Vergessene Unfreiheit: Mittelalterliche Sklaverei als transatlantische Geschichte

Denkt man an Sklaverei, denkt man meist an den amerikanischen Süden oder das antike Rom. Doch auch im Mittelalter gab es viele Formen der Sklaverei, die als Brücke zwischen der mediterranen und der atlantischen Geschichte der Unfreiheit gelten können.
Essay von Alasdair Grant, 17. Dezember 2024

Die Feudalgesellschaft im mittelalterlichen Europa
Die Feudalgesellschaft im mittelalterlichen Europa

Wir kennen wahrscheinlich alle aus der Schule Darstellungen des mittelalterlichen Lehnswesens: Eine Pyramide mit dem König an der Spitze, darunter die Herzöge, dann die Ritter, zuletzt die Bauern, davon manche frei, manche Leibeigene. Am Rande der Pyramide wird erläutert, dass jede Ebene Dienstleistungen für die Schicht darüber erbringt und im Gegenzug Land erhält. Für manche Historiker:innen ist dieses Schema  nicht mehr als eine idealisierte Darstellung, die die unordentliche Realität der mittelalterlichen Agrargesellschaften unzureichend beschreibt.[1]

Eine zweite bedauerliche Auswirkung der Pyramiden-Grafik ist, dass sie ein Mittelalter ohne Sklaverei suggeriert. Wahr ist, dass die Bedeutung der Sklaverei im nachrömischen Nordwesteuropa sank, aber in der Welt des mittelalterlichen Europas, Nordafrikas und des Vorderen Orients koexistierten weiterhin mehrere Formen von Unfreiheit. Insbesondere im spätmittelalterlichen (1100 – 1500 n. Chr.) Mittelmeerraum wurde Sklaverei zu einem bedeutsamen sozialen und demographischen sowie politischen Faktor, die im Gegensatz zum transatlantischen Sklavenhandel fast keine Spuren hinterlassen hat.[2]

Sklavenmarkt in Zabid im Jemen (Encyclopédie Larousse, 1237)
Sklavenmarkt in Zabid im Jemen (Encyclopédie Larousse, 1237)

Vergessene Unfreiheit

1866, ein Jahr nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, veröffentlichte ein italienischer Historiker einen Artikel zum Thema „orientalischer“ Sklav:innen im mittelalterlichen Italien. Für ihn und den Italiener:innen im Allgemeinen war diese Entdeckung eine Überraschung: Seine Reaktion darauf war Erleichterung darüber, dass die Sklaverei in Italien längst überwunden war, verbunden mit dem Bedauern darüber, dass jedoch zur gleichen Zeit die Sklaverei auf den Plantagen in den Vereinigten Staaten entstand.[3] Die Zusammenhänge zwischen diesen zwei voneinander entfernten Kontexten würden erst ein Jahrhundert später erkannt werden.

Bei dieser vergessenen Sklaverei handelte es sich vor allem um häusliche Arbeit für aristokratische und bürgerliche Familien in den Städten an der Küste und im Hinterland des Mittelmeers. Die meisten Versklavten waren Frauen, die auch regelmäßig sexueller Gewalt unterworfen wurden, was in den Quellen oft unerwähnt bleibt und auch heute nicht thematisiert wird.[4] Häusliche Sklaverei gab es in den christlichen Ländern Italien, Katalonien, Südfrankreich und Byzanz sowie im islamischen Ägypten und Syrien. In den islamischen Ländern gab es auch eine zweite Form der Sklaverei: Junge Männer aus dem Schwarzmeergebiet wurden als Soldaten ausgebildet und dann freigelassen. Auf Arabisch hießen sie „Mamlūken“: Personen „im Besitz“. Dank ihrer militärischen Stärke stiegen sie im späten Mittelalter zu Herrschern auf.[5] Die Untersuchung der Geschichte der Sklaverei ist von der überwiegend ökonomischen Herangehensweise Karl Marx‘ beeinflusst. Weil die häusliche oder militärische Sklaverei eine viel geringere ökonomische Bedeutung als die landwirtschaftliche Sklaverei hat, wird der mittelalterliche Kontext oft übersehen.[6]

Die biblische Figur Hagar (links) war ägyptische Sklavin, Nebenfrau Abrahams und Mutter von Ismael.
Die biblische Figur Hagar (links) war ägyptische Sklavin, Nebenfrau Abrahams und Mutter von Ismael.

Die entscheidende Rolle der Religion

Für die monotheistischen Religionen – Christentum, Islam und Judaismus – galt damals ein allgemeines Verbot der Versklavung von Glaubensgeschwistern. Das Ergebnis war die Entstehung separater Versklavungsgebiete. Aufgrund der wirtschaftlichen Überlegenheit der islamischen Welt konnte das nachrömische Europa bei der Versklavung von Menschen aus fremden Gebieten nicht mithalten. So ging die Sklaverei im Nordwesten zurück, während sie in Nordafrika und im Nahen Osten weiter zunahm.[7] Es gab aber viele Ausnahmen, in denen Christen durch andere Christen oder Muslime durch andere Muslime als Sklaven gehalten wurden, und auch Debatten darüber, ob zum Beispiel Christen einer anderen Kirche versklavt werden durften.[8]

Vom Anfang an liegen das Christentum und die Sklaverei im Spannungsfeld. Sowohl die Bibel als auch die Schriften frühchristlicher Autoren sind in Bezug auf dieses Thema mehrdeutig, und auch der Einfluss der Kirche auf die Sklaverei wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Das römische Recht verkündete, dass Gott die Menschen in Freiheit erschaffen habe; die Sklaverei sei also eine Folge menschlicher Sündigkeit. In Byzanz, der mittelalterlichen Fortsetzung des altrömischen Reiches im Osten, galt die Freilassung von Sklaven als eine fromme Tat, die zu einem wichtigen Zeitpunkt im Leben oder nach dem Tod der Herrin oder des Herren erfolgen konnte und bei der Erlösung der Seele helfen solle.[9] Die Abschaffung der Sklaverei war im Mittelalter nicht undenkbar, aber eine humanitäre Emanzipationsbewegung entstand erst hunderte Jahre später. Die Sklaverei wurde fast überall als eine Tatsache des Lebens akzeptiert.

 

  Mosaik mit der Darstellung einer sitzenden Christus-Figur, der die Arme von zwei Männern mit Fußfesseln ergreift. (Lorenzo Cosmati, 13. Jahrhundert).
Mosaik mit der Darstellung einer sitzenden Christus-Figur, der die Arme von zwei Männern mit Fußfesseln ergreift. (Lorenzo Cosmati, 13. Jahrhundert).

Ethnizität und Versklavung

Trotz religiös bestimmten Begrenzungen konnte im mittelalterlichen Mittelmeerraum jeder von jemandem versklavt werden. Aufgrund der weiten Verbreitung von Piraterie und Kriegen wurden viele Menschen gefangengenommen, von denen viele gehandelt, manche aber auch gegen Lösegeld freigekauft wurden. Am Rande des Schwarzen Meeres wurden Kinder auch von ihren Familien direkt an Sklavenhändler verkauft.

Bereits im Mittelalter gab es Hautfarbe bezogenen Rassismus, Gefangennahme und Versklavung wurden aber vor allem durch religiöse Unterschiede gerechtfertigt. In lateinischen notariellen Kaufverträgen wird häufig auf die ethnische Zugehörigkeit und manchmal auch auf die Hautfarbe Bezug genommen, während in arabischen Traktaten die vermeintlichen Eigenschaften verschiedener Gruppen im Zusammenhang mit dem Sklavenkauf erörtert werden. Rassismus hat die mittelalterliche Sklaverei stark geprägt, war aber keine systemische Grundlage für sie. In diesem Sinne unterscheidet sich der mittelalterliche Kontext stark vom transatlantischen.[10]

Alte und neue Welten

Bei der transatlantischen Sklaverei denken wir vor allem an harte Arbeit auf Zucker- oder Baumwollplantagen. Die Versklavten waren schwarze Personen afrikanischer oder afroamerikanischer Herkunft, die Sklavenhalter:innen weiße Personen europäischer oder amerikanisch-europäischer Herkunft. Die Grundlagen der nordamerikanischen Plantagenökonomie wurden im 17. Jahrhundert von britischen, niederländischen und französischen kolonialen Handelskompanien gelegt. Das Merkwürdige dabei ist, dass die Sklaverei in den Heimatländern der Kompanien fast nicht mehr existierte. Wir haben es mit einem scheinbar ganz neuen Kontext zu tun: Die Handelskompanien, die rassistische und nicht religiöse Basis der Versklavung und die landwirtschaftliche statt häuslicher oder militärischer Sklaverei.[11]

Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Sklaverei war neu, aber individuell gab es bereits Ansätze auf den Inseln des Mittelmeers. Im 11. Jahrhundert wurden die Westeuropäer, insbesondere die Norditaliener, schnell mächtiger und reicher. Eine wichtige Voraussetzung dafür war ihre politische Ausbreitung in die islamisch beherrschten Gebiete des Mittelmeerraums: Spanien, Sizilien und, durch den ersten Kreuzzug, Syrien-Palästina. Infolge dieser Eroberungen fand eine erste Phase europäischer Kolonisierung statt, wobei Handelswege und wirtschaftliche Techniken der islamisch geprägten Welt übernommen wurden.[12] Die Kreuzfahrer fanden im Nahen Osten Zuckerplantagen, die sie auf Zypern nachahmten. Welche Rolle die Sklavenarbeit auf diesen Plantagen spielte, ist unklar, es gab aber zu dieser Zeit ohne Zweifel viele Versklavte auf Zypern. Diese Techniken wurden dann auf Madeira und den Azoren eingeführt und im 16. Jahrhundert nach Kap Verde und Brasil exportiert.[13]

Die Genuesen waren die Verbindung zwischen der alten und neuen Sklaverei, die als Kaufmänner für die Spanier dienten und dadurch ihre kolonialen Techniken nach Lateinamerika brachten. Ein genuesisches Privatunternehmen („Mahona“) kontrollierte zum Beispiel die Erzeugung von Mastix, dem Kaugummi des Mittelalters, auf der Ägäis-Insel Chios und regierte die Insel sogar selbst. Der Zuckerhandel auf Madeira wurde bereits im 15. Jahrhundert von Genuesen betrieben, und aus Genua stammte auch der weltberühmte Christoph Kolumbus, der im Jahr 1492 im Auftrag des Königreichs Kastilien Segel setzte. Im selben Jahr wurde das islamische Emirat von Granada von Kastilien erobert und die Juden aus dem Königreich vertrieben. Zwischen den Kreuzzügen, religiöser Intoleranz und mediterraner Sklaverei einerseits und der späteren Abspaltung der amerikanischen Sklavenhaltersüdstaaten andrerseits gibt es eine wichtige, wenn auch nicht immer ganz gerade Verbindungslinie. [14]

Fußnoten

  1. E. A. R. Brown, »The Tyranny of a Construct: Feudalism and Historians of Medieval Europe«, The American Historical Review 79 (1974): 1063–88.
  2. C. Verlinden, »Ist mittelalterliche Sklaverei ein bedeutsamer demographischer Faktor gewesen?«, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66 (1979), 153–73.
  3. S. Bongi, »Le schiave orientali in Italia«, Nuova Antologia 2 (1866): 215–46; S. A. Epstein, Speaking of Slavery: Color, Ethnicity, and Human Bondage in Italy (Ithaca, NY, 2001), 6.
  4. S. McKee, »The Familiarity of Slaves in Medieval and Early Modern Households«, in C. Schmid, S. Hanß und J. Schiel (Hgg.), Neue Perspektiven auf mediterrane Sklaverei (500–1800) (Zürich, 2014), 501–14.
  5. C. Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale (2 Bd., Gent, 1955–1977); R. Amitai, und C. Cluse (Hgg.), Slavery and the Slave Trade in the Eastern Mediterranean (c. 1000–1500 CE) (Turnhout, 2017).
  6. Y. Rotman, Byzantine Slavery and the Mediterranean World, übers. J. M. Todd (Cambridge, MA, 2009), 6–24.
  7. J. Fynn-Paul, »Empire, Monotheism and Slavery in the Greater Mediterranean Region from Antiquity to the Early Modern Era«, Past and Present 205 (2009): 3–40.
  8. A. C. Grant, Greek Captives and Mediterranean Slavery, 1260–1460 (Edinburgh, 2024).
  9. R. Morris, »Emancipation in Byzantium: Roman Law in a Medieval Society«, in M. L. Bush (Hg.), Serfdom and Slavery: Studies in Legal Bondage (London und New York, 1996), 130–43.
  10. H. Barker, That Most Precious Merchandise: The Mediterranean Trade in Black Sea Slaves, 1260–1500 (Philadelphia, PA, 2019).
  11. R. Blackburn, »The Old World Background to European Colonial Slavery«, The William and Mary Quarterly 54 (1997), 65–102.
  12. J. Banaji, »Islam, the Mediterranean and the Rise of Capitalism«, Historical Materialism 15 (2007), 47–74.
  13. C. Verlinden, »From the Mediterranean to the Atlantic. Aspects of an Economic Shift (12th–18th Century)«, The Journal of European Economic History 1 (1972), 625–46.
  14. C. Verlinden, »The Transfer of Colonial Techniques from the Mediterranean to the Atlantic«, in J. Muldoon und F. Fernández-Armesto (Hgg.), The Medieval Frontiers of Latin Christendom: Expansion, Contraction, Continuity (Farnham und Burlington, VT, 2008), 191–220.

Dr. Alasdair Grant

Alasdair Grant ist ein Historiker des mittelalterlichen Mittelmeerraums und Kaukasus, mit besonderem Fokus auf sozioökonomische Themen, vor allem Sklaverei und Rebellion. Er studierte Mittelalterliche Geschichte, Latein und Byzantinistik an den Universitäten St Andrews, Oxford und Edinburgh, sowie Mainz. Er war danach Postdoc an der Universität Edinburgh und ist jetzt als wissenschaftlicher Miterbeiter in der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Soziale Kontexte von Rebellion in der frühislamischen Zeit“ an der Universität Hamburg tätig. Sein erstes Buch, Greek Captives and Mediterranean Slavery, 1260–1460, eine umfangreich überarbeitete Version seiner Dissertation, wurde 2024 von Edinburgh University Press veröffentlicht. Außerdem hat er Aufsätze zu diversen Themen in Sammelbänden und den Zeitschriften The English Historical Review, Traditio und Byzantine and Modern Greek Studies publiziert.