Die Wahrheit wird euch frei machen

Wahrheit ist im christlichen Glauben unverzichtbar, auch wenn absolute Erkenntnis unerreichbar bleiben muss. Religion und Wissenschaft mögen verschiedene Wege zur Wahrheit gehen, aber beide schätzen sie als einen Wert, der verteidigt werden sollte.
Essay von Johannes Schilling, 27. Dezember 2023

Christus vor Pilatus (Solis, Virgil, 1563)
Christus vor Pilatus (Solis, Virgil, 1563)

„Die Wahrheit wird euch frei machen“. Das ist die programmatische Inschrift, die das 1911 eröffnete Hauptgebäude der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an seiner Stirnseite trägt – eingedenk der Aufgabe der Universität als Institution der Suche und des Strebens nach Wahrheit. Es handelt sich dabei um ein aus seinem Kontext gelöstes Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger 32und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32f.).[1]

Macht und Wahrheit

„Quid est veritas? τί ἐστιν ἀλήθεια; Was ist Wahrheit?“ Das ist die „Pilatusfrage“, die man mit Pontius Pilatus in Verbindung bringt, einem römischen Beamten, der von 26 bis 36 n. Chr. Präfekt des römischen Kaisers Tiberius in Judäa (praefectus Iudeae) war, das zu seinen Amtszeiten zu der Provinz Syria gehörte. Dieser Beamte trifft auf einen Angeklagten, den er selbst offenbar für unschuldig hält, dessen Tod von der anwesenden Menge aber lautstark eingefordert wird. Der Angeklagte erklärt ihm gegenüber: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Wer aus der Wahrheit ist, der hört (auf) meine Stimme“ (Evangelium des Johannes 18,37). Mit dieser Antwort kann der Präfekt anscheinend nicht recht etwas anfangen. Und er stellt (daher) die Frage: „Was ist Wahrheit?“, die er selbst offenbar nicht beantworten kann. Dann, so heißt es in der Geschichte weiter, „ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“

Wie die Frage innerhalb der Erzählung der biblischen Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu von Nazareth, der Passionsgeschichte Jesu Christi, zu beantworten ist, ist nicht leicht zu sagen. Ist sie Ausdruck eines Skeptizismus, Eingeständnis der Tatsache, dass Wahrheit (überhaupt) nicht gewonnen oder erkannt werden könne und die Frage daher müßig sei? Oder ist es die bittere Einsicht dessen, der die Wahrheit gesucht hat, auch und gerade konkret in dem von ihm zu entscheidenden Fall Jesu von Nazareth? Er hat aber die Wahrheit doch nicht gewinnen können, weil zwischen dem Weg zur Einsicht in eine solche Wahrheit und den realen Bedingungen ihrer möglichen Durchsetzung – oder seiner eigenen Einsicht in die von ihm erstrebte Wahrheit – eine Kluft bestand, die er nicht hatte schließen können. Zwischen Wahrheit und Macht hat er für die Macht optiert. Daher bleibt ihm nichts übrig als das Eingeständnis, diese Wahrheit nicht erreicht zu haben. In der Folge überlässt er die Dinge ihrem Lauf und erklärt der Menge, er finde an und bei dem Angeklagten nichts, was Grund für eine Verurteilung sein könnte.

Damit ist die Frage nach der Wahrheit weiter offengelassen; anstatt dass sie beantwortet würde, vollzieht sich das Geschick dieses Menschen auf Veranlassung der Menge, die den Angeklagten unbedingt – ohne selbst die Frage nach der Wahrheit auch nur gestellt, geschweige denn geklärt zu haben – verurteilt wissen will. Und da die Wahrheitsfrage ungeklärt bleibt, warten Verurteilung und Tod auf den Angeklagten. Ohne die Wahrheit gesucht und gefunden zu haben, wird das Urteil gesprochen und vollstreckt. Die Spannung zwischen Wahrheit und Macht wird durch den bloßen Vollzug zugunsten der Macht entschieden.

„Wahrheit“ ist in religiösen Kontexten und also auch im christlichen Glauben unverzichtbar. Der Glaube an einen Gott, der die Unwahrheit verkörperte, oder an die Unwahrheit als solche wäre absurd. Der Verfasser des Johannesevangeliums lässt Jesus in einem der von ihm häufiger gesetzten Ich-bin-Worte sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6). Man stelle sich vor, einer, der sich für Gott hält oder als Gott geglaubt werden soll, erklärte von sich selbst: Ich bin der Irrweg, die Unwahrheit und der Tod – eine unglaubwürdigere Aussage oder Selbstbezeichnung kann man sich nicht denken.

Die Eigenart religiöser Wahrheit im Verhältnis zu allgemeinen Wahrheitsansprüchen und ihren Konflikten.

Der Marburger Theologe Dietrich Korsch hat in einem Beitrag „‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘. Warum der Streit um die Wahrheit unverzichtbar ist“, die Ansicht geäußert, „daß wir an Wahrheit interessiert sind, weil wir sprechen.“[2] In der Auseinandersetzung um die Wahrheit kann und darf es nicht einfach um Wahrheitsbehauptungen gehen, auch nicht in der Religion – solche Behauptungen gefährden ja gerade die Wahrheit; vielmehr muss Wahrheit intellektuell, argumentativ und durch den eigenen Lebensvollzug verantwortet werden. Aber es gebe drei elementare Bedrohungen der Wahrheit: Irrtum, Lüge und Verstellung, und deshalb müsse die Wahrheit diesen Bedrohungen immer erst abgerungen werden. Als Antidot gebe es darum seit alters die Lehren der Weisheit: in den Traditionen des Lebens, in den Reflexionen der Philosophie und in den Lebensäußerungen der Religion.

In dem bereits erinnerten Wort Jesu „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6) ist, aus christlicher Perspektive, verdichtet, was von der Wahrheit zu sagen ist: „Jesus ist der Weg zur Wahrheit – der als Weg nötig ist; und die Wahrheit ist die Grundlage eines gelingenden, freien – also wahren – Lebens. … Die Wahrheit, von der Jesus redet, geht durch seine Person hindurch und ist nicht ohne ihn zu haben. Aber sie gründet in Gott selbst. Gott ist im Glauben der Grund der Wahrheit.“[3] Der christliche Glaube hat Teil an Gott als dem Grund der Wahrheit und ist darum auch selbst wahr. Aber im Unterschied zu anderen Wahrheiten steht die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht neben diesen und müsste sich deshalb im Kampf ihnen gegenüber bewähren oder durchsetzen. Vielmehr eröffnet diese Wahrheit gerade als solche „ein Verhältnis zu allen möglichen Wahrheiten von Weltanschauung, Gesellschaft und individuellem Leben“.[4]

Apostel Paulus schreibt einen Brief (Jan Massys, 1565)
Apostel Paulus schreibt einen Brief (Jan Massys, 1565)

Wahrheit und Wissenschaft

„Wahrheit“ zu gewinnen oder Wege zu suchen, zu ihr vorzudringen, ist auch das Ziel wissenschaftlicher Arbeit. Universitäten und Akademien sind dabei in besonderer Weise diejenigen Orte, die die Gesellschaft dafür installiert und finanziert, dass sie diese Wege gehen – ja, es ist geradezu ihr Amt, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Die Öffentlichkeit kann daher billigerweise, ja, sie muss erwarten, dass gerade diese Institutionen Wege zur Wahrheit suchen und ihre Ergebnisse und Erkenntnisse eben dieser Öffentlichkeit bekannt macht, um gegen Unwahrheit, Unrichtigkeit, Falschheit, Lüge und Macht im Namen der Wahrheit Einspruch zu erheben und der erkannten Wahrheit Geltung zu verschaffen. „Fake news“ und gefälschte Ergebnisse haben in Universität und Akademien, in der Forschung und auch in der Lehre, keinen Platz – noch vor Jahrzehnten hätte man die Fälscher aus diesen Einrichtungen verbannt.

Wie immer methodisch reguliertes Forschen geschieht – der Anspruch auf Wahrheit ist die unverzichtbare Daseinsberechtigung für alle Institutionen der Wissenschaft. Sie verlören eben diese, wenn die in ihr Tätigen, Forschende wie Lehrende, nicht nach Wahrheit strebten, nach Erkenntnis, die über Bekanntes hinausgeht, nach Annäherungen auf dem Weg zu dem, was sie als in Gedanken und im Leben zu bewährende Wahrheit zu gewinnen erstreben. Das geschieht auf vielfältige, in methodisch je nach den Gegenständen der Disziplinen angemessener Weise und in dem Bewusstsein, der „Wahrheit“ allenfalls auf dem Wege einer Annäherung näher zu kommen. „Unser Wissen ist Stückwerk,“ schreibt der Apostel Paulus an die Korinther, „und unser prophetisches Reden ist Stückwerk“, und dabei wird es bleiben müssen, solange Menschen unter den Bedingungen einer gefallenen Welt die Erkenntnis „der Wahrheit“ suchen. „Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören“ (1. Korinther 13, 9-10).

 Aula der Universität Freiburg mit Universitätsdevise: „Die Wahrheit wird euch frei machen“
Aula der Universität Freiburg mit der besagten Universitätsdevise

Über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft zur Wahrheit

Der langjährige Herausgeber der Zeitschrift „Sinn und Form“, Sebastian Kleinschmidt (*1948), hat unlängst in einer ausgesprochen lesens- und bedenkenswerten „Kleine(n) Theologie des Als ob“[5] das Wort Jesu Christi aus dem Johannesevangelium „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6) meditiert: „Dieser so einfache und doch rätselvolle Satz aus dem Johannesevangelium klingt ungewöhnlich für unser Ohr, weil in ihm die Wahrheit zu einer Person, zu einer Gestalt gemacht wird. Aber genau das ist es, worum es im Christentum geht: Wahrheit sagen, Wahrheit leben, Wahrheit tun. Biblisch verstanden ist Wahrheit keine Frage des Erkennens, keine Frage der Richtigkeit oder Falschheit von Aussage, Meinung, Urteil, Argument oder Beweis. Wahrheit im biblischen Sinne bedeutet: sich zeigende Kraft, beständige, verlässliche Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit in Personen und zwischen Personen. Nicht immer sichtbar, nicht immer fühlbar und dennoch etwas, auf das man baut und an das man sich hält, worum man bittet und worum man fürchtet. Der tiefste Seinsgrund dieser Wahrheit ist die Liebe, man sollte sagen, die Gotteswirklichkeit der Liebe.“[6]

In solcher Liebe kann man sich „vom Wahn der absoluten Erkenntnis, vom Allwissenheits- und Verfügungswahn und vom Wahrheitsdogmatismus“[7] frei- und in aller Freiheit auf den Weg nach der Wahrheit machen. Diese aber hat ihren Grund außerhalb menschlicher Verfügung: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger 32und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32f.).  „‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘: Das ist, schon sprachlich, eine Verheißung, die von Gott aus- und in unser Leben eingeht. Christenmenschen sind Menschen, die dieser Verheißung trauen.“[8] Solcher Wahrheit zu folgen, ist ein Ziel, nicht nur für die wissenschaftliche Arbeit, sondern eines, an dem und auf das hin man Arbeit und Leben ausrichten kann.

Eine Allegorie von Wahrheit und Täuschung (Chrispijn van den Broeck, 16. Jahrhundert)
Eine Allegorie von Wahrheit und Täuschung (Chrispijn van den Broeck, 16. Jahrhundert)

Fußnoten

  1.  Der Germanist Gerhard Kaiser (1927-2012), der von 1966 bis 1990 in Freiburg gelehrt hat, hat diesem Wort eine eingehende Studie gewidmet: Gerhard Kaiser, Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universitätsdevise – ein Glaubenswort als Provokation der Wissenschaft, in: Ludwig Wenzler (Hrsg.), Welche Wahrheit braucht der Mensch? Wahrheit des Wissens, des Handelns, des Glaubens. Freiburg i. Br.: Katholische Akademie 2003 (Tagungsberichte der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), S. 47-103, auch online.
  2.   Dietrich Korsch, „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Warum der Streit um die Wahrheit unverzichtbar ist, in: Zeitzeichen 19, 10 (2018), 46-48 und 19, 11 (2018), 42-44), auch online.  
  3.   Korsch (wie Anm.2), online S. 4.
  4.   Korsch (Anm.2), online S. 8.
  5.   Sebastian Kleinschmidt, Kleine Theologie des Als ob, München 2023.  
  6.   Kleinschmidt (Anm. 4), S. 33f.
  7.   Kaiser (Anm. 1), S. 102.
  8.   Korsch (Anm. 2), online S. 9.

Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Johannes Schilling

Nach dem Studium der Musikwissenschaft, Germanistik, Lateinischen Philologie des Mittelalters und Evangelischen Theologie stand am Anfang meiner wissenschaftlichen Tätigkeit die Mitarbeit an der Weimarer Lutherausgabe. Luthers Werk ist bis heute ein organisierendes Zentrum meiner Arbeiten. Diese bewegen sich zeitlich gesehen überwiegend im 16. Jahrhundert, territorial in Mittel- und Norddeutschland. Die Übernahme einer Professur in Kiel hat mich in die Geschichte und Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins, als Prorektor in das Rektorat der Christian-Albrechts-Universität (1999–2002) und in Vorbereitung des Universitätsjubiläums 2015 in das Amt eines Beauftragten für dieses Jubiläum geführt.