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Vielfalt als Produktivkraft und Krisensymptom von Wissenschaft

Wissenschaft lebt von Vielfalt, doch ihre Vielstimmigkeit verunsichert. Der Ruf nach eindeutigen Wahrheiten wird lauter. Schon 1929 stellte Ludwik Fleck der Sehnsucht nach totaler Einheitswissenschaft die Idee kollektiver, wandelbarer Erkenntnis entgegen.
Essay von Cornelius Borck, 15. September 2025

Frei nach Fleck: Würde man eine einheitliche Wissenschaft erzwingen wollen, müsste man selbst das Flimmern des Staubs in der Luft zum Schweigen bringen. Die Vielfalt wäre niederzuringen, um eine fingierte Einheit zu konstruieren.
Frei nach Fleck: Würde man eine einheitliche Wissenschaft erzwingen wollen, müsste man selbst das Flimmern des Staubs in der Luft zum Schweigen bringen. Die Vielfalt wäre niederzuringen, um eine fingierte Einheit zu konstruieren.

Wissenschaft lässt sich ohne Vielfalt nicht denken.[1] Das legt das Antonym „Einfalt“ nahe, dessen Bedeutungsfeld weit abseits dessen liegt, wofür Wissenschaft steht. Wissenschaft braucht die Vielfalt der Positionen und kritische Stimmen, um zu funktionieren.

Der Widerstreit der Argumente im Wettbewerb geschickt angestellter Experimente und Untersuchungen ist der Motor des wissenschaftlichen Fortschritts, sofern nach überprüfbaren Regeln und entlang anerkannter Methoden vorgegangen wird. In der soeben wieder entschiedenen Exzellenzstrategie sind Vielfalt und Wettbewerb gleich auf doppelte Weise in die Wissenschaftsförderung eingebaut: Die sogenannten Exzellenzcluster sind intern von Vielfalt gekennzeichnet, auch wenn sie sich jeweils einem spezifischen Thema widmen, weil hier jeweils verschiedene, fachlich spezialisierte Arbeitsgruppen sich zu großen, interdisziplinären Teams zusammentun. Außerdem werden nicht alle Anträge finanziert, sondern im Wettbewerb der Vorhaben wählt ein international vielfältig zusammengesetztes Expertengremium die aussichtsreichsten Projekte aus, um die wissenschaftliche Leistungskraft und Produktivität der Forschung in der Bundesrepublik zu erhöhen. Vielfalt ist schlechthin ein Kernmerkmal und Bedingung gegenwärtiger Forschung.

Zuviel an Vielfalt?

Die Frage kann nur lauten, ob es ein richtiges Maß an Vielfalt gibt, ob Wissenschaft zu vielfältig geraten kann und ob jedwede Formen von Vielfalt in gleicher Weise förderlich sind: Die amerikanische Tabakindustrie hat z.B. lange Zeit sehr erfolgreich vermeintliche wissenschaftliche Zweifel an der Schädlichkeit des Rauchens lanciert, um weiterhin für ihre Produkte werben zu dürfen, vom Verkauf zu profitieren und Klagen auf Schadensersatz abzuwehren. Der Klimawandel ist ein weiteres Beispiel dafür, wie gezielt eine vermeintliche Vielfalt wissenschaftlicher Stimmen mobilisiert wurde, um dringend notwendiges überstaatliches Handeln zu torpedieren.[2] Und wenn in der Coronakrise oder bei staatlichen Impfkampagnen Wissenschaft nicht mit einheitlicher Stimme spricht, führt das dann nicht zu Wehrlosigkeit gegenüber Querdenkern und Fake Science? Während die Konkurrenz wissenschaftlicher Positionen ein Motor für Innovation ist, scheint ein Zuviel an Vielfalt und Widerstreit in der Wissenschaft eher Orientierungslosigkeit anzuzeigen. Gleichwohl darf das nicht dazu führen, aus Sorge um die gesellschaftliche Stellung von Wissenschaft, ihr Anerkennung und Einheitlichkeit zu verordnen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.[3] Gesellschaftliche Aufregung über vermeintlich überzogene Forderungen aus der Genderforschung oder die sogenannte Replikationskrise, dass Studienergebnisse einer Überprüfung nicht standhielten, darf nicht dazu führen, der Wissenschaft starre Vorgaben zu machen.

Hinter dem hier nur ganz knapp umrissenen politischen und historischen Kontext der Frage nach Vielfalt in der Wissenschaft steht auch ein wissenschaftsphilosophisches Problem: Vielfalt mag ein Funktionsprinzip von Wissenschaft sein, ihr Arbeitsmodus. Aber der Streit wissenschaftlicher Aussagen gilt der besseren Einsicht, damit am Ende nicht möglichst viele bunte Antworten stehen, sondern die Wahrheit. Wahrheit und Wirklichkeit gelten für gemeinhin als Singularetantum, prima facie scheint da kein Spielraum für Vielfalt zu bleiben.[4] Diese Zuspitzung fußt auf einer zu einfachen Vorstellung von Wirklichkeit, wie ein Beispiel aus der Medizin zeigen kann: Dank des historisch beispiellosen Fortschritts der Medizin lassen sich heutzutage viele Krankheiten auf verschiedene Weisen gut behandeln. Je nach Situation oder Lebensgewohnheiten kann der eine oder andere Weg beschritten werden. Erst wenn für eine Krankheit ein Dutzend verschiedene Operationsverfahren diskutiert werden, muss das den Verdacht wecken, dass keine dieser Vorgehensweisen optimal ist, denn sonst hätte sich diese sicher durchgesetzt. Es muss offener gefragt werden: Welchen Gewinn bringt wissenschaftliche Vielfalt, gibt es zu viel Vielfalt in den Wissenschaften? Provoziert die Vielfalt immer neuer Spezialisierungsbereiche von Wissenschaft nicht eher Skepsis und mahnt das exponentielle Wachstum wissenschaftlicher Publikationen nicht zur Konzentration auf Wesentliches?

Produktive Widersprüchlichkeit

An dieser Stelle ist eine kleine Reflexion über den Begriff „Vielfalt“ in seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen angezeigt. Sie lassen sich nur schlecht entlang einer Skala anordnen, sondern spannen eher ein Bedeutungsfeld zweier sich kreuzender Achsen auf: „Vielfalt“ kann eine „Summe“ bzw. „Gesamtheit“ meinen, deren Gegenpol dann „Vielfalt“ im Sinne von „Heterogenität“ bis hin zur „Widersprüchlichkeit“ wäre, und quer dazu liegt eine Bedeutungsachse, die von „Vielfalt“ im Sinne einer „Bandbreite“ oder „Palette“ bis zu Heterogenität im Sinne von „Pluralität“ und „Diversität“ reicht. Das damit aufgespannte Bedeutungsfeld gibt einen Hinweis auf die damit verbundenen erkenntnistheoretischen bzw. wissenschaftsphilosophischen Probleme: Erst die Vielfalt der verschiedenen Wissenschaften erschließt Wirklichkeit in ihren verschiedenen Aspekten und Hinsichten jeweils entlang der eingesetzten Methoden, Verfahren und Theorien – aber mit der Folge, dass dann nicht mehr entschieden werden kann, ob hier verschiedene Einblicke in dieselbe Wirklichkeit vermittelt werden oder vielmehr keine einheitliche Wirklichkeit mehr angenommen werden kann. Der Widerstreit wissenschaftlicher Positionen wird dort produktiv, wo man sich über Sachfragen einig werden kann, umgekehrt verbleibt er im bloßen „Schulen-Streit“, wenn jeweils auf den eigenen Ansätzen und Methoden beharrt wird. Aus der Vielfalt der verschiedenen Wissenschaften, Fragestellungen, Theorien und Methoden resultiert erstens die fundamentale Frage, ob sich hinter dieser Vielfalt von Wissenschaft auch eine Mannigfaltigkeit auf Seiten der erforschten Sachen selbst verbirgt – ontologische Vielfalt –, und zweitens die epistemologische Frage, ob aus der Vielfalt der Disziplinen, Methoden und Theorien nicht nur eine Vielstimmigkeit wissenschaftlicher Perspektiven, sondern eine Widersprüchlichkeit der Ergebnisse resultiert mit so grundverschiedenen Verständnisweisen der jeweiligen Sachen, dass sich schließlich nicht mehr sagen lässt, wie ein Gegenstand „wirklich“ sei.[5]

Was folgt aus dieser Analyse der ontologischen und epistemologischen Vielfalt der Wissenschaften hinsichtlich der Leitvorstellung einer Einheit der Wirklichkeit, diesseits oder jenseits der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften? Muss man zu dem Schluss kommen, dass sich gar nicht mehr von einer Wirklichkeit reden lässt, weil die Wissenschaften sie auf so verschiedene Weise erforschen und so transformierend auf sie einwirken, dass wir längst in einer Vielfalt von Wirklichkeiten leben? Das mag ungewohnt klingen, ist aber der Titel einer wunderbaren Aufsatzsammlung des großen in Lübeck geborenen Philosophen Hans Blumenberg.[6] Blumenberg verweist in diesem kleinen Bändchen darauf, dass nicht nur die Perspektiven unserer diversen Wissenschaften radikal auseinanderklaffen und sich vom Alltagsverständnis einer Wirklichkeit entfernen, sondern dass gerade auch Kultur, Kunst und Gesellschaft je unterschiedliche Wirklichkeiten hervorbringen. Wesentliches Merkmal für die künstlichen Welten der Kunst und der unterschiedlichen Formen von Vergesellschaftung ist aber, dass sie von der Mehrheit der Menschen in ihren Differenzen und Divergenzen meist problemlos auseinandergehalten, navigiert, diskutiert, kritisiert und so als „Wirklichkeiten“ bewältigt werden. Entsprechend gehört die Anerkennung von Vielfalt zum Grundbestand demokratischer Werte, während Monokultur und Einfalt schlicht als unvereinbar mit der modernen Gesellschaft gelten.

Kurt Riezler - Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs Frankfurt am Main
Kurt Riezler - Mit freundlicher Genehmigung des Universitätsarchivs Frankfurt am Main

Krise der Wirklichkeit?

Für den Historiker der Wissenschaften und ihrer Entwicklung ist besonders interessant, dass die Frage nach Einheit und Vielfalt der Wirklichkeit gar nicht so neu ist, wie sie auf den ersten Blick vielleicht scheint. Vielmehr wurde die Vielfalt der Wissenschaften und der Widerstreit zwischen ihren Erkenntnissen vor hundert Jahren in Deutschland als „Krise der Wirklichkeit“, nämlich als Auseinanderbrechen eines einheitlichen wissenschaftlichen Weltbilds diskutiert. Relativitätstheorie und Quantenphysik hatten das Alltagsverständnis von Wirklichkeit über den Haufen geworfen und gründlich mit der Vorstellung aufgeräumt, die Welt lasse sich mit den vertrauten Konzepten von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung bis hinunter auf die Ebene der kleinsten Teilchen und letzten Ursachen erforschen. Dagegen hatte die neue Physik nicht nur unvorstellbare Theorien und Modelle gestellt, sondern auch noch auf der subatomaren Ebene grundlegender Zusammenhänge mechanische Determinierungen in statistische Zusammenhänge aufgelöst.

Die Debatte über diese Krise der Wirklichkeit fand in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften statt. Auf einen Artikel, in dem der Physiker Niels Bohr die neue Physik erläutert hatte,[7] antwortete Kurt Riezler, als Philosoph und Kurator der gerade neu gegründeten Frankfurter Universität eine der intellektuellen Führungspersönlichkeiten der Weimarer Republik, mit einem Beitrag, der Die Krise der „Wirklichkeit“ überschrieben war und als Aufmacher erschien.[8] In diesem Artikel stellte Riezler einerseits die Frage, was es genau bedeute, wenn die moderne Forschung der Physik das geläufige Wirklichkeitsverständnis radikal verabschiede, andererseits diagnostizierte er als Krise der Wirklichkeit, dass nicht nur die Physik sich radikalisierte, sondern parallel auch ein Ausdifferenzierungsprozess vieler weiterer Wissenschaften stattgefunden habe. Das habe zu einem Auseinanderdriften der Wissenschaften geführt, in deren Folge sich ihre jeweiligen Erkenntnisse und Theorien nicht mehr auf einen Nenner bringen ließen, sondern sich als unvereinbar, wenn nicht gar widersprüchlich darstellten. Die Krise der Wirklichkeit bestand für Riezler darin, dass kaum noch Aussicht darauf bestünde, die eine Welt, in der doch alle Menschen lebten, durch die Wissenschaften am Ende auch als eine Wirklichkeit kohärent verstehen zu können.

Eine aktuell erschienene Biographie Ludwig Flecks, Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Verlags: Ciesielska, M., & Wacławik-Orpik, A. (Hrsg.). (2025). Fleck: ocalony przez naukę (Wydanie pierwsze.). Warszawa: Wydawnictwo Agora.
Eine aktuell erschienene Biographie Ludwig Flecks, Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Verlags: Ciesielska, M., und Wacławik, A. (Hrsg.). (2025). Fleck: ocalony przez naukę (Wydanie pierwsze.). Warszawa: Wydawnictwo Agora.

Ludwik Flecks Intervention

Die Weimarer Zeit steht geradezu paradigmatisch für die Ambivalenzen von Aufbruch und Krise. In einer umfassenderen wissenschaftshistorischen Untersuchung müsste man die Frage umdrehen, um in den politisch-kulturellen Kontexten mögliche Ressourcen für neue Ideen und innovative wissenschaftliche Vorgehensweisen freizulegen.[9] Denn die „Krise der Wirklichkeit“ war ja zunächst und vor allem eine gesellschaftlich heftig verhandelte Frage, von der politischen Radikalisierung über die weltweite Wirtschaftskrise bis zu den künstlerischen Avantgarden der damaligen Zeit. Als das Kaiserreich zu Ende ging, machte Deutschland stolpernde Schritte in Richtung Demokratie, während die Dadaisten Kunst zu einer politischen Waffe schmieden wollten. Der selbsternannte „Dadasoph“ Raoul Hausmann erklärte z.B. die Fotomontage zu einer bewusst widersprüchlichen und darin zeitdiagnostischen Kunstform:

„Die Dadaisten waren die ersten, die das Material der Fotografie benutzten, um aus Strukturteilen besonderer, einander oftmals entgegengesetzter dinglicher und räumlicher Art eine neue Einheit zu schaffen, eine Einheit, die dem Chaos der Kriegs- und Revolutionszeit ein optisch und gedanklich neues Spiegelbild entriss.“[10]

Auf solche kulturellen Kontexte und Wechselwirkungen hinzuweisen, erscheint mir deswegen wichtig, weil sie auch für jene Stimme entscheidend waren, die hier genauer vorgestellt werden soll, da sie eine bemerkenswert innovative Perspektive auf Wissenschaft und Forschung eröffnete: Ludwik Fleck, der sich erstmals in der von Riezler entfachten Debatte um eine „Krise der Wirklichkeit“ in Deutschland zu Wort meldete.

Offenbar hielt die Redaktion seinen Beitrag für so wertvoll, dass sie den damals in Deutschland noch unbekannten polnischen Mediziner und Wissenschaftsphilosoph in der nächsten Ausgabe zu Wort kommen ließ:

„[J]ede Erkenntnistheorie [muss] mit Sozialem und weiterhin mit Kulturhistorischem in Beziehung gebracht werden, insofern sie nicht in schweren Widerspruch mit der Geschichte der Erkenntnis und der alltäglichen Erfahrung des Lehrenden und Lernenden geraten will.“

Hier formulierte Fleck zentrale Positionen einer sozialen und historischen Epistemologie, die er kurz darauf zu seiner Wissenschaftsphilosophie ausarbeiten sollte. Denn seiner Meinung nach konnten das Erkennen und die Erkenntnistheorie nicht rein logisch im Denken bestimmt werden:

„Wo und wann wir immer anfangen, überall sind wir mittendrin und nie bei dem Beginn des Erkennens. Ich weiß also nicht, wie man überhaupt die Erkenntnistheorie aus Empfindungen als Elementen aufbauen könnte.“[11]

Natürlich kann man sich abstrakt der logischen Tragfähigkeit bestimmter Argumente vergewissern, aber Denken beginnt nicht mit einer Tabula rasa. Deshalb wendet Fleck Erkenntnistheorie von einem abstrakten in ein konkretes Forschungsprogramm, was Wissenschaft auszeichnet und wie Forschung in modernen Gesellschaften funktioniert, in denen Wissenschaft kollektiv organisiert ist, mit Apparaten operiert und verschiedenste Techniken einsetzt.

Weil Menschen immer in hochkomplexe Erkenntnisweisen und Wirklichkeitserforschungsprozesse hinein sozialisiert sind, kann Wissenschaft nicht nochmals von vorn ganz am Anfang einsetzen, sondern hat immer in Wirklichkeiten begonnen:

„Jedes denkende Individuum hat also als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der er und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit. [...] Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit. [...] Jedes Wissens hat einen eigenen Gedankenstil mit seiner spezifischen Tradition und Erziehung. In beinahe unendlichem Reichtum des Möglichen wählt jedes Wissen andere Fragen, verbindet sie nach anderen Regeln und zu anderen Zwecken.“[12]

Ausdrücklich spricht Fleck hier nicht nur von „Wirklichkeiten“ im Plural, sondern vermerkt en passant auch, dass sie widersprüchlich sein können.[13] Für Fleck kennzeichnete die Gegenwart keine „Krise der Wirklichkeit“, sondern eine enorme Aufbruchsstimmung, in der neue Gedankengebilde, Denkmöglichkeiten, Theorien entwickelt und erprobt wurden – inklusive seiner eigenen.

Einige Hinweise zu seiner Person helfen, seinen ungewöhnlichen Standpunkt zu kontextualisieren: Ludwik Fleck wurde 1896 in Lemberg in jenem Teil der K-u-K Monarchie geboren, der heute der Westen der Ukraine ist. Dort absolvierte er das Gymnasium und studierte anschließend Medizin, unterbrochen vom Militärdienst im Ersten Weltkrieg. Weil er sich für Infektionsforschung interessierte, ging er ins Labor von Rudolf Weigl und wechselte mit ihm 1921 zurück an die Universität, die jetzt die Universität von Lwów war, denn Lemberg gehörte nun zum wiedererstandenen Polen. Um rasch aufzuholen, investierte dieser neue Staat in Industrialisierung und Stadtplanung, in Wissenschaft und Forschung bis zur Förderung einer „Wissenschaftswissenschaft“, die so manches der heutigen praxisorientierten Wissenschaftsphilosophie vordachte. In diesem Kontext eines gesellschaftlichen und intellektuellen Aufbruchs kam Fleck dazu über Wissenschaft nachzudenken, und er brachte seine Erfahrungen mit einem Wissenschaftszweig ein, der zwar besonders eng mit der Lebenswelt verknüpft ist, aber von der Wissenschaftsphilosophie damals wie noch bis vor kurzem nicht als modellhaft anerkannt, sondern als bloße Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse angesehen wurde: die Medizin.

Fleck wusste aus erster Hand, dass wissenschaftliche Streitfragen in der Medizin nicht mittels eines Experimentum crucis entschieden wurden, sondern die Debatten sich meist auf verschiedene Denkrichtungen aufteilten, die ihre Ergebnisse jeweils im Lichte ihrer Schule interpretierten und mit dazu passenden Experimenten verteidigten.[14] Denn schon damals wurden in der Forschung komplizierte Experimente auf dem Boden bestimmter Hypothesen durchgeführt, deren Ergebnisse vor dem Hintergrund einer jeweils vertretenen Theorie interpretiert werden mussten. Das galt in besonderer Weise für den Bereich der Mikrobiologie, in dem Fleck ab 1923 ein eigenes Labor leitete. Dort hatte die Forschung eine Reihe technisch-praktischer Testmöglichkeiten für die serologische Diagnostik entwickelt, während gleichzeitig die zellbiologischen Grundlagen immunologischer Vorgänge noch unbekannt oder mindestens umstritten waren. Im Licht dieser Beobachtungen ließ sich Fortschritt nicht mehr als „Entdeckung“ von Tatsachen beschreiben, sondern wissenschaftliche Entwicklungen vollzogen sich vielmehr in Folge komplexer, genau regulierter sozialer Interaktionen.

Damit erhob Fleck Einspruch gegen die zeitgenössische und im 20. Jahrhundert dominante Wissenschaftstheorie, denn für Fleck konnte nur eine Wissenschaftsphilosophie, die das Experimentieren als naturwissenschaftliche Praxis und Forschung als sozialen Prozess begreift, bei einer zeitgemäßen Erkenntnistheorie ankommen. Auf dem Boden dieser ebenso empirischen wie kritischen Beschreibung wissenschaftlichen Forschens formulierte Fleck die Haupteinsicht seiner Wissenschaftsphilosophie als Titelthese seines 1935 publizierten Hauptwerks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv: Tatsachen verdanken sich ihrer Entwicklungsgeschichte. Selbstverständlich stellt Wissenschaft Tatsachen fest, aber in der modernen Forschung handelt es sich weniger um Entdeckungen einer unberührten Natur, als um aktive Arbeitszusammenhänge, in denen bestimmte Phänomene überhaupt erst hervorgebracht und untersuchbar werden. Das ist seit der wissenschaftlichen Revolution in der Frühen Neuzeit das Merkmal naturwissenschaftlicher Forschung, ihr experimenteller Zugriff auf Natur, um ihre Geheimnisse freizulegen. Schon Francis Bacon hat von „Tatsachen“ gesprochen und damit diesen Begriff in die Wissenschaftssprache eingeführt.[15] Tatsachen sind in spezifischer Weise durch die forschende Praxis geformt, damit sind sie das, was die deutsche Sprache von ihnen sagt und was auch für die Wissenschaftssprachen Latein und Englisch gilt: Sie sind Tat-Sachen – fact, factum, abgeleitet von facere, machen, tun.[16] Tatsachen sind das Ergebnis bestimmter, methodisch angeleiteter und streng nach Regeln unternommener, gut dokumentierter Handlungen.

Die wissenschaftliche Praxis und das technisch Mögliche formen und lenken Experimente, deren Ergebnisse als Tatsachen gelten können, sobald sie aufgrund der vorgebrachten Befunde und Argumente von der Fachgemeinschaft, dem „Denkkollektiv“, anerkannt werden. Dabei sind Denkkollektive keineswegs auf Forschungsgemeinschaften beschränkt. Beim Lernen in der Schule werden spezifische Formen von Wissen angeeignet, die dann im Studium als ein bestimmtes Theorie-Korpus vermittelt werden, das anweist, in welcher Form Wissenschaft und Forschung regelgerecht praktiziert werden. Dazu gehören z.B. auch die verwendeten Instrumente, die ihrerseits materialisierte Theorien sind. Diese gesellschaftliche und gemeinschaftliche Prägung, das Denkkollektiv, das selbst noch einen allein arbeitenden Wissenschaftler einbindet, lenkt das Forschen in eine bestimmte Richtung entlang einem spezifischen „Denkstil“. Ludwik Fleck entlehnt diesen Begriff der Kunstgeschichte, wo Stile Familienähnlichkeiten auf den Punkt bringen, die Werke einer bestimmten Epoche oder Region über die Individualität der Künstlerinnen und Künstler hinweg zu fassbaren Gruppen eint.

Forschungsgemeinschaft im KZ

Diese Grundumkehrung der Wissenschaftstheorie ins Empirische hat Fleck zur Gründungsfigur der modernen Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichte werden lassen – was er nicht mehr miterleben sollte, weil sein Buch, das er auf deutsch in Polen geschrieben und 1935 in der Schweiz veröffentlicht hatte, zunächst in Vergessenheit geriet und erst nach Flecks Tod 1961 rezipiert wurde.[17] Fleck entging selbst nur knapp der Ermordung, weil er aufgrund seiner besonderen medizinischen Expertise auf dem Gebiet des Fleckfiebers[18] den Holocaust überleben konnte. Im Lemberger Ghetto, in das er gleich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen gesperrt wurde, begann er mit Versuchen zur Herstellung eines Impfstoffs, um die Ghetto-Bevölkerung zu schützen. Im Februar 1943 wurde Fleck nach Auschwitz deportiert und erkrankte selbst an Fleckfieber. Aufgrund seiner Expertise wurden er, seine Frau und sein Sohn zunächst für das dortige Labor rekrutiert, und von dort ins KZ Buchenwald verschleppt, wo unter der Aufsicht der SS ein Labor Impfstoff für die Wehrmacht produzieren sollte und dringend Fachkräfte benötigt wurden. Als Ludwik Fleck 1944 nach Buchenwald kam, bemerkte er, dass dieses Labor aufgrund mangelnder Fachexpertise nicht die richtigen Erreger kultivierte und wirkungsloses Serum produzierte. Aber um die Mitarbeiter nicht zu gefährden, ließ er die Produktion weiterlaufen und startete heimlich eine zweite, wirksame Linie für die eigene Versorgung.[19] Fleck überlebte das Konzentrationslager, arbeite anschließend in verschiedenen Funktionen im polnischen Gesundheitswesen und emigrierte 1957 zu seinem Sohn nach Israel, wo er 1961 starb.

Entscheidend für die Diskussion hier ist, dass Fleck ausgerechnet seine Begegnung mit der Forschungsgemeinschaft im KZ, die sich abgeschottet von der Welt auf eigene Faust an die Arbeit gemacht und notgedrungen in ihrer eigenen Wirklichkeit eingerichtet hatte, in einem seiner ersten wissenschaftsphilosophischen Aufsätze der Nachkriegszeit als Beispiel wählte, mit dem er der polnischen Fachöffentlichkeit seine soziale Erkenntnistheorie und historische Epistemologie erläuterte. Um seine Leser davon zu überzeugen, dass Wissenschaft nur durch Konkurrenz von innen und Korrektur von außen seine Denkrichtung wechseln kann, kleidete Fleck dieses Extrembeispiel rhetorisch in eine Neuauflage des wohl berühmtesten Dialogs der Wissenschaftsgeschichte, Galileis Verteidigung seines neuen Weltbilds.

Galileo Galilei (1636)
Galileo Galilei (1636)

Totale Einheitswissenschaft

1935 hatte Fleck sein Buch als Reaktion auf die Überlegungen des sogenannten Wiener Kreises geschrieben, deren Mitglieder das Weltwissen der verschiedensten Wissenschaftszweige durch logische Analyse und kritische Prüfung zu einer einheitlichen Wirklichkeitsgesamtwissenschaft zusammenfügen wollten und dazu 1933 die Schriftenreihe Einheitswissenschaft ins Leben gerufen hatten. Das war für Fleck der falsche Weg, nach dessen Überzeugung Wissenschaft Meinungsvielfalt und Widerspruchsgeist brauche, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. 1946 ging Fleck noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn am eigenen Leib hatte er gerade erfahren, was es heißt, wenn Wissenschaft in Einheitswissenschaft umschlägt und zur Ideologie wird: Er inszenierte Galileis berühmten Dialog, in dem er denselben „Simplicio“ (was man getrost als „Simpel“ lesen darf), der bei Galilei das alte geozentrische Weltbild verteidigt hatte, jetzt als Verfechter einer Einheitswissenschaft auftreten lässt, weil gute Wissenschaft irgendwann einmal doch bei der fertigen Erkenntnis der Wirklichkeit ankommen müsse.

Dagegen argumentierte Fleck, dass das finale Wissen einer Einheitswissenschaft kein Paradies der Erkenntnis, sondern nur der Beginn des Polizeistaats sein könnte. Dazu ließ er seinen „Sympathius“, seinen Liebhaber wahrer Wissenschaft, kontern, das fertige Wissen, der „Codex Pansophiae“, müsse sofort mit allen Mitteln geschützt werden, weil sonst nur immer wieder neue Fragen vorgebracht würden und das fertige Wissen gar nicht als solches erkennbar bliebe:

„Man müsste die Bewegung der Planeten anhalten, das Flimmern des Staubs in der Luft, die Evolution der lebenden Wesen und – was am wichtigsten ist – die Bewegung des menschlichen Gedankens, weil sonst ständig neue, nicht vorhersehbare Probleme entstehen würden. [...] Weil irgendein Wagehals unter den Kommentatoren die Ordnung des Kodexes ändern wollen könnte (unter dem Vorwand der Verbesserung), was unliebsame Erschütterungen hervorriefe, muss man den Kodex gesetzlich schützen. [...] Meinst Du nicht, dass sich in einem solchen Fall Deine Pansophia ohne Veränderungen nur dank der Polizei halten würde?“[20]

Die Pansophia, als Konzept einer universalen Allwissenheit, wird zur Karikatur dessen, was sie dem Worte nach meint. Wenn Fleck sein Sprachrohr hier sagen lässt, dass man das Flimmern in der Luft anhalten müsse und nur ein Polizeistaat die Wahrheit einer Einheitswissenschaft retten könne, dann spielte er auf seine jüngsten Erfahrungen in einem Staat an, der viele seiner Familienmitglieder ermordet und zu Staub in der Luft verbrannt hatte.

Zu den Wirklichkeiten, in denen wir heute leben, gehören leider immer mehr Beispiele für Staaten mit einem ähnlichen Doppelspiel von Meinungsunterdrückung und ideologischer Einheitswissenschaft. Deswegen darf man nicht generalisieren, aber wer auf eine vermeintlich unumstößliche Realität der einheitlichen Wirklichkeit pocht und darin ein Argument gegen angeblich bloß konstruierte künstliche Wissenschaftswelten sieht, ist auf der schiefen Ebene zum Polizeistaat.

Eine vermeintlich unhinterfragbar einheitliche Wirklichkeit kann kein Einspruch gegen widersprüchlich vielfältige Wissenschaft sein. Fleck hatte in der Debatte um die vermeintliche Krise der Wirklichkeit auf die enorme Produktivität des Unternehmens Wissenschaft hingewiesen, das immer weitere Schichten von Wirklichkeit eröffnet, neue Interventionsmöglichkeiten, Deutungen und Vernetzungen schafft: „Man halte im eigenen Denken freien Platz für die Zukunft!“, hatte er 1929 seinen Aufsatz beschlossen.

Ian Hacking (2009)
Ian Hacking (2009)

Der kürzlich verstorbene kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking hat auf dieser Spur nach sinnvollen Vermittlungen von Konstruktivismus und Realismus gesucht, um der von Fleck herausgestellten besonderen Produktivität neuzeitlicher und moderner Wissenschaft gerecht zu werden.[21] Hacking hat genau herausgearbeitet, wie Forschung selbst da noch als aktive Intervention begriffen werden muss, wo scheinbar nur vorgefundene Strukturen abgebildet werden. Denn das vermeintlich einfache Beobachten basiert in den Wissenschaften auf voraussetzungsreichen Detektionsverfahren und komplexen Darstellungskonventionen. Realismus und Konstruktivismus sind bei Hacking nicht die Namen einander widersprechender philosophischer Positionen, die man als intellektuelle Haltungen wählen oder ablehnen könnte. Vielmehr gilt es, ihr Ineinandergreifen in der aktuellen Forschung angemessen zu erfassen und zu analysieren: Die Konstruktion von Forschungsumwelten zur Darstellung und näheren Kennzeichnung natürlicher Eigenschaften und Prozesse.

Weil Forschung in den Naturwissenschaften sich auf diese Weise immer im Wechselspiel von Repräsentation und Intervention vollzieht und beides die Grundaktivitäten wissenschaftlicher Praxis sind, hatte er seiner Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften den englischen Titel Representing and Intervening gegeben.[22] Ein solches Nachdenken über Wissenschaft und Technik ist heute dringlicher denn je. Denn nicht nur wurde das Experimentieren, die gezielte Intervention in Naturzusammenhänge, mit der Neuzeit zum epistemisch vorrangigen Weg naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, sondern Forschung und Technik haben ein enormes transformatives Potenzial freigesetzt, mit dem die Welt massiv umgestaltet und neue Wirklichkeiten herbeigeführt wurden. Dazu gehört heute auch, dass die Erde aufgrund menschlichen Eingreifens insgesamt als gefährdet zur Disposition steht, was noch bis vor kurzem unvorstellbar war.

Donna Haraway (2006)
Donna Haraway (2006)

Es kommt darauf an

Die wirklichkeitserschließende Rolle solcher Wechselwirkungen, lokaler Kontexte und relationaler Abhängigkeiten mit globalen Folgen und Konsequenzen für die Gesellschaft insgesamt ist dann vor allem von Frauen wie Donna Haraway und Evelyn Fox Keller in der Wissenschaftsforschung herausgearbeitet worden, bzw. von der feministischen Wissenschaftsphilosophie bei Isabelle Stengers und Helen Longino. Damit haben sie wichtige Impulse für die Wissenschaftsphilosophie im 21. Jahrhundert geliefert, und es kann kein Zufall sein, dass sie selbst wie Fleck zumeist aus der forschenden Praxis kamen. Donna Haraway z.B. hat aus ihrer Sozialisierung in der biologischen Forschung das Konzept einer „situierten Epistemologie“ entwickelt, das besagt, dass Erkennen und Wissen immer an ganz konkrete Standpunkte gebunden sind, von denen aus Wissen in spezifischer Weise als plausibel gilt.[23]

Das heißt umgekehrt auch, dass vermeintlich universale Positionen und unumstößliches Wissen um feste Grenzen nicht so sicher und stabil bleiben, wie lange Zeit hypostasiert, z.B. die Grenze zwischen Mensch und Maschine, Mensch und Tier, Natur und Geist, Körper und Welt.[24] Haraway legte mit ihrem Cyborg-Manifesto aus feministischer Perspektive frei, wie aus der Figur des Cyborgs als Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine das Denken neue Impulse und Interventionsmöglichkeiten gewinnen kann. Und nachdem lange Zeit Medizin und Lifesciences kaum als adäquate Gegenstandsbereiche der Wissenschaftsphilosophie gegolten hatten, weil sie nur geringe Grade an Formalisierung aufzuweisen hatten, stehen sie heute im Zentrum verschiedener Richtungen einer „philosophy of science in practice“, die wie Fleck von der wissenschaftlichen Praxis ausgeht. Auch hier wäre zu zeigen, wie insbesondere Autorinnen der Wissenschaftsphilosophie den Weg in Richtung einer pluralen Epistemologie gewiesen haben.

Blue Marble (1972)
Blue Marble (1972)

Erkenntnis in Gemeinschaft

Stattdessen will ich abschließend noch einmal auf Fleck und damit auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik zurückkommen. Nachdem der Zweite Weltkrieg in beispielloser Weise gezeigt hatte, wie Wissenschaft und Technik die Welt verändern und zerstören konnten, wurden in der Nachkriegszeit weltweit Initiativen gestartet, dieses Potenzial für eine bessere Zukunft zu sichern. In der Rückschau markierte das Programm einer Mondlandung in den 1960er Jahren den Kipppunkt, denn das berühmte Foto vom „blauen Planeten“ läutete die neue Zeit eines ökologischen Denkens ein, während parallel die Dekolonialisierung, die Frauenbewegung und die Studentenproteste starteten. Noch vor diesem Kipppunkt, im Sommer 1960, sprach ein Leitartikel der Zeitschrift Science, die die Rolle von Naturwissenschaften übernommen hatte, erneut von einer Krise. Diesmal war es (noch) keine Krise der Wirklichkeit, aber eine neue Initiative für „Science and Human Values“ sei nötig, damit sich die Forschungsagenda der Wissenschaft nicht immer weiter von den sozialpolitischen Herausforderungen der Gesellschaft wegbewegte.

1960 war Ludwik Fleck noch nicht als Vordenker der sozialepistemologischen Wissenschaftsphilosophie wiederentdeckt worden, aber er las den Science-Artikel in Israel und verfasste eine Antwort. Es hatte sein letzter Aufsatz werden sollen, noch einmal wollte er sich unter dem Titel „Krise in der Wissenschaft: Zu einer freien und menschlicheren Naturwissenschaft“ äußern. Sein Artikel ist nicht mehr in Science erschienen – Thomas Schnelle fand ihn im Nachlass, als er in den 1970er Jahren Ludwik Fleck im Rahmen seiner Doktorarbeit bei Lothar Schäfer in Hamburg wiederentdeckt hat.[25] Wie in seinem ersten Artikel pointiert formuliert und in seinem Buch ausführlich dargelegt, insistierte Fleck hier nochmals darauf, dass Erkennen keine abstrakte Relation von Subjekt und Objekt ist, sondern als dynamische und soziale Tätigkeit begriffen werden müsse, zumal in der Zeit organisierter Großforschung:

„In der gegenwärtigen Zeit, in der Ära von Teamkooperation, von Artikeln, die von mehreren Koautoren veröffentlicht werden, von Zeitschriften, Rezensionen, Konferenzen, Symposia, Komitees, Vorständen, Gesellschaften und Kongressen wird die gemeinschaftliche Natur wissenschaftlicher Erkenntnis offensichtlich. Die Erkenntnis kann nicht mehr als Funktion von zwei Komponenten allein verstanden werden, also als eine Relation zwischen dem individuellen Subjekt und dem Objekt. Jedes Erkennen ist eine soziale Tätigkeit.“[26]

Aus dieser aktualisierenden Wiederholung seiner eigenen Theorie leitete er Schlussfolgerungen ab, die prophetisch klingen und der Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte noch heute eine große Aufgabe ins Stammbuch schreiben:

„Jeder Politiker und jeder Geschäftsmann weiß, dass die Propaganda [...] grundlegend für jede gemeinschaftliche Tätigkeit ist. Die Wissenschaftler verkennen diesen Umstand – mindestens offiziell – und werden sein Opfer. Mit offenen Augen zur Propaganda zu stehen macht das Subjekt gegen ihren Missbrauch widerstandsfähig: Wenn jedes Schulkind lernt, dass jede Torheit, wie groß sie auch ist, durch passende Propaganda glaubwürdig gemacht werden kann, wird der kritische Widerstand gegen Propaganda anwachsen. Die Geschichte der Wissenschaften, die des Denkens allgemein, verstanden als Evolution gemeinschaftliche Denkstile [...], hört auf, eine Sammlung lächerlichen Anekdoten und sentimentaler Apotheosen zu sein. Die Genese von Ideen wird erklärbar. [...] Dies zu erfassen wird Wissenschaftlern helfen, mit ihren kreativen Konzeptionen kühner zu werden. [...] Die wissenschaftliche Wahrheit wird sich von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln.“[27]

Vielleicht klangen seine Worte damals zu sehr wie eine Sonntagsrede und wurden deshalb von Science abgelehnt. Aber Fleck ging es nicht um Sonntagspredigten, sondern er kämpfte für ein adäquates Bild davon, wie Wissenschaft in der modernen Welt tatsächlich funktioniert, um zielgerichtet zum Wohl der Gesellschaft intervenieren zu können. Denn nur wer versteht, wie Wissenschaft funktioniert, ist den Rückkopplungsschweifen zwischen Gesellschaft und Wissenschaft nicht ausgeliefert, sondern kann in deren Funktionieren lenkend eingreifen und so verhindern, dass Wissenschaft und Gesellschaft nur von Propaganda, Politik und Ökonomie gesteuert werden.

Fußnoten

  1. Der Text basiert auf einem Vortrag in der Akademie-Vorlesung „Vielfalt“ am 22. Mai 2025, der für den Druck angepasst wurde.
  2. Naomi Oreskes, Erik M. Conway (2010). Merchants of Doubt: How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. New York: Bloomsbury.
  3. Cornelius Borck (2020). Vom Unwissen in Zeiten von Corona. Zeitschrift für Kulturphilosophie 14(2): S. 101-110.
  4. Singularetantum: etwas, das nur einmal oder nur in einer einzigen Form existiert; prima facie: auf den ersten Blick.
  5. Ontologisch: Bezieht sich auf das Sein bzw. Wesen der Dinge; Epistemologisch: Bezieht sich auf die Bedingungen und Möglichkeiten der Erkenntnis.
  6. Hans Blumenberg (1980). Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam.
  7. Niels Bohr (1928). Das Quantenpostulat und die neue Entwicklung in der Atomistik. Die Naturwissenschaften 16: 245-257.
  8. Kurt Riezler (1928). Die Krise der „Wirklichkeit“. Die Naturwissenschaften 16: S. 705-712. doi.org/10.1007/BF01505707 (Abrufdatum 12.08.2025)
  9. Cornelius Borck (2011). Living Ambiguity: Speculative Bodies of Science in Weimar Germany. In: Paul Forman, Cathryn Carson & Alexei Kojevnikov, Helmuth Trischler (Hg.), Weimar Culture and Quantum Mechanics: Selected Papers by Paul Forman and Contemporary Perspectives on the Forman Thesis. Hackensack, NJ: World Scientific Publishing, S. 453-473.
  10. Raoul Hausmann (1982): Fotomontage [1931], in: Texte bis 1933, Bd. 2: Sieg Triumph Tabak mit Bohnen, hg. v. Michael Erlhoff, München: edition texte + kritik, S. 130-132, hier S. 130. Dazu: Cornelius Borck (2005). Sound Work and Visionary Prosthetics: Artistic Experiments in Raoul Hausmann. Papers of Surrealism.https://pure.manchester.ac.uk/ws/portalfiles/portal/63517388/surrealism_issue_4.pdf (Abrufdatum 12.08.2025)
  11. Ludwik Fleck (2011). Zur Krise der „Wirklichkeit“ [1929]. In: Denkstile und Tatsachen, Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. von Sylwia Werner und Claus Zittel. Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 52-69, hier S. 52f.
  12. Ebd. S. 53f.
  13. Vgl. Deborah R. Coen (2012) Rise, Grubenhund: On Provincializing Kuhn. Modern Intellectual History 9: S. 109-126.
  14. Experimentum crucis: Ausschlaggebendes Experiment zur Klärung konkurrierender Erklärungen.
  15. Lorraine Daston (2002). Baconsche Tatsachen. Rechtsgeschichte 1: S. 36-55.
  16. Stefan Beck (2014). Sachen, Tat-Sachen und Tatsachen. Überlegungen zum Stand der Dinge in den STS und zünftigen/künftigen Problemen. Vortrag am 22.10.2014 im WZB Berlin.
  17. Cornelius Borck (2004). Message in a bottle from ‘the crisis of reality’: On Ludwik Fleck’s interventions for an open epistemology. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 35: S. 447-464.
  18. Der Name Fleckfieber geht übrigens nicht auf Ludwik Fleck zurück, sondern verweist auf die charakteristischen Hautflecken der Patienten.
  19. So hat Eugon Kogon die Ereignisse 1946 in seinem Buch Der SS-Staat (Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 175) anhand eigener Erinnerungen beschrieben. Sylwia Werner und Claus Zittel haben Flecks spätere Aussage darüber zugänglich gemacht: Ludwik Fleck (2011). In der Buchenwalder Angelegenheit. In: Sylwia Werner, Claus Zittel (Hrsg.): Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, S. 549-557.
  20. Ludwik Fleck (2011). Wissenschaftstheoretische Probleme [1946]. In: In: Denkstile und Tatsachen, Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. von Sylwia Werner und Claus Zittel. Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 52-69, hier S. 369-389, hier S. 370 ff.
  21. Konstruktivismus: Auffassung, dass Wissen über die Welt vom Subjekt aktiv erzeugt („konstruiert“) wird und nicht direkt die Außenwelt abbildet; Realismus: Auffassung, dass es eine vom Erkennen unabhängige Realität gibt, die durch Wissenschaft erkannt werden kann.
  22. Ian Hacking (1996). Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften [Representing and intervening: introductory topics in the philosophy of natural science, 1983]. Stuttgart: Reclam.
  23. Donna Haraway (1995). Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 73–97.
  24. hypostasiert: als etwas Unveränderliches oder eindeutig Reales behandelt.
  25. Thomas Schnelle (1982). Ludwik Fleck – Leben und Denken: Zur Entstehung und Entwicklung des soziologischen Denkstils in der Wissenschaftsphilosophie [Diss. Univ. Hamburg 1980]. Freiburg i. Br.: Hochschulverlag.
  26. Ludwik Fleck (2011). Krise in der Wissenschaft: Zu einer freien und menschlicheren Naturwissenschaft. In: Denkstile und Tatsachen, Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. von Sylwia Werner und Claus Zittel. Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 466-474, hier S. 467.
  27. Ebd. S. 471f.

     

Prof. Dr. Cornelius Borck

Als ich mein Medizinstudium begann, begeisterten mich die neuen Wissensgebiete, aber die Universität hatte ich mir anders vorgestellt. Deshalb studierte ich parallel noch Philosophie (mit ein paar Nebenfächern) - und als Kombination von beidem darf ich heute ein Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung leiten. Mein Weg hat mich dabei von der neurophysiologischen Forschung in London über die Wissenschaftsforschung in Bielefeld zunächst ans MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin geführt. Von dort ging es dann zu einer eigenen Forschergruppe an der Medienfakultät der Bauhaus Universität und zur ersten Professur an der McGill University in Montreal, bevor ich 2007 nach Lübeck kam. Mich interessiert, wie offene Fragen über die Natur des Menschen, sein Denken und Handeln zu wissenschaftlichen Problemen werden, wie Forschungsinstrumente diese Fragen bearbeitbar machen und welche Effekte die mit diesen Methoden gewonnenen Antworten haben. Gerade aufgrund der hohen Spezialisierung der Wissenschaften beschäftigen mich ihre Verflechtungen - untereinander, mit den Konjunkturen allgemeinerer Denkfiguren und mit technischen Entwicklungen.