deutsch unter dem Titel „Die Aufrechten und die Falschen“.

‚Pravda‘ in der Literatur

Im 20. Jahrhundert griff der Spätavantgardist Nikolaj Zabolockij (1904-1958) auf das Taubenbuch zurück, als er 1936 gebeten wurde, für die Regierungszeitung Izvestija, ein Gedicht über die zweite Verfassung der Sowjetunion zu schreiben, die im Dezember desselben Jahres angenommen wurde. Diese Verfassung wird auch als „Stalin-Verfassung“ bezeichnet und wurde in einer Zeit der Schauprozesse und des „großen Terrors“ verabschiedet.

Das Gedicht entwirft, ausgehend von der Beschreibung einer erinnerten dörflichen Erzählsituation in der vorrevolutionären Kindheit des Sprechers, unter dem Titel Velikaja kniga (Großes Buch) eine Märchenelemente aufnehmende Variante der Legende. Die ‚pravda‘ wird hier nicht mehr personifiziert, sondern als eine Erzählung in einem mit Gold verzierten Buch dargestellt. Nach dem Sieg der ‚krivda‘ wurde das Buch mit sieben Siegeln verschlossen und im tiefsten Meer versenkt. Dort wird ‚pravda‘ ­– als Wahrheit und Gerechtigkeit zugleich – solange verschlossen bleiben, bis die Siegel fallen und ‚pravda‘ wieder aus den Tiefen auferstehen wird. In der 1937 in der Izvestija erschienenen Fassung des Gedichts kehrt ‚pravda‘ mit der Stalin-Verfassung auf die Erde zurück. Als Zabolockij, der noch im selben Jahr verhaftet wurde und die folgenden Jahre in sibirischen Arbeitslagern mit anschließender Verbannung verbrachte, 1957/58 sein bis dahin kaum veröffentlichtes lyrisches Werk einer Redaktion letzter Hand unterzog, nahm er auch dieses Gedicht in den von ihm autorisierten Bestand auf – nun mit dem Titel Golubijnaja kniga und gekürzt um diejenigen 45 Verse, die die Rückkehr der Wahrheit erzählen. Übrig blieb die Erzählung vom Hören des Taubenbuchs in der Kindheit und vom Sieg der ‚krivda‘ über die ,pravda‘, die nach wie vor verschlossen auf dem Meeresgrund liegt – und damit eine Geschichte, die heute (wieder) so aktuell ist wie zu Stalins Zeiten.

Russlands ‚krivda‘ im Krieg gegen die Ukraine

Prominente russische Schriftsteller unserer Gegenwart, u.a. Vladimir Sorokin, Viktor Erofeev, Dmitrij Gluchovskij oder Michail Šiškin, zeichnen in ihren Romanen das heutige Russland als einen Staat der dreisten Lüge, Willkür und Rechtlosigkeit. Es bleibt die Frage, warum ein großer Teil der Bevölkerung des heutigen Russlands anscheinend die vom Regime verkündete ‚krivda‘ zum Krieg gegen die Ukraine als ‚pravda-istina‘ (pravda-Wahrheit) akzeptiert.

Literatur

  1. Bessonov, P. (1861): Kaleki perechožie. Sbornik stichov i izsledovanie. Moskva. Tip. A. Semena.
  2. Breckner, Katharina A. (2011): Zum Gebrauch von Pravda (Wahrheit-Gerechtigkeit) und Istina (theoretische Wahrheit) in der russischen Ideengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel Nikolaj K. Michajlovskijs und Pavel I. Pestel’s. In: Kuße, Holger; Plotnikov, Nikolaj (Hg.): Pravda. Diskurse der Gerechtigkeit in der russischen Ideengeschichte. Müchen, Berlin: Otto Sagner. 17-38.
  3. Goerdt, Wilhelm (1968): Pravda. Wahrheit (Istina) und Gerechtigkeit (Spravedlivost‘). In: Archiv für Begriffsgeschichte 12. 58-85.
  4. Kegler, Dietrich (1975): Untersuchungen zur Bedeutungsgeschichte von Istina und Pravda im Russischen. Bern, Frankfurt/M.: H.u.P. Lang.
  5. Lachmann, Renate (2006): Pravda – Krivda (Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit; Recht – Unrecht; Das Gute – Das Böse). Anmerkungen zu einem dualistischen Motiv in altrussischen Texten und dessen Tradition. In: Hahn, Alois; Moos, Peter, von (Hg.): Norm und Krise von Kommunikation: Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Berlin, Münster: LIT-Verlag. 371-397. 
  6. Zabolockij, Nikolaj (2019): Metamorfozy. Sost., podgot. teksta, vstup. stat’i i komment. I. E. Loščilova. Moskva: OGI.

Prof. Dr. Ulrike Jekutsch

Nach dem Studium der Slawischen Philologie in Göttingen habe ich mich zunächst Forschungen zur russischen Lehrdichtung des 18.Jahrhunderts im Kontext der zeitgenössischen Debatten um Kunst, Bildung und Wissen-schaft im Russischen Reich gewidmet. Die Erforschung der russischen Literatur wurde erweitert um die der polnischen Literatur, in der es mir insbesondere um die Gestaltung des Verhältnisses der Dichtung zu Religion und Kirche und um die für Polen in der Zeit der Teilungen zentrale Frage der Bewahrung der nationalen Identität geht. Die Arbeit in der Akademie und in der Arbeitsgruppe bietet aufgrund ihrer Interdisziplinarität stets neue, spannende Einblicke in benachbarte und entferntere Fächer und gibt dadurch immer wieder Anregungen zu neuen Ideen und Forschungsfragen.