Automatisierung und Wahrheit

Automatisierung und Wahrheit sind Begriffe, die uns täglich begegnen. Aber wie können diese beiden so unterschiedlichen Konzepte miteinander in Beziehung gesetzt werden? Kann Automatisierung wahr sein? Oder ist Wahrheitssuche automatisierbar?
Essay von Kerstin Thurow , 23. Juli 2023

Wahrheit nur für Roboter zugänglich: Der ferngesteuerte wissenschaftliche Tauchroboter des "ROV KIEL 6000" ist in Tauchtiefen bis zu 6000 Metern unterwegs.
Wahrheit nur für Roboter zugänglich: Der ferngesteuerte wissenschaftliche Tauchroboter des „ROV KIEL 6000“ ist in Tauchtiefen von bis zu 6000 Metern unterwegs. Dort erkundet er für das Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel die Tiefseewelt.

Automatisierung in unserer Welt

Automatisierung bezeichnet die Einführung von Technologien, um Arbeitsabläufe, Prozesse oder Systeme zu rationalisieren, zu optimieren oder zu vereinfachen, um menschliche Arbeit zu reduzieren oder zu ersetzen. Sie nutzt Maschinen, Roboter, Software oder andere automatisierte Systeme, um gewöhnlich von Menschen durchgeführte Entscheidungen oder Aufgaben auszuführen.

In der Fertigungsindustrie spielen Roboter und automatisierte Maschinen eine zentrale Rolle bei der Durchführung von Produktionsprozessen wie Montage, Schweißen, Lackieren oder Materialhandhabung. Automatisierte Prozesse in der Landwirtschaft können die Effizienz und Produktivität bei Arbeiten wie Pflanzen, Bewässern, Ernten und Melken erhöhen. Auch im Gesundheitswesen werden Automationssysteme eingesetzt – zum Beispiel für präzisere roboterbasierte Chirurgie oder automatisierte Medikamentengaben zur Fehlerreduzierung. Autonome Fahrzeuge wie selbstfahrende Autos oder Drohnen sollen den Transport von Personen und Gütern sicherer und effizienter machen. In der Energiewirtschaft überwachen und steuern automatisierte Systeme Stromnetze, Kraftwerke und erneuerbare Energiesysteme.

Zahlreiche weitere Industriezweige wie Bergbau, Einzelhandel, Telekommunikation, Luft- und Raumfahrt oder der private Konsumbereich werden zunehmend automatisiert.

Wahrheit in unserer Welt

Objektivere Realität: Eine Weltkarte nach der Gall-Peters-Projektion, die eine flächentreue Darstellung der Kontinente anstrebt und als Alternative zur gewohnten, Europa-zentrierten Mercator-Projektion gilt.
Objektivere Realität: Eine Weltkarte nach der Gall-Peters-Projektion, die eine flächentreue Darstellung der Kontinente anstrebt und als Alternative zur gewohnten, Europa-zentrierten Mercator-Projektion gilt.

Der Begriff „Wahrheit“ kann als die Übereinstimmung einer Aussage, eines Sachverhalts oder einer Behauptung mit der Realität oder den tatsächlichen Gegebenheiten verstanden werden. Einer Aussage könnte demnach also Wahrhaftigkeit zugesprochen werden, wenn sie als korrekt, zuverlässig oder den Tatsachen entsprechend eingeordnet wird. In den Naturwissenschaften bedeutet dies die Übereinstimmung mit empirischen Beobachtungen, Experimenten und objektiven Fakten, die durch systematische Beobachtungen und Untersuchungen gewonnen werden. Somit kann Wahrheit in diesem Kontext als eine Annäherung an die objektive Realität betrachtet werden.

Neue Erkenntnisse und Technologien können dazu führen, dass sich unsere Vorstellungen von der Wahrheit verändern und weiterentwickeln. Im Kontext der Ingenieurwissenschaften – zu denen auch die Automatisierung zählt - bezieht sich der Begriff „Wahrheit“ auf die Übereinstimmung von technischen Aussagen, Modellen, Berechnungen oder Entwürfen mit den akzeptierten Prinzipien, Normen, Standards und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ingenieurdisziplin. Die Wahrheit in diesem Kontext bezieht sich auf die Richtigkeit, Zuverlässigkeit und Funktionalität von technischen Lösungen.

Ist Automatisierung wahr?

Wahrheit und Automatisierung haben auf den ersten Blick keine offensichtliche Verbindung. Der Begriff „Wahrheit“ wird normalerweise auf Aussagen, Sachverhalte oder Behauptungen angewendet und bezieht sich darauf, ob sie mit der Realität übereinstimmen. Da „Automatisierung“ ein Konzept oder ein Prozess ist, kann sie weder wahr noch falsch sein. Welchen Zusammenhang gibt es aber zwischen Automatisierung und Wahrheit?

Versucht man, einen Zusammenhang zwischen Automatisierung und Wahrheit herzustellen, gelangt man zu einer wichtigen Teildisziplin der Automatisierung – der Messtechnik. Messungen dienen dazu, quantitative oder qualitative Eigenschaften von Objekten oder Phänomenen zu erfassen und zu quantifizieren. Die Wahrheit liegt in diesem Kontext in der Übereinstimmung zwischen den gemessenen Werten und den tatsächlichen Werten oder Eigenschaften des zu messenden Objekts oder Phänomens. Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Messtechnik liegt also in der Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Messungen.

Die Messtechnik spielt eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Wahrheit in quantitativen oder qualitativen Aussagen. Sie ermöglicht die objektive Erfassung von Daten und Eigenschaften von Objekten oder Phänomenen und bietet standardisierte Methoden zum Sammeln quantifizierbarer Informationen. Durch die objektive Erfassung von Daten schafft die Messtechnik damit eine Grundlage, um die Wahrheit zu bestimmen.

Eine genaue Messung zielt darauf ab, den tatsächlichen Wert oder die Eigenschaft des zu messenden Objekts oder Phänomens so genau wie möglich zu erfassen. Die Messgenauigkeit ist entscheidend, um genaue und verlässliche Informationen zu erhalten. Wesentlicher Bestandteil der Messtechnik ist der Vergleich von Messwerten mit Referenzwerten oder Standards, um die Übereinstimmung mit bereits etablierten oder bekannten Wahrheiten zu überprüfen.

Durch Validierung und Verifikation wird überprüft, ob eine Messung die tatsächliche Wahrheit widerspiegelt. Dies kann durch den Vergleich mit unabhängigen Messmethoden, erneute Messungen oder den Einsatz von Standardproben oder Referenzmaterialien erfolgen. Durch diesen Prozess werden die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Messung überprüft und die Wahrheit der Ergebnisse bestätigt. Die Messtechnik bietet somit eine robuste Methode zur Bestimmung der Wahrheit und ermöglicht eine objektive Bewertung von Daten und Aussagen. Die Messtechnik stellt also Werkzeuge und Methoden bereit, um Daten und Informationen zu erfassen, zu quantifizieren und zu überprüfen. Durch die sorgfältige Anwendung dieser Techniken können genaue und zuverlässige Messungen durchgeführt werden, die als Grundlage für die Bestimmung der Wahrheit dienen können.

Um die Wahrheit einer Messung sicherzustellen, ist eine korrekte Kalibrierung von Messgeräten entscheidend. Die Kalibrierung beinhaltet den Vergleich von Messgeräten mit Standardreferenzwerten, um sicherzustellen, dass die Messungen den tatsächlichen Werten entsprechen. Eine regelmäßige Kalibrierung ist notwendig, um die Genauigkeit der Messungen im Laufe der Zeit aufrechtzuerhalten. Messungen sollten eine hohe Präzision aufweisen, was bedeutet, dass das Messgerät wiederholbare und konsistente Ergebnisse liefern kann. Eine hohe Präzision garantiert jedoch nicht die Wahrheit der Messungen, da sie unabhängig von der tatsächlichen Größe oder Eigenschaft des zu messenden Objekts sein kann. Eine Validierung der Messergebnisse durch den Vergleich mit anderen unabhängigen Messmethoden oder Referenzwerten ist erforderlich, um die Genauigkeit und Zuverlässigkeit zu bestätigen. Jede Messung ist mit einer gewissen Ungenauigkeit behaftet, der Messunsicherheit, die verschiedene Faktoren wie die Präzision des Messgeräts, die Kalibrierung und Umgebungsbedingungen berücksichtigt. Die Messunsicherheit hilft dabei, den Bereich anzugeben, innerhalb dessen sich der wahre Wert mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit befindet.

Robotik und Wahrheit

Eine Maschine, die fast immer Recht hat: Die Cäsium-Uhr CS2 der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig liefert seit 1991 die Sekunde der gesetzlichen Zeit in Deutschland. In 3 Millionen Jahren weicht sie gerade einmal um ca. 1 Sekunde ab.
Eine Maschine, die fast immer Recht hat: Die Cäsium-Uhr CS2 der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig liefert seit 1991 die Sekunde der gesetzlichen Zeit in Deutschland. In drei Millionen Jahren weicht sie gerade einmal um ca. eine Sekunde ab.

Die Robotik ist wohl der bekannteste Bereich der Automatisierung. Sie bezieht sich auf den Bereich der Ingenieurwissenschaft, der sich mit der Konstruktion, Entwicklung, Programmierung und Anwendung von Robotern befasst. Ein Roboter ist dabei definiert als eine mechanische oder virtuelle Einheit, die in der Lage ist, bestimmte Aufgaben oder Aktionen auszuführen; entweder autonom oder unter der Kontrolle eines menschlichen Bedieners. Roboter haben keine inhärente Vorstellung von Wahrheit, da sie vom Menschen geschaffen und programmiert werden, um bestimmte Aufgaben auszuführen. Daher liegt die Verantwortung dafür, dass Roboter wahrheitsgemäße Informationen liefern oder Entscheidungen treffen, bei den Menschen, die sie entwickeln, programmieren und einsetzen. Die Beziehung zwischen Wahrheit und Robotern kann in verschiedenen Kontexten betrachtet werden. Roboter können mit Sensoren und Kameras ausgestattet sein, um Informationen aus ihrer Umgebung zu erfassen, was in Anwendungen wie Umweltüberwachung, Datenerfassung oder Forschung zur Wahrheit beitragen kann. Roboter mit Algorithmen und Künstlicher Intelligenz können Daten analysieren und Muster erkennen, um zur Bestimmung der Wahrheit beizutragen. Auch als Kommunikationsmittel können Roboter eingesetzt werden – zum Beispiel als Sprachassistenten oder Service-Roboter. Die Wahrheit hier liegt darin, dass die vermittelten Informationen den tatsächlichen Fakten oder dem beabsichtigten Zweck entsprechen müssen.

Roboter werden zur Automatisierung von Entscheidungen eingesetzt. Roboterentscheidungen basieren auf eingespeisten Daten und Informationen. Die Zuverlässigkeit dieser Daten ist entscheidend für fundierte Entscheidungen. Wenn falsche (unwahre) oder unvollständige Informationen verwendet werden, kann dies zu fehlerhaften Entscheidungen führen. In der Robotik und Künstlichen Intelligenz (KI) gibt es zunehmend Diskussionen über die ethischen Implikationen von Robotern. Sollten Roboter die Fähigkeit haben, die Wahrheit zu sagen oder zu erkennen? Roboterprogramme könnten zum Beispiel darauf programmiert sein, stets wahrheitsgemäße Aussagen zu machen oder sich zu weigern, Informationen zu geben, wenn sie keine Gewissheit haben. Diese Diskussionen sind eng mit Fragen der Verantwortung, Transparenz und dem Vertrauen verbunden, das Menschen in robotische Systeme setzen.

Automatisierung und Wahrheitsfindung

Wenn Roboter und Automatisierung nicht Wahrheit manifestieren können, können sie doch der Wahrheitssuche dienen, indem sie diese unterstützen. Automatisierte Systeme können große Mengen an Daten schnell analysieren und verarbeiten und so dazu beitragen, Muster, Zusammenhänge oder Anomalien zu identifizieren, die bei der Suche nach der Wahrheit von Bedeutung sind. Durch die Automatisierung der Datenanalyse können Informationen schneller und effizienter extrahiert werden. Die Wahrheitsfindung kann erheblich durch menschliche Fehler beeinträchtigt werden. Durch die Automatisierung können wiederkehrende Aufgaben präzise und konsistent ohne menschliche Fehler oder Voreingenommenheit ausgeführt werden. Dies kann die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Ergebnisse verbessern. Automatisierte Systeme können aber auch kontinuierlich Prozesse und Zustände überwachen und bei Abweichungen oder Anomalien Fehlermeldungen ausgeben. Dies ermöglicht eine frühzeitige Erkennung von potenziellen Problemen und unterstützt die Wahrheitsfindung, indem die Aufmerksamkeit auf kritische Aspekte gelenkt wird. Eine bessere Wahrheitssuche wird möglich, wenn eine große Vergleichbarkeit von Daten und Ergebnissen über verschiedene Zeiträume, Standorte oder Bedingungen hinweg besteht. Automatisierung kann dazu beitragen, konsistente Prozesse und Standards zu etablieren.

Die Grenzen der Automatisierung bei der Wahrheitssuche

Die Wahrheit ist ein komplexes Konzept, das aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Automatisierung kann helfen, Informationen effizienter zu verarbeiten und zu analysieren, aber garantiert nicht per se die Wahrheit. Die Richtigkeit von Ergebnissen hängt von der Qualität der verwendeten Daten und Algorithmen ab. Automatisierte Systeme können fehleranfällig sein und Ungenauigkeiten aufweisen. Eine sorgfältige Validierung und fortlaufende Überwachung sind daher von entscheidender Bedeutung, um potenzielle Fehlerquellen zu minimieren. Es ist wichtig, dass die Automatisierung in Verbindung mit menschlicher Überprüfung und kritischem Denken eingesetzt wird, um die Wahrheitsfindung zu optimieren. Schließlich liegt es am Menschen, die Informationen, die durch Automatisierung bereitgestellt werden, zu interpretieren und zu bewerten, um die Wahrheit zu bestimmen.

Prof. Dr.-Ing. habil. Prof. E. h. Kerstin Thurow

Nach der Promotion in Metallorganischer Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat Kerstin Thurow ihre Ausbildung im Bereich der Ingenieurwissenschaften fortgesetzt. Die interdisziplinäre Verbindung von Messtechnik und Naturwissenschaft war Thema ihrer Habilitation und Grundlage der weiteren Forschungsfokussierung. Das Center for Life Science Automation (celisca), dessen Leitung sie mit seiner Gründung 2003 übernommen hat, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem weltweit führenden Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Entwicklung und Ausbildung an der Schnittstelle zwischen Ingenieur- und Naturwissenschaften sowie Medizin entwickelt.