Mehr als Abwehrrechte gegen den Staat: Grundrechtliche Freiheit als Gewährleistung von persönlichen Verwirklichungschancen

Grundrechtliche Freiheit umfasst neben Abwehrrechte gegen den Staat, auch staatliche Schutzpflichten und soziale Teilhabe. Entscheidend sind individuelle Verwirklichungschancen. Wie fördert ein mehrdimensionaler Freiheitsbegriff den Interessenausgleich?
Essay von Michael Fehling, 10. Dezember 2024

Schutz durch den Staat, Schutz vor dem Staat
Schutz durch den Staat, Schutz vor dem Staat

Wenn in der öffentlichen Diskussion von grundrechtlich garantierter Freiheit die Rede ist, so liegt der Akzent oftmals ganz darauf, vom Staat möglichst wenig behelligt zu werden. So wurde in der Kontroverse um das „Heizungsgesetz“ das Recht, eine neue Gas- oder gar Ölheizung einzubauen, für viele fast zum Inbegriff der Freiheit.  Dieser besondere Fokus auf Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat ist nicht von vornherein falsch, aber doch viel zu einseitig. Freiheit hat auch bei den Grundrechten verschiedene Facetten, die durchaus miteinander in Konflikt geraten können. Diese unterschiedlichen Dimensionen grundrechtlicher Freiheit lassen sich aber – so meine Kernthese – in einem Grundgedanken bündeln: Letztlich geht es um die Gewährleistung unterschiedlichster Verwirklichungschancen der Menschen.

Rosa Luxemburg
Rosa Luxemburg

Schutz gegen rechtswidrige Übergriffe des Staates in die individuelle Entfaltungsfreiheit (Abwehrfunktion)

Die besondere Bedeutung bestimmter Bereiche individueller Freiheit, die der Staat grundsätzlich zu respektieren hat und in die er nur unter engen Voraussetzungen eingreifen darf, ergibt sich schon aus der Geschichte. Solche Eingriffsabwehrechte der Bürger wurden in Deutschland im 19. Jahrhundert den Monarchen abgetrotzt, um deren zuvor theoretisch nahezu unbeschränkten Befugnisse zu begrenzen und persönliche (z.B. Berufsfreiheit[1]) wie politische Freiheitsräume (z.B. Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit[2]) durchzusetzen. Viele Grundrechte sind in ihrer heutigen Form zudem Reaktionen auf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen und das erlittene Unrecht im Nationalsozialismus.

Auch wenn die grundlegenden Freiheiten in der Bundesrepublik heute als weitgehend akzeptiert gelten können, ist doch die Abwehrfunktion der Grundrechte nicht überflüssig geworden. Denn zum einen sind Übergriffe von Polizei und anderen Staatsorganen niemals auszuschließen (etwa bei Demonstrationen), und zum anderen sind neue Gefährdungslagen hinzugekommen. Beispielsweise schaffen erweiterte technische Überwachungsmöglichkeiten neue Risiken für die grundrechtlich gewährleistete informationelle Selbstbestimmung[3] des Einzelnen (Datenschutz). Die zunehmende Sorge vor terroristischen Anschlägen befeuert auch in Deutschland die Diskussion um die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, um die Vorratsdatenspeicherung oder gar eine maschinelle Auswertung digitaler Kommunikation.

Gerade das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit muss stets neu politisch ausbalanciert werden, die Freiheitsgrundrechte setzen dabei allerdings einem Präventionsstaat Grenzen. Manche artikulierten Freiheitsbedürfnisse mögen zwar als irrational übersteigert und von Verschwörungstheorien befeuert erscheinen; man denke nur an die „Querdenker“ in der Covid-Pandemie. Doch bleibt Freiheit „immer die Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg). Wer den allgemein anerkannten Verhaltensmustern folgt, der- oder diejenige hat vom Staat ohnehin keine besonderen Einschränkungen zu befürchten, die durch Grundrechte abgewehrt werden müssten.

Darüber hinaus können schon bei der Abwehrfunktion verschiedene Freiheiten miteinander konkurrieren. So geraten bei der Bekämpfung des Klimawandels heutige Freiheitsbetätigungen (z.B. die „Raserei“ auf der Autobahn) in Konflikt mit den Entfaltungsmöglichkeiten in der Zukunft. Denn, wenn zwecks größerer Freiheit in der Gegenwart Klimaschutz in eine fernere Zukunft verschoben wird, bedarf es später noch größerer Freiheitsbeschränkungen (z.B. eines weitreichenden Verbots motorisierten Individualverkehrs), um Klimaziele noch erreichen zu können.[4]

Staatliche Schutzpflichten als Voraussetzung individueller Freiheitsentfaltung

Die Vorstellung, dass der Staat seine Bürger zu schützen habe, lässt sich bis in die Theorien vom Gesellschaftsvertrag (vor allem bei Hobbes[5]) zurückverfolgen. Danach ist es gerade die zentrale Rechtfertigung staatlicher Herrschaft und der daran geknüpften (Gesetzes-)Gehorsamspflicht der Bürger, dass der Staat mit seinem Gewaltmonopol Leben, Eigentum und sonstige Freiheiten des Einzelnen gegen seine Mitmenschen (und heute vermehrt auch gegen Naturkatastrophen) schützt.

Mittlerweile ist dabei auch ein einklagbares individuelles Grundrecht auf Schutz anerkannt. Reale Freiheit lässt sich nämlich oftmals nur sichern, wenn der Staat durch Gewährung von Schutz Entfaltungsräume schafft. Oftmals gelingt dies nicht, ohne grundrechtliche Eingriffsabwehrrechte anderer einzuschränken. Rechtfertigen lässt sich dies teilweise schon mit der allgemeinen Erwägung, dass grundrechtliche Freiheit jedenfalls im Ergebnis nicht das Recht beinhalten kann, andere zu schädigen. Allerdings gestalten sich die Verhältnisse meist komplizierter. Eine Einschränkung der Demonstrationsfreiheit kann zulässig oder gar geboten sein, wenn durch die Demonstranten Rassismus und/oder Antisemitismus geschürt werden. Denn die Angehörigen der Gruppe, die von solcher Hetze betroffen ist, werden sich ohne staatlichen Schutz im öffentlichen Raum zunehmend unsicher fühlen und schon ihre Bewegungsfreiheit aus Angst vor Übergriffen nicht mehr voll nutzen können. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen in der Wärmeversorgung, wie sie im „Heizungsgesetz“ angestrebt wird, ist ein – in der internationalen Klimaschutzperspektive sehr kleiner, aber doch wichtiger – Baustein, um die Erderwärmung so gut wie noch möglich zu begrenzen. Nur so lassen sich die Menschen in Deutschland und mehr noch in anderen Teilen der Welt vor einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen bis hin zu Gefährdungen von Leben und Gesundheit[6] durch beispielsweise Überschwemmungen, Hitze, Dürre oder steigende Meeresspiegel schützen.[7] In einer Pandemie können Kontaktbeschränkungen, vielleicht sogar ein Impfzwang, trotz der damit verbundenen massiven Freiheitseinschränkungen in Betracht kommen, um Leben und Gesundheit der anderen gegen die Gefahren durch Ansteckung zu schützen.[8]

In solchen Konstellationen muss ein angemessener Ausgleich zwischen den durch Abwehrrecht und Schutzpflicht jeweils grundrechtlich geschützten Freiheiten gefunden werden. Das urliberale Mantra „im Zweifel für die Freiheit“ hilft bei derartigen Kollisionen verschiedener Freiheitsdimensionen nicht weiter. Richtigerweise gibt es deshalb auch keine Vermutung für den Vorrang des Abwehrrechts vor dem Recht auf staatlichen Schutz, sondern die Abwägung muss jeweils ohne eine solche Regel-Ausnahme-Verhältnis einzelfallbezogen stattfinden. Den demokratisch legitimierten staatlichen Instanzen, besonders dem Gesetzgeber, verbleiben dabei erhebliche Spielräume. Allerdings darf das Abwehrrecht nicht übermäßig beschränkt und der Schutz nicht auf ein Untermaß reduziert werden.

Mittelbare Wirkung von Grundrechten auch zwischen Privaten

Einerseits richten sich die Grundrechte historisch und nach dem Wortlaut des Grundgesetzes zunächst einmal gegen den Staat mit seinen potenziell besonders großen Machtbefugnissen. Dem steht nach traditionellem deutschem Verständnis die Gesellschaft gegenüber, in der die Bürger gleichberechtigt ihre Angelegenheiten privatautonom (frei in eigener Verantwortung) regeln. Diese Eigenrationalität der Gesellschaft würde, so heißt es, durch Grundrechtsgeltung auch zwischen den Bürgern beeinträchtigt. Anderseits finden sich asymmetrische Machtverhältnisse mit daraus folgender Schutzbedürftigkeit der strukturell unterlegenen Seite auch in Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander, z.B. im Arbeits- oder Mietverhältnis. Die freien Entfaltungsmöglichkeiten des Arbeitnehmers sind stark beschnitten, wenn ihm/ihr durch Kündigung das ökonomische Rückgrat verloren geht, dessen er oder sie für viele Freiheitsbetätigungen bedarf. Nach Kündigung des Mietverhältnisses reduziert sich die reale Freiheit ohne ein „Dach über den Kopf“ schon wegen der damit verbundenen Gesundheitsgefahr ganz erheblich.

Diesen gegenläufigen Erwägungen sucht man grundrechtsdogmatisch mit einem Mittelweg gerecht zu werden: Grundrechte müssen auch bei der Auslegung des Privatrechts (etwa des Mietrechts oder des Arbeitsrechts) Berücksichtigung finden und kommen so in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten mittelbar zur Geltung. Ist einer der Vertragspartner im privaten Aushandlungsprozess strukturell extrem unterlegen, so sind Auslegungsspielräume im einschlägigen Recht für einen schonenden Ausgleich zwischen der Privatautonomie der einen und der besonderen Schutzbedürftigkeit des anderen zu nutzen. Dies verdeutlich folgendes Beispiel aus der Verfassungsrechtsprechung: Eine selbst gänzlich vermögenslose und im Wirtschaftsverkehr unerfahrene Ehefrau hatte für einen Kredit ihres Ehemannes gebürgt, den dieser für die Fortführung seines Unternehmens benötigte.[9] Angesichts der Höhe des Kredites war von vornherein deutlich, dass die Frau niemals finanziell in der Lage sein würde, ersatzweise die Schulden selbst zu tilgen. Angesichts dieser „massiv gestörten Vertragsparität“ konnte man den Abschluss des Bürgschaftsvertrages durch die Frau nicht mehr als deren privatautonome Freiheitsbetätigung einstufen, die Gegenseite hatte sie mehr oder minder „über den Tisch gezogen“. Deshalb war die Bürgschaft wegen Verstoßes gegen die guten Sitten unwirksam; die einschlägige Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuches war im Lichte der konkurrierenden Grundrechtspositionen entsprechend auszulegen.

Wie schon bei den staatlichen Schutzpflichten zeigt sich: Grundrechtliche Freiheit ist keine „Einbahnstraße“. Blickt man wie notwendig über formale Rechtstitel (im Beispielsfall die grundrechtlich gewährleistete Vertragsfreiheit) hinaus auch auf die reale Freiheit, so ergibt sich die Notwendigkeit, verschiedene Facetten oder Dimensionen grundrechtlicher Freiheit zu einem Ausgleich, einer Art Kompromiss, zu bringen.

Teilhabe an staatlichen Leistungen als Freiheitsvoraussetzung

Grundrechtliche Freiheit ist oft wenig wert, wenn Grundrechtsträger nicht über die – vor allem, aber nicht nur materiellen – Voraussetzungen verfügen, um von ihren Freiheiten effektiv Gebrauch machen zu können. Gerade die ebenfalls grundrechtlich garantierte Menschenwürde verlangt nach realen Entfaltungschancen des Menschen. Ergänzend streitet das Sozialstaatsprinzip für Inklusion und verbietet soziale Ausgrenzung. Die Freiheitsrechte enthalten deshalb in einem Mindestumfang auch Leistungs- und vor allem Teilhaberechte.

Ganz grundlegend betrifft dies zunächst die Sicherung des – nicht nur physischen, sondern auch sozialen – Existenzminimums. Bürgergeld, Sozialhilfe oder Grundrente sind daher dem Grunde nach freiheitsgrundrechtlich garantiert, bei der konkreten Bemessung des Existenzminimums behält der Staat allerdings einen Einschätzungsspielraum. Dies gilt für Geflüchtete nicht anders als für Deutsche. Wenn Asylbewerbern Leistungen zwecks (angeblicher) Verringerung von Migrationsanreizen ohne Rücksicht auf das soziale Existenzminimum gekürzt werden, so handelt es sich nicht um den Entzug bloßer Wohltaten, sondern um eine verfassungswidrige Freiheitsverkürzung.[10] Besondere Umstände, etwa das Leben in einer Sammelunterkunft, können nur die Art und Weise der Befriedigung gewisser Grundbedürfnisse wie Wohnen und Nahrung beeinflussen, nicht aber diese elementaren Bedürfnisse selbst, die – einschließlich der finanziellen Voraussetzungen für ein Minimum an Sozialkontakten – für alle in Deutschland lebenden Menschen gleichermaßen befriedigt werden müssen.

Auch über das Existenzminimum hinaus sind Menschen zwecks realer Freiheit auf vielfältige staatliche Leistungen angewiesen.  Man spricht dabei von Daseinsvorsorge oder, im europäischen Recht, von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.[11] Dies meint etwa den Zugang zu einem bezahlbaren Gesundheitssystems sowie zu Elektrizitäts- und Wärmeversorgung zwecks Schutzes von Leben und Gesundheit, zur Bildung als Voraussetzung auch der Wahrnehmung von Berufsfreiheit. Das betrifft aber auch die Verfügbarkeit einer Verkehrsinfrastruktur zwecks Mobilität als Teil der grundrechtlich gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit.[12] Dabei ist es eine weitgehend freie wirtschaftspolitische Entscheidung, ob der Staat (vor allem die Kommune) solche daseinsnotwendigen Leistungen selbst bereitstellt oder sich damit begnügt, die Erbringung zu bezahlbaren Preisen durch Private zu garantieren. In welchem Umfang solche Leistungen der Daseinsvorsorge genau vorgehalten werden, ist Teil des (wirtschafts)politischen Gestaltungsspielraums. Die Spielräume reichen umso weiter, je weniger die Bürger auf derartige Leistungen angewiesen sind. Teilhabe- und Leistungsrechte binden stets knappe Ressourcen. Über deren Verteilung muss in erster Linie der demokratisch legitimierte Gesetzgeber entscheiden. Die „Steuerschraube“ kann nicht unbegrenzt angezogen werden, sowohl wegen der Abwehrrechte der Abgabenpflichtigen (freilich nur äußerste Grenzen setzend) als auch wegen der (im Ausmaß umstrittenen) Auswirkungen höherer Steuern auf die gesamtwirtschaftliche Leistung.

Carl Schmitt
Carl Schmitt

Individuelle Verwirklichungschancen als verbindendes Element

Verliert grundrechtliche Freiheit angesichts dieses vielschichtigen Bildes nicht alle Konturen? Löst sich so letztendlich fast alles in mehr oder minder willkürliche Abwägungen auf? Diese Kritik ist durchaus verbreitet und wird oftmals genutzt, um doch wieder für eine mehr oder minder einseitige Fixierung auf die Eingriffsabwehrfunktion der Freiheitsrechte zu plädieren.

Vertieft wird diese Skepsis gegenüber konträren Grundrechtsfunktionen durch ein Unbehagen gegenüber der zugrundeliegenden Idee, Grundrechte würden zugleich eine „objektive Werteordnung“ repräsentieren. Insoweit sei das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht schon in den 1950er Jahren,[13] eine Reaktion auf die Negierung aller Werte durch das NS-Unrechtsregime. Diese objektive Werteordnung diente dem Gericht wiederum als wichtige Begründung dafür, dass Grundrechte wie geschildert auch Schutzpflichten beinhalten und in das Privatrecht ausstrahlen. Wie aber lässt sich in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft noch ein gemeinsames Wertekorsett begründen, das über den schon im Text des Grundgesetzes als solchen anerkannten Grundwert der Menschenwürde[14] hinausreicht? Droht vielleicht gar eine mehr oder minder willkürliche Beschränkung des demokratischen Prozesses durch eine „Tyrannei der Werte“, wie es der nationalkonservative (zumindest zeitweise auch dem Nationalsozialismus zuneigende) Vordenker Carl Schmitt formuliert hatte?

Amartya Sen
Amartya Sen

Meines Erachtens lässt sich der Vorwurf der Beliebigkeit jedoch durch die übergreifende Fokussierung auf die Verwirklichungschancen der Menschen entkräften. Darin findet sich ein Kompass, der die verschiedenen Dimensionen der – auch grundrechtlichen – Freiheit sinnvoll zu integrieren und Abwägungen ein Stück weit zu leiten vermag. Im Hintergrund steht die Freiheitsperspektive des Ökonomie-Nobelpreisträgers Amartya Sen.[15] Im Begriff der Verwirklichungschancen („capabilities“) fasst er zusammen, welche unterschiedlichen Handlungsoptionen Personen in den verschiedenen Bereichen des Lebens offenstehen und über welche Ressourcen sie dafür verfügen müssen. Solche von Sen sogenannte „Funktionen“ („functionings“) umfassen nicht nur finanzielle Mittel, sondern etwa auch Gesundheit sowie die Freiheit von Diskriminierung und die Partizipation am sozialen und kulturellen Leben einer Gesellschaft. Damit sind die Verwirklichungschancen Ausdruck der fundamentalen Freiheit, verschiedene Lebensentwürfe und -stile zu realisieren.

Die Fokussierung auf Verwirklichungschancen fügt sich bestens in den freiheitlichen Verfassungsstaat des Grundgesetzes ein. Beides ist auf die Freiheit des Individuums ausgerichtet, berücksichtigt aber gleichzeitig dessen soziale Verankerung, seine Gemeinschaftsgebundenheit. Der Eigenwert der Freiheit jenseits von bloßem Nützlichkeitsdenken spiegelt sich sowohl in der grundgesetzlichen Menschenwürde als auch im Konzept der Verwirklichungschancen wider, das mit der freien Wahl von Lebensentwürfen die Selbstbestimmung ins Zentrum rückt. Zentral ist jeweils die Orientierung an realer Freiheit. Für die tatsächlichen Entfaltungschancen ist die Freiheit von staatlichen Eingriffen eine in gewissem Umfang notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung. Durch die Betonung auch der notwendigen Ressourcen für die Freiheitsausübung kann der Staat sowohl als Gefährder als auch Garant der Freiheit differenziert in den Blick genommen werden. Indem die Bedeutung gesellschaftlicher Beziehungen und Machtverhältnisse für die realen Verwirklichungschancen mit in den Blick genommen wird, lassen sich – wie im juristischen Konzept der mittelbaren Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten – grundrechtstypische Gefährdungslagen auch im Verhältnis der Bürger untereinander einbeziehen.

Je wichtiger eine konkrete Freiheitsbetätigung für die grundsätzlichen Verwirklichungschancen von Individuen ist, umso höheres Gewicht besitzt diese Freiheit in unvermeidbaren Abwägungen. Für einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen kollidierenden Dimensionen grundrechtlicher Freiheit kommt es auf eine Optimierung der Verwirklichungschancen der Betroffenen in einer Gesamtbetrachtung an, unter Einschluss auch von Neben- und Wechselwirkungen.

Das kann man am Beispiel einer Mietpreisbremse illustrieren: Dadurch werden die finanziellen Verwirklichungschancen der Vermieter[16] begrenzt, was jedoch für diese meist kein übermäßiger Verlust sein wird, solange das Mietobjekt immer noch eine Rendite abwirft und nicht defizitär ist. Da es „nur“ um Geld geht, ist die Bedeutung für die freie Lebensgestaltung der Vermieter rein mittelbar und besitzt umso weniger Gewicht, je vermögender diese bereits sind – was sich freilich nicht pauschal beurteilen lässt und sich etwa zwischen den Anteilseignern einer großen Wohnungsgesellschaft und dem Vermieter einer Einliegerwohnung im selbstgenutzten Eigenheim signifikant unterscheiden dürfte. Für die typischerweise – aber keineswegs immer – weniger finanzkräftigen Wohnungsmieter dürfte sich der finanzielle Unterschied in der Mietbelastung oftmals gravierender auf ihre Verwirklichungschancen auswirken, ganz besonders dann, wenn durch eine für sie nicht mehr aufbringbare finanzielle Mehrbelastung sogar das für die Entfaltung zentrale „eigene Zuhause“ auf dem Spiel steht.[17] Diese Erwägungen verdeutlichen zugleich, dass sich mit der Perspektive auf die Verwirklichungschancen auch Verteilungsaspekte in die Abwägung der Freiheitsinteressen integrieren lassen. Allerdings müssen in die Gesamtrechnung auch die potenziell negativen Anreizeffekte einer Mietendeckelung einfließen. Die Aussicht auf eine geringere Rendite könnte den Anreiz zu Investitionen in den Wohnungsbau reduzieren und ein sich daraus ergebendes geringeres Wohnungsangebot wiederum die Verwirklichungschancen der Wohnungssuchenden erheblich einschränken. Diese Effekte dürften aber umso geringer ausfallen, je mehr der potenzielle Investor immer noch eine – wenn auch moderatere – Verzinsung seines Kapitals erwarten kann. Vieles hängt also letztlich von der konkreten Ausgestaltung einer Mietpreisbremse ab.

Gewiss lässt sich eine solche Gesamtsaldierung der Verwirklichungschancen angesichts vieler Unsicherheiten nicht zu einer mathematisch exakten „Kosten-Nutzen“-Optimierung verdichten. Dies kann aber auch nicht das Ziel sein; es geht nur darum, in welchem Korridor der Gesetzgeber ohne Verletzung von Grundrechten die Rechtslage politisch frei gestalten darf. Das Konzept der Verwirklichungschancen bietet für die Auflösung solcher Freiheitskonflikte einen wichtigen Orientierungspunkt, wenn auch keine eindeutig richtigen Lösungen.

Fußnoten

  1. Heute Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG).
  2. Heute Art. 5 Abs. 1 Satz 2 bzw. Art. 8 GG.
  3. Nicht ausdrücklich genannt, aber als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt, das wiederum aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird.
  4. Vgl. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, Beschluss v. 24.3.2021 – Klimaschutz, unter B. III.1., zusammenfassend: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html. (abgerufen am 10.12.2024)
  5. Hobbes, Thomas, Leviathan (Original 1651: Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil)
  6. Grundrechtlich verankert in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
  7. Vgl. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, Beschluss v. 24.3.2021 – Klimaschutz, unter II., zusammenfassend: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html. (abgerufen am 10.12.2024)
  8. Näher Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 781, 889, 860, 854, 820, 805, 798, Beschluss v. 19.11.2021 – Bundesnotbremse, unter 4. a), zusammenfassend: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-101.html; Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2649 Beschluss v. 27.4.2022 – Bundesnotbremse, unter 4. a), zusammenfassend: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-042.html. (abgerufen am 10.12.2024)
  9. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 567, 1084/89, Beschluss v. 19.10.1993 – Bürgschaft, unter II. 2.
  10. Bundesverfassungsgericht, 1 BvL 10/10, Urteil v. 18.7.2012 – Asylbewerberleistungsgesetz, unter 1. a)., zusammenfassend: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/bvg12-056.html. (abgerufen am 10.12.2024)
  11. Art. 14 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
  12. Die allgemeine Handlungsfreiheit ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 GG.
  13. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 400/51, Urteil v. 15.1.1958 – Lüth, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1958/01/rs19580115_1bvr040051.html, Randnummer 25. (abgerufen am 10.12.2024)
  14. Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“.
  15. Sen, Amartya (2003) Ökonomie für den Menschen, S. 258 ff. (Original 1999: Development as Freedom).
  16. Als Bestandteil der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG), die auch die sog. „Privatnützigkeit des Eigentums“ schützt.
  17. Das Besitzrecht des Mieters an der Wohnung im Rahmen des Mietverhältnisses ist ebenfalls durch die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) geschützt, Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 208/93, Beschluss v. 26.5.1993, Randnummern 19 ff.

Prof. Dr. Michael Fehling

1983 bis 1988 Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Freiburg i.Br., 1988 Erstes juristisches Staatsexamen in Freiburg, 1991 Zweites juristisches Staatsexamen in Stuttgart; 1993 Promotion („Die Konkurrentenklage bei der Zulassung privater Rundfunkveranstalter“), 1995 bis 1996 Studien- und Forschungsaufenthalt in Berkeley (USA) mit Stipendium des DAAD, 1988 bis 2001 Wiss. Mitarbeiter/Assistent/Hochschuldozent an der Universität Freiburg, 2000 Habilitation („Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe“); seit September 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Offentliches Recht mit Rechtsvergleichung an der Bucerius Law School, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg
Oktober 2009 bis September 2010 Vizeprãsident der Bucerius Law School,
2015 bis 2021 Akademischer Leiter der Energierechts-lnitiative an der Bucerius Law School,
seit 2022 Co-Direktor des dortigen „Center for Interdisciplinary Research on Energy, Climate and Sustainability — CECS“

Forschungsschwerpunkte: Klimaschutz, Energie- und Verkehrswende, Deutsches und europäisches õffentliches Wirtschaftsrecht einschließlich Vergaberecht mit õkonomischen Querbezügen; Hochschul- und Wissenschaftsrecht; Allgemeines Verwaltungsrecht, Rechtsvergleichung (Schwerpunkt USA), õkonomische Analyse im Õffentlichen Recht.

Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Die Verwaltung“ (Dunker & Humblot), „Ordnung der Wissenschaft - OdW‘ (Open Access) und „Zeitschrift für das juristische Studium" ZJS (Open Access) und der Schriftenreiche „Studien zum Regulierungsrecht" (Mohr Siebeck).

2010/2011 Mitglied einer Kommission der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zur Erarbeitung von Leitsätzen „Gute wissenschaftliche Praxis im õffentlichen Recht“; 2016 Mitglied einer Kom-mission des Wissenschaftsrats zu „Bestandsaufnahme und Empfehlungen zu studiengangsbezogenen Kooperationen: Franchise-, Validierungs- und Anrechnungsmodelle“

Mehrfach Beratung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen in hochschulrechtlichen Fragen, auch Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht; Mitwirkung an Sachverstandigenanhõrungen In Ausschüssen des Bundestags und von Landtagen.