Von Rechten und Rebellion: Elise Reimarus über Freiheit und Widerstand
Im Jahr 1791 erschien im Hamburger Meyn Verlag eine anonyme Broschüre mit dem einfachen Titel „Freiheit“. In Dialogform wird darin verhandelt, was dieser Begriff bedeutet. Von der anfänglichen Idee, „daß ich thun kann, was ich will“, werden die Leser:innen durch einen Bericht vom Leben an der American frontier schnell eines Besseren belehrt: „Das war freilich eine schlimme Probe der Freiheit des Naturzustands, und ich sehe wohl ein, daß der Mensch nöthig hat, sich in Gesellschaft zu verbinden“. Dementsprechend wird die Idee vom Gesellschaftsvertrag sehr nachvollziehbar erläutert: um sich vor Gewalt zu schützen, gehen die Menschen einen Bund ein, „der auf [der] Gleichheit der Menschenrechte“ sowie auf gegenseitigen Rechten und Pflichten beruht. Zur Aufrechterhaltung dieses Bundes werden „eine Obrigkeit im Staate bestellt“ und Steuern erhoben, zum Wohle aller. Rhetorisch fragt die Hamburgerin („H“) ihren aus Amerika zurückgekehrten Cousin („A“): „Erkennest du nicht wieder den Vortheil, einen Staat vorzufinden, wo ich mich darauf verlassen kann, daß mir das gehalten werde, was mir versprochen ist, und wo ich nicht fürchten darf, einer willkührlichen Gewalt unterworfen zu werden?“[1]
Aufstand in Hamburg
Im Mittelteil des Textes wird Gewalt als illegitime Antwort auf politische Ungerechtigkeit innerhalb des Staates verworfen. Nur der Rückgriff auf Gesetze und „andere rechtsgegründete Mittel“ sei zulässig.[2] Den konkreten Kontext für diese Äußerungen bildete der Hamburger Aufstand vom August 1791, bei dem es am Rande von Protestzügen der städtischen Handwerksgesellen zu Auseinandersetzungen gekommen war. Laut zeitgenössischem Bericht zog „der Pöbel … mit Stöcken und hölzernen Waffen in den Straßen herum, drohte Häuser zu spolieren oder in Brand zu stecken. … das wilde Betragen an diesem Tage nöthigte die Obrigkeit, am 25. August, die Gelindigkeit mit Schärfe zu verwechseln und gab Veranlassung zu schreckenden und sogar blutigen Auftritten.“[3] Mehrere Menschen starben, bevor der Aufstand als beendet galt. Dieser Vorfall veranlasste die Hamburger Aufklärerin Elise Reimarus (1735-1805), sich an ihre Mitbürger:innen zu wenden – denn niemand anders war die Autorin der hier besprochenen Schrift über die Freiheit.[4]
Lektionen in Staatsbürgerkunde
Offensichtlich besorgt über die Auswirkungen der Französischen Revolution, die sie anfangs begrüßt hatte, wandte sich Reimarus in Freiheit mit einer Lektion in Staatsbürgerkunde an die Einwohner:innen Hamburgs. Das Mittel des didaktischen (und in diesem Falle sokratischen) Dialogs war ihr als Mitarbeiterin an Joachim Heinrich Campes Kleiner Kinderbibliothek bestens vertraut. Und wie Reimarus' Biografin Almut Spalding zeigt, war das politische Selbstbewusstsein der Hamburger:innen und ihr Verständnis von Freiheit ein immer wiederkehrendes Thema in der Korrespondenz zwischen Reimarus und ihrem Bruder Johann Albert Hinrich. Das politische Klima der 1790er und ihre kürzliche Verwicklung in zwei berüchtigte Kontroversen, die unter den Namen Fragmentenstreit und Pantheismusstreit bekannt wurden, bewogen Reimarus, den Deckmantel der Anonymität zu wählen.
Die Freiheit aufzusteigen
Nach der Verneinung des Rechts zum gewaltsamen Widerstand folgt im Text von Freiheit eine Diskussion über Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft, wobei „H“ argumentiert, „daß der Unterschied der Stände und Beschäftigungen die Freiheit nicht aufhebt“. Es käme auf rechtliche und politische, nicht aber materielle Gleichheit an. Heutigen demokratischen Idealen zuwider wird hier am Ende des 18. Jahrhunderts sogar verteidigt, dass die Stimme von Bürgern mit mehr Eigentum ein größeres Gewicht hat, da sie mehr zu verlieren hätten: „Siehe! so ist es auch im Staate: der hat mehr Anspruch an Vortheilen, der mehr zum Ganzen beiträgt. Es ist also auch dieser Unterschied des Ranges den Menschenrechten nicht zuwider, sondern vollkommen gemäß.“[5] Allen bliebe schließlich die Freiheit, durch Fleiß und harte Arbeit aufzusteigen, und darauf käme es an.
Anekdotisch wird von diversen Ungerechtigkeiten und Missständen unter dem Ancien Régime berichtet, jedoch ohne die Monarchie als solches zu diskreditieren. So heißt es: „in mancher Monarchie giebt es mehr Freiheit, als z. B. in der Republik Venedig“ und „jede Regierungs-Art hat ihre Mängel, und die Regierung der Fürsten gewiß auch ihre Vortheile“. Dabei wird besonders auf aufklärerische Reformbemühungen verwiesen, nicht zuletzt auf dem Feld der Gesetzgebung und Kodifizierung von Rechten.
Freiheit als Schutz vor Gewalt und Willkür
Was beschränkt werden müsse, um Freiheit und Menschenrechte zu schützen, sind die Kapazitäten für willkürliches Handeln. Die Schrift schließt mit einer Definition von Freiheit, welche noch einmal das zentrale Anliegen von „Sicherheit vor Gewalt“ betont. Diese soll durch unparteiische Rechtsprechung und Schutz vor willkürlicher Verhaftung gewährleistet werden. Hinzu kommt „der freie, andern unschädliche Gebrauch seines Eigenthums oder Vermögens“ sowie die Freiheit, seinen Lebensunterhalt auf eine selbstgewählte Art zu verdienen und keine übermäßigen Abgaben zahlen zu müssen. Schließlich ist Freiheit dort zu finden, „wo endlich jeder nicht bloß frey denken, sondern auch seine Gedanken ungescheuet öffentlich mittheilen darf“.[6]
Polizey und Kinderzucht
Neben ihrer Veröffentlichung von 1791 ließ Reimarus auch ein unveröffentlichtes Manuskript unter dem Namen „Versuch einer Läuterung und Vereinfachung der Begriffe vom natürlichen Staatsrecht“ zirkulieren.[7] In diesem Begleitstück, verfasst in Form von 29 Paragraphen, setzt sie sich noch gründlicher als in Freiheit mit der Frage nach legitimer Autorität auseinander. Ihre Interpretation des Gesellschaftsvertrags vereint offensichtlich Elemente der Staatstheorien von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Reimarus postuliert drei Grundgesetze, nämlich das Gesetz der bürgerlichen Freiheit, das Gesetz der bürgerlichen Unterwerfung und das Gesetz der bürgerlichen Gleichheit. Im Sinne der Gewaltenteilung unterscheidet sie zwischen Legislative und Exekutive (in ihren eigenen Worten „die Gesetzgebende“ und „die Ausübende Gewalt“).[8] Außerdem unterscheidet Reimarus grundsätzlich zwischen despotischer und republikanischer Verfassung, unabhängig von der Regierungsform, die monarchisch, aristokratisch oder demokratisch sein mag. Die Frage nach der besten Regierungsform lässt sich laut ihr nicht grundsätzlich entscheiden, sondern ist abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten eines bestimmten Staates. Bemerkenswerterweise unterscheidet Reimarus in ihrem Versuch zwischen äußerer Freiheit – dem Vermögen, eigene Entschlüsse ausführen zu können – und innerer – moralischer – Freiheit. Dabei wird politische Freiheit als notwendige Voraussetzung für moralische Autonomie postuliert. Allerdings muss sie durch „vernünftige Polizey und Kinderzucht“ (also gut geordnete öffentliche Einrichtungen, aufgeklärte Erziehung und Bildungsmöglichkeiten) ergänzt werden, um die Ziele der Aufklärung (ein Wort, das Reimarus selbst verwendet) zu verwirklichen.[9]
Im Vergleich mit Kant
Dieser Punkt, dass die moralische ‚Verbesserung‘ der Menschheit ein Ziel des politischen Zusammenlebens darstellt und der Aufklärung bedarf, findet sich in ähnlicher Weise im Denken Immanuel Kants. Reimarus schrieb sowohl Freiheit als auch den Versuch, bevor seine Schriften zur politischen Philosophie ebenfalls in den 1790ern erschienen. Dennoch lohnt sich ein kurzer Vergleich, nicht bloß wegen der größeren Bekanntheit der Ansichten des Königsberger Philosophen, dessen 300-jähriges Jubiläum 2024 begangen wird, sondern aufgrund weiterer inhaltlicher Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel stimmen beide in ihrer Konzeption einer autonomen Rechtssphäre überein, die erst einmal von Überlegungen der Moralität zu trennen sei (was allerdings kein unmoralisches Recht impliziert).[10] Wichtiger im Kontext dieses Essays ist eine andere Übereinstimmung: Während sich zahlreiche Kritiker Kants angesichts der Spannung zwischen seiner Betonung von Freiheit und Verneinung eines Rechts auf Widerstand verblüfft zeigen, finden wir bei Reimarus die gleiche Konstellation.[11] Allerdings gesteht sie zu, dass der Gesellschaftsvertrag in extremen Ausnahmefällen aufgelöst werden kann: „wenn dieser in wesentlichen Stücken von dem einen Theile der Gesellschaft übertreten würde; so wäre freilich auch der andere nicht daran gehalten“.[12] Schließlich ist für Kant sowie für Reimarus die freie Meinungsäußerung zentraler Bestandteil der republikanischen Ordnung und bietet eine alternative Möglichkeit des Widerstands.
Weiblicher Widerstand gegen Konventionen
Abschließend ist festzustellen, dass Reimarus selbst die Freiheit beanspruchte, sich politisch zu äußern und in die Debatte über Politik, Moral und Staatsrecht einzugreifen. Das ist keineswegs selbstverständlich für eine Frau des 18. Jahrhunderts und gleicht einem emanzipatorischen Akt. Tatsächlich scheint Reimarus Frauen dezidiert einzuschließen, wenn sie Folgendes schreibt: „In Rücksicht auf den Gesellschafts Vertrag heißt jedes Mitglied des Staates ohne Ausnahme Bürger.“[13] Nicht einmal die französischen Revolutionäre waren bereit, dies zuzugestehen, und assoziierten stattdessen die Ideale der Freiheit und Gleichheit explizit mit Brüderlichkeit. Die politischen Schriften von Elise Reimarus können daher als Zeugnis ihres persönlichen Widerstands gegen die Konventionen ihrer Zeit gesehen werden und regen noch heute zum Nachdenken über ‚innere‘ und ‚äußere‘ Freiheit an.
- Freiheit, Hamburg 1791, opendata.uni-halle.de, doi.org/10.25673/60943. S. 5, S. 5, S. 6, S. 7, S. 9.
- Freiheit, S. 12
- Unpartheiische und deutliche Beschreibung der in Hamburg entstandenen Handwerks-Unruhen, die den 19ten August 1791 ihren Anfang nahmen, und erst den 26sten beendigt wurden, o. O. 1791, S. 9.
- Almut Spalding, Elise Reimarus (1735–1805): The Muse of Hamburg. A Woman of the German Enlightenment, Würzburg 2005.
- Freiheit, S. 9, S. 14.
- Freiheit, S. 20, S. 21, S. 22.
- Spalding, Elise Reimarus, Appendix VII (im Folgenden „Versuch“).
- Versuch, §17. Die richterliche Gewalt ist für Reimarus ein Bestandteil der ausübenden Gewalt (§19).
- Versuch, §28.
- Lisa Curtis-Wendlandt, Legality and Morality in the Political Thought of Reimarus and Kant, in Political Ideas of Enlightenment Women: Virtue and Citizenship, Hg. Lisa Curtis-Wendlandt / Paul Gibbard / Karen Green, London / New York 2013, S. 91-107. Siehe auch Karen Green, Women’s Reception of Kant, 1790-1810, in Journal of the History of Ideas 84, No. 2 (2023), S. 263-285.
- Für verschiedene Auffassungen über den Grad der Übereinstimmung zwischen Reimarus und Kant, siehe Lisa Curtis-Wendlandt, No Right to Resist? Elise Reimarus’s “Freedom” as a Kantian Response to the Problem of Violent Revolt, in Hypatia 27, No. 4 (2012), S. 755-773 und Reed Winegar, Elise Reimarus on Freedom and Rebellion, in Practical Philosophy from Kant to Hegel: Freedom, Right, and Revolution, Hg. James A. Clarke / Gabriel Gottlieb, Cambridge 2021, S. 99-117.
- Freiheit, S. 7.
- Versuch, §14.
Elise Reimarus und die Akademie der Wissenschaften in Hamburg
Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg widmet eine Auszeichnung für Postdocs der Sozial- und Geisteswissenschaften dem Andenken an die Hamburger Schriftstellerin, Pädagogin, Übersetzerin und Philosophin Elise Reimarus (1735–1805). Der Elise-Reimarus-Preis wird seit 2021 jährlich vergeben.