Wahrheit und Realität

Sind „alternative Fakten“ schlicht unwahr? Und können wir gesellschaftliche Realität überhaupt objektiv beschreiben? Eine sprachphilosophische Betrachtung anhand der bis dato ersten Inauguration Donald Trumps.
Essay von Colin von Negenborn, 24. Februar 2023

Die Amtseinführung von Donald Trump vor dem Kapitol in Washington D.C aus der Sicht des US-Präsidialamtes. Um ihn herum stehen zahlreiche Politiker und Gäste, auch der Platz vor dem Kapitol ist gefüllt. Der Himmel ist bewölkt.
Die Amtseinführung von Donald Trump vor dem Kapitol in Washington D.C aus der Sicht des US-Präsidialamtes.

Die Amtseinführung Donald Trumps als US-Präsident im Jahr 2017 war nicht nur politisch, sondern auch sprachphilosophisch ein bemerkenswertes Ereignis. Politisch markierte sie den Beginn einer Präsidentschaft, die viele Beobachterinnen zuvor für nicht möglich gehalten hatten – bis sie Realität wurde. Seither wurden viele Thesen aufgestellt, welche Lehren für die gesellschaftspolitische Praxis aus dieser neuen Realität zu ziehen seien. Dieser Text soll sich jedoch nicht mit der politischen Seite befassen, sondern stattdessen die sprachphilosophischen Lehren beleuchten und die Frage untersuchen, was eigentlich „real“ und „wahr“ ist.

Was aber lehrt uns das soziale Konstrukt einer Inauguration über den zunächst so konstruktionsunabhängigen Begriff der Wahrheit? Dies zeigte sich schon wenige Tage nach der Amtseinführung. Damals erklärte der Pressesprecher des Weißen Hauses, die Amtseinführung Trumps sei von mehr Menschen verfolgt worden als je eine andere Amtseinführung zuvor. Dem entgegen stehen Luftbildaufnahmen und Daten des öffentlichen Personennahverkehrs: Beide Quellen legen nahe, dass bei der Inauguration Barack Obamas acht Jahre zuvor mehr Personen anwesend waren und die Aussage des Pressesprechers damit nicht der Wahrheit entspricht.

Präsident Trump zeigt auf die Menge, während er mit seiner Ehefrau Melania Trump an der Tribüne der 58. Inaugurationsparade in Washington D.C. vorbeigeht.
Präsident Trump zeigt auf die Menge, während er mit seiner Ehefrau Melania Trump an der Tribüne der 58. Inaugurationsparade in Washington D.C. vorbeigeht.

Von alternativen Fakten zu alternativen Wahrheiten?

Dieser Widerspruch wurde anschließend aus dem republikanischen Lager damit gerechtfertigt, dass beiden Aussagen unterschiedliche Fakten zugrunde lägen. Während Luftbilder und ÖPNV-Daten eine Form von Fakten seien, hätte der Pressesprecher eben „alternative Fakten“ präsentiert, so die Präsidentenberaterin Kellyanne Conway. Trump selbst hatte bereits Jahre zuvor in seinem Buch „Trump: The Art of the Deal“ von der Kunst der „wahrheitsgemäßen Übertreibung“ gesprochen.

Wie aber sind solche alternativen Fakten und Übertreibungen einzuordnen? Sind sie schlicht als Fake News abzutun? Ko-existieren unterschiedliche Wahrheiten, ergänzen sie einander, konkurrieren sie miteinander? Auf den ersten Blick stehen hier zwei Lager einander gegenüber. Das Lager des Subjektivismus sieht die Wahrheit im Auge des Betrachters, die zwar begründbar ist, sich aber einer beobachterunabhängigen Beurteilung entzieht. Dem gegenüber steht der Objektivismus, welcher eine unabhängige Realität als gegeben sieht und diese aus neutraler Perspektive beschreiben möchte.

Portrait John Rogers Searle, ein amerikanischer Philosoph
Portrait John Rogers Searle, ein amerikanischer Philosoph

Die Realität und ihre Facetten

Hier lohnt ein näherer Blick aus sprachphilosophischer Richtung. Vor dem Hintergrund der Amtseinführung und der nachfolgenden Diskussion gewinnt sie an neuer Relevanz, kann sie doch der Debatte um verschiedene Beschreibungen sozialer Realität zu klarerer Differenzierung verhelfen. So entwickelte der US-amerikanische Philosoph John Searle in seinem Buch „The Construction of Social Reality“[1] schon mehr als zwei Jahrzehnte vor der Debatte um den späteren Präsidenten seines Landes ein Schema, welches die bipolare Unterscheidung zwischen Subjektivismus und Objektivismus als zu grob abweist.

In diesem Schema verwirft Searle die beiden Begriffe nicht grundsätzlich, weist jedoch darauf hin, dass sie in zweierlei Hinsicht verwendet werden können – und dass diese Verwendungen oft nicht artikuliert werden. Betrachten wir die beiden Aussagen „Ich bekomme Kopfschmerzen beim Lesen dieses Textes“ (A) und „Dieser Text ist der langweiligste, der je geschrieben wurde“ (B). Beide Aussagen beinhalten eine gewisse Subjektivität und zugleich auch eine Form von Objektivität – jedoch sehr unterschiedlicher Art, so Searle. Beide gilt es zu unterscheiden.

Aussage A beschreibt einen Schmerz, der nur aufgrund meiner Wahrnehmung existiert, der also nicht beobachterunabhängig existiert. Er ist dabei allerdings unabhängig von menschlicher Einstellung oder Meinung sowohl meinerseits als auch vonseiten Dritter. Darum sieht Searle diesen Schmerz als subjektiv und objektiv zugleich: Einerseits ist die Existenz des Schmerzes von mir als ihn empfindenden Subjekt abhängig. Sein bloßes Sein, seine „Ontologie“, ist subjektiv. Sind jedoch die Existenz meiner selbst und des Textes einmal gesetzt, so ist der Schmerz unabhängig von irgendwelchen Einstellungen im Gegenüber. Seine Geltung ist also nicht an ein subjektives Für-Wahr-Halten von mir als Sender oder der Leserin als Empfängerin gekoppelt. Diese beiden Beobachtungen führen Searle zu der Diagnose einer ontologischen Subjektivität, aber epistemischen Objektivität.

Demgegenüber steht Aussage B. Sie bezieht sich auf einen beobachterunabhängig existierenden Text, der in dem Sinne ontologisch objektiv ist. Doch ist der Wahrheitsgehalt der Aussage abhängig von menschlichen Einstellungen, er ist epistemisch subjektiv. Um den Text auch epistemisch objektiv zu beschreiben, hätte ich beispielsweise auf die Zahl seiner Wörter statt auf meine Meinung zu seinem Inhalt verweisen müssen.

Epistemisch vs. Ontologisch 

Epistemisch bedeutet, dass etwas auf das Wissen oder die Erkenntnis des Sprechers bezogen ist. Folgender Satz drückt aus, dass der Sprecher eine bestimmte subjektive Erkenntnis über einen Apfel hat.: „Ich weiß, dass dieser Apfel rot ist.“

 

Ontologisch bedeutet, dass etwas auf das Sein oder die Existenz der Dinge bezogen ist. Dieser Satz drückt aus, dass der Apfel eine bestimmte Eigenschaft hat, die unabhängig vom Sprecher existiert: „Dieser Apfel ist rot.“

Ein roter Apfel liegt auf Stroh
Ansichtssache Apfel

Orwell lässt grüßen

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Dimensionen ist laut Searle wesentlich für die Erfassung unserer Realität: Auf der einen Seite die epistemisch-ontologische Dimension, auf der anderen Seite die subjektiv-objektive. Im Wechselspiel dieser beiden Dimensionen ergeben sich dann vier Formen (zweimal zwei), den Wahrheitsgehalt der uns umgebenden und teils von uns konstruierten Welt zu beschreiben. Insbesondere gesellschaftliche Institutionen und Praktiken bedürfen für Searle einer solchen feineren Unterscheidung als der ursprünglichen zweiteiligen. Denn auf der einen Seite sind sie ontologisch subjektiv: Sie existieren bloß als Produkt sozialer und politischer Interaktion. Auf der anderen Seite ist ihr Wahrheitsgehalt unabhängig davon, wie ich sie „finde“ und epistemisch einordne.

So können wir auch Aussagen über die Trumpsche Amtseinführung differenzieren. Wer sie als „great“ oder gar „the greatest“ bezeichnet, beschreibt damit die eigene personale Einstellung gegenüber der Veranstaltung. Die Aussage bezieht sich zwar auf ein beobachterunabhängiges Objekt: die Inauguration oder die versammelte Menschenschar. Sie ist somit ontologisch objektiv im Sinne Searles. Aber sie gibt eine eigene Beurteilung wieder, die zunächst nur Perspektive des sprechenden Subjekts Geltung besitzt. Das macht sie epistemisch subjektiv.

Spricht man hingegen von der Gänsehaut, die man– im Guten oder im Schlechten – während der Inauguration erlebt hat, so verhält es sich genau umgekehrt. In diesem Fall wird, wie schon beim obigen Beispiel des Kopfschmerzes, ein meinungsunabhängiger Zustand beschrieben, dessen bloße Existenz abhängig vom ihm empfindenden Subjekt ist. Damit liegt wieder epistemische Objektivität bei ontologischer Subjektivität vor.

Das Cover des Buches "1984" von George Orwell. Es ist ein großes, bedrohliches Auge in einem weißen Dreieck auf dunklem Hintergrund zu sehen. Der Titel und der Autor des Buches sind in großen, weißen Buchstaben unter dem Auge zu lesen.
Das Cover des Buches "1984" von George Orwell.

Beide Aussagen über die Amtseinführung besitzen also eine Form von Subjektivität: Im ersten Fall beschreibt die „Greatness“ eine subjektive Beurteilung, im zweiten Fall beschreibt die Gänsehaut einen subjektabhängigen Zustand. Damit könnte in beiden Fällen von einer alternativen Faktizität gesprochen werden, wenn man beispielsweise (erster Fall) das Ereignis weniger erbaulich findet oder wenn (zweiter Fall) an einer anderen Teilnehmerin Übelkeit statt Gänsehaut zu beobachten ist. Anders verhält es sich jedoch bei einer Aussage über die Zahl der anwesenden Personen: Diese ist epistemisch wie ontologisch objektiv, sie ist beobachterunabhängig gültig. Hier kann nicht auf alternative Fakten verwiesen werden. Die Aussage ist schlicht nicht wahr oder eben „Fake News“.

Die Sprachphilosophie im Allgemeinen und Searle im Besonderen verschaffen damit den Aussagen des Pressesprechers und der Präsidentenberaterin kein Fundament. Wir müssen nicht im Sinne des Orwellschen „Neusprech“, zwei einander widersprechende Aussagen gleichermaßen als wahr anerkennen. So kann ein genauerer Blick auf das Konzept von Realität und Wahrheit helfen, die Diskussion im Nachgang der Amtseinführung zu ordnen.

Literatur

  • Searle, John R. (1995). The Construction of Social Reality. Free Press.

Dr. Colin von Negenborn

In seiner Forschung verbindet Colin von Negenborn die analytische Methodik der Mathematik und Mikroökonomie mit den normativen Fragestellungen der praktischen Philosophie. So beleuchtet er Fragen nach der Gerechtigkeit von Verteilungen und Verfahren: Wie kann eine „nachhaltige“ Ressourcennutzung die Balance zwischen heutigen und künftigen Bedürfnissen ermöglichen? Was bedeutet es, wenn Gemeingüter wie die Hohe See als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ gelten sollen? Und wie sehen überhaupt „faire“ Abstimmungsprozesse aus? Colin von Negenborn studierte u.a. Physik sowie Philosophy, Politics and Economics. Nach einer Promotion zu ökonomischem Design an der Humboldt- Universität Berlin arbeitete er als Postdoc an der CAU Kiel in den Fachbereichen Umweltethik und Internationales Recht. Seit Herbst 2022 forscht er an der Universität Hamburg im Rahmen des interdisziplinären Exzellenzprojekts „Grounds, Norms, Decisions“.