Christliche Freiheit – Von der Freiheit der Christenmenschen

Freiheit ist Gegenstand und Ziel unübersehbar vieler menschlicher Bemühungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Freiheit herstellen, Freiheit verstehen und Freiheit gestalten – welch höheres Ziel sollte man sich vorstellen? Frieden, gewiss, aber wenn und sofern von Frieden die Rede ist, geht es immer auch um Freiheit und vice versa. „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben“, bekennen die Eidgenossen in Schillers „Wilhelm Tell“. „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt“, dichtete Max von Schenckendorff (1783-1817) zur Zeit der Befreiungskriege1, und August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben (1798-1874) Lied „Die Gedanken sind frei“ (zuerst 1842, nach einer älteren Vorlage) zieht sich seither als Freiheitslied durch die Geschichte bis in die Gegenwart. Sophie Scholl spielte es ihrem im Gefängnis sitzenden Vater auf der Flöte vor.2 „Die Wahrheit wird euch frei machen“ – so lautet die programmatische Inschrift an der Stirnseite des 1911 eröffneten Hauptgebäudes der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg3, die auf das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium zurückgeht: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32f.). Und der Dichter Gottfried Arnold (1665-1714) beendet sein Lied „O Durchbrecher aller Bande“ mit Gedanken an das Paradies: „werden wir doch als wie träumen, wenn die Freiheit bricht herein“.4
In religiöser und in säkularer Perspektive kommt der Freiheit ein hoher, ja einer unter den höchsten Rängen menschlicher Erwartung und Hoffnung zu. Denn die Sehnsucht nach Freiheit gehört zwingend zum Menschsein. Das Fehlen der Freiheit begrenzt menschliches Leben – bis hin zu seiner Vernichtung und Auslöschung. Nur in relativer Freiheit kann menschliches Leben gedeihen. Gleichwohl wird sie als volle, vollendete und erlöste Freiheit immer ein Traum der Menschen bleiben (müssen). Und vielleicht ist das gut so, weil dieser Traum dem Menschen eine Aufgabe stellt und zugleich seine Grenze aufzeigt.
Christliche Freiheit
In der christlichen Religion und Theologie war Freiheit von Anfang an immer ein Thema. In Jesu Verkündigung des kommenden Gottesreiches geht es um den unmittelbaren Gehorsam gegenüber Gott – über das Gesetz hinaus. Erst Paulus stellt die Frage: Ist Jesus der Weg zu Gott oder das Gesetz? Also ging es zunächst um die Freiheit von dem von Gott den Juden gegebenen Gesetz. Sollte das auch für Christen gelten? Und wenn ja, in welchem Umfang? Und war die Erfüllung des Gesetzes die Voraussetzung dafür, von Gott angenommen zu werden, oder anders gesagt: War die Erfüllung des Gesetzes heilsrelevant?
Der Apostel Paulus, ein gebürtiger, zum Glauben an Jesus von Nazareth als den Messias gekommener Jude, hat in seinen Briefen an verschiedene Gemeinden diese Fragen als sowohl seine als auch die existentiellen Fragen der Gemeindeglieder immer wieder behandelt. „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich doch zu jedermanns Knecht“ gemacht, schreibt er an die Gemeinde in Korinth (1. Korinther 9, 19). Mit der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth als dem erwarteten Messias aber sei das Gesetz erfüllt. „Christus ist des Gesetzes Ende zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt“ (Römer 10,4). Paulus hat den Zusammenhang von Christusglaube und Freiheit in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien zum Thema gemacht und die Christen zu Freien erklärt: „So ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus hin, damit wir durch den Glauben gerecht würden. Da nun der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“ (Galater 3,24-26). Angesichts der Aufnahme dieser Schriften in den Kanon der christlichen Bibel und ihrer Wirkmächtigkeit in den christlichen Kirchen könnte man die Geschichte des Christentums auch als eine Geschichte der erfolgreichen und der vergeblichen Aktualisierungen der Freiheit schreiben.
Von der Freiheit eines Christenmenschen
„Freiheit“ lag in der Luft in den Jahrzehnten um 1500. Innerhalb des Heiligen Römischen Reichs ging es um die jeweiligen Freiheiten der Stände, Ulrich von Hutten (1488-1523) und Franz von Sickingen (1481-1523) machten aus Sicht der Ritterschaft Pläne für die Durchsetzung einer Freiheit, die sie meinten. Freiheit von den auferlegten Lasten der Kurie und der kirchlichen Hierarchie war der Wunsch vieler Kirchengemeinden und Christenmenschen.
In diesem Kontext hat Martin Luther Freiheit zum Thema christlicher Existenz erhoben. In seiner programmatischen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“5 macht der Autor die Freiheit zum ersten Mal in der Geschichte der christlichen Theologie im Übergang zur Neuzeit Gegenstand einer eindringenden Reflexion und zum Thema eines ganzen Buches. Und dazu eines erfolgreichen. Mit der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und mit Begriff und Verständnis von Freiheit verbindet sich seit nunmehr 500 Jahren evangelisches Christentum. Wenn man irgendein Buch Luthers kennt, dann eben dieses. Christenmenschen sind freie Menschen oder sollen es doch sein oder werden.
Woher aber gewinnt der Mensch seine Freiheit? Wie steht es um das Verhältnis von äußerer und innerer Freiheit? Kann, soll oder muss die christliche Freiheit Konsequenzen haben im politischen und öffentlichen Leben? Und wo sind die Grenzen der (christlichen) Freiheit?
Luthers Traktat hat in seiner Zeit und seither ungeahnte und nicht recht überschaubare Wirkungen gezeitigt. Warum nicht recht überschaubar? Weil sein Inhalt durch individuelle Aneignungen je und je aktualisiert worden ist, ohne dass Historiker in der Lage wären, die Wirkungen dieser Worte im Einzelnen oder insgesamt zu beschreiben. Das Potential der Freiheit, das in Luthers Worten steckt, hat seitdem Menschen begeistert und befreit.
Die Schrift war in ihrer Zeit ein Bestseller – zwischen 1520 und 1524 erschienen 17 hochdeutsche und eine niederdeutsche Ausgabe – und ist es seither geblieben, und nicht nur in deutscher Sprache: Zwischen 1521 und 1546 wurde sie ins Tschechische, Französische, Englische, Niederländische, Spanische und Italienische übersetzt und nahm so ihren Weg in die Welt. Luther selbst meinte übrigens: „Es ist ein kleines Büchlein, wenn man das Papier ansieht, aber es ist doch die Summe des ganzen christlichen Lebens darin inbegriffen, wenn der Sinn verstanden wird“.6 Und dieser Sinn ist ebender: Christsein ist seinem Wesen nach Freisein.
Luther eröffnet seine Schrift mit einer Doppelthese: „Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christenmensch ist, und wie es um die Freiheit bestellt ist, die ihm Christus erworben und gegeben hat – wovon Paulus viel schreibt –, will ich diese zwei Sätze aufstellen:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“7
Gerade die innere, aus der Beziehung zu Gott stammende Freiheit öffnet die Augen und bewegt die Hände für die Not der anderen – und lässt sich diese zum Rahmen der eigenen Freiheitsaktivität werden. Darum kann Luther seinen Traktat so schließen:
„Aus dem allem ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott. Aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe … Siehe, das ist die rechte geistliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Die gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen.“8
Folgen christlicher Freiheit
Luthers Reformation wurde als eine Befreiungsbewegung erfahren. In individueller und kollektiver Aneignung wollten sich die Leser und Hörer seiner Predigten und Schriften von Fesseln und Zwängen befreien: Zunächst von denen der römischen Kirche, die sie, nachdem ihnen die Augen geöffnet worden waren, als eine Zwangsanstalt wahrnahmen. Die neue „evangelische Freiheit“ hingegen wurde geradezu als Gegenpol zu solchem Zwang wahrgenommen. Dass sie zunächst als Glaubensfreiheit gedacht war, als ein Geschehen zwischen Gott und dem einzelnen Menschen, hinderte nicht daran, auch Konsequenzen für das öffentliche Leben aus ihr zu ziehen.
Die Wirkungsgeschichte von Luthers Schrift kann man ebenso wenig überschauen wie die der biblischen Texte. Aber mit dieser Schrift war ein unauslöschlicher Gedanke in die Geschichte gekommen. Zwar machte sich schon bald nach ihrem Erscheinen der bei der römischen Kirche verbliebene Theologe Kaspar Schatzgeyer (um 1463-1527) daran, Luthers Schrift mit einer Gegenschrift „Von der warn Christlich(e)n vnd evangelisch(e)n freyheit“9 zu bekämpfen. Aber Schatzgeyer verkannte Luthers theologische Pointe – dass es eben auf die Beziehung des einzelnen Christenmenschen zu Christus und gerade nicht auf die Vermittlung durch die Institution Kirche ankomme.
Im Jahr 1525 erhielt Luthers Freiheitsschrift eine brennende Aktualisierung: In den Auseinandersetzungen der Bauern erscholl allenthalben der Ruf nach „fryheit“. Dieses Wort stand, wie ein zeitgenössischer Holzschnitt zeigt, auch auf den Fahnen der Bauern. In diesem Sinne aber hatte Luther „Freiheit“ nicht verstanden – christliche Freiheit kann nicht zum politischen Programm werden.
Innere und äußere Freiheit
Christsein ist von Jesus Christus erworbenes und in ihm dem Menschen gegebenes Freisein. Diese Erfahrung kann man vielleicht besonders deutlich in Unfreiheit machen. So schrieb Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) am 17. Dezember 1943 aus dem Gefängnis an seine Eltern: „Liebe Eltern … Ich brauche Euch nicht zu sagen, wie groß meine Sehnsucht nach Freiheit und nach Euch allen ist. … In solchen Zeiten erweist es sich eigentlich erst, was es bedeutet, eine Vergangenheit und ein inneres Erbe zu besitzen, das von dem Wandel der Zeiten und Zufällen unabhängig ist. … Vom Christlichen her gesehen kann ein Weihnachten in der Gefängniszelle ja kein besonderes Problem sein. Wahrscheinlich wird in diesem Hause hier von Vielen ein sinnvolleres und echteres Weihnachten gefeiert werden als dort, wo man nur noch den Namen dieses Festes hat. Daß Elend, Leid, Armut, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Schuld vor den Augen Gottes etwas ganz anderes bedeuten als im Urteil der Menschen, daß Gott sich gerade dorthin wendet, wo Menschen sich abzuwenden pflegen, daß Christus im Stall geboren wurde, weil er sonst keinen Raum in der Herberge fand, – das begreift ein Gefangener besser als ein anderer und das ist für ihn wirklich eine frohe Botschaft, und indem er das glaubt, weiß er sich in die alle räumlichen und zeitlichen Grenzen sprengende Gemeinschaft der Christen hineingestellt und die Gefängnismauern verlieren ihre Bedeutung.“10
Aus der Haft hat Bonhoeffer seinem Freund Eberhard Bethge im Sommer 1944 „Verse“ gesandt, „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“. In diesen Versen zeigt sich deutlich der innere Grund und die äußere Verantwortung christlicher Freiheit.
Zucht.
Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, daß die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen,
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.
Tat.
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.
Leiden.
Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.
Tod.
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
Dietrich Bonhoeffer11
Fußnoten
- Max von Schenkendorf, Gedichte. Stuttgart und Tübingen 1815, S. 72–75.
- Hermann Vinke, Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburg 1980, S. 112.
- Vgl. dazu Johannes Schilling, Die Wahrheit wird euch frei machen. In: Mojib Latif (Hg.), Wert der Wahrheit. Wissenschaftliche Perspektiven. Freiburg i. Br. 2024, S. 187-195 (auch online).
- Gottfried Arnold, O Durchbrecher aller Bande (1698). In: Evangelisches Gesangbuch Nummer 388, Strophe 7. – Vgl. dazu Johannes Schilling (mit Brinja Bauer) 388 O Durchbrecher aller Bande. In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Heft 25. Göttingen 2019, S. 61-67.
- Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hrsg. und kommentiert von Dietrich Korsch, Leipzig 2016 (Große Texte der Christenheit. Hrsg. von Dietrich Korsch und Johannes Schilling 1). – Die Ausgabe enthält den Originaltext, eine Übersetzung in ein gegenwärtiges Deutsch und einen ausführlichen Kommentar. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe.
- Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe. Hrsg. von Johannes Schilling … Band 1: Glaube und Leben. Hrsg. und eingeleitet von Dietrich Korsch. Leipzig 2012, S. 275.
- Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (Anm. 5), S. 13/15.
- Ebd., S. 67.
- 1525 erschien eine lateinische Ausgabe der Schrift. Vgl. Caspar Schatzgeyer, Von der waren Christlichen und Evangelischen Freiheit. Hrsg. und eingeleitet von Philipp Schäfer. Münster 1987 (Corpus Catholicorum 40). Die Originaldrucke VD16 S 2350 und S 2352 online.
- Dietrich Bonhoeffer, An Karl und Paula Bonhoeffer. 17. XII. [19]43. In: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt. Gütersloh 1998 (Dietrich Bonhoeffer Werke. Achter Band), S. 239-241, hier S. 240f.
- Dietrich Bonhoeffer, Stationen auf dem Weg zur Freiheit. In: ebd., S. 570-572. – Zusatz: „Lieber Eberhard! Ich schrieb diese Zeilen heute abend in ein paar Stunden. Sie sind recht roh; dennoch freuen sie Dich vielleicht etwas und sind doch so etwas wie ein eigenes Geburtstagssgeschenk! Herzlichst Dein Dietrich
Ich sehe heute früh, daß ich die Verse noch einmal ganz umbauen muß. Trotzdem mögen sie im Rohbau so an Dich abgehen. Ich bin ja kein Dichter!“ (Ebd., S. 572).