Vom Hin und Her der Geschichte: Überlegungen zu Rassismus und Freiheit

In Rassismus manifestiert sich Unfreiheit. Die Auseinandersetzung mit dieser Unfreiheit lenkt den Blick auf ein Freiheitsverständnis, das sich von traditionellen Auffassungen des Begriffs abgrenzt und gleichzeitig dringend benötigte Nachsicht fördert.
Gastbeitrag von Daniel-Thabani Ncube (Bucerius Law School), 27. Dezember 2024

School's Out (Allan Crite, 1936)
School's Out (Allan Crite, 1936)

Manchmal offenbart der Blick auf bestimmte Jahreszahlen erhellende Einsichten in das Wesen eines Landes. Für die USA ist 2025 eine solche Jahreszahl. Vor 160 Jahren endete dort die zweihundertjährige Geschichte der Sklaverei aus Afrika verschleppter schwarzer Menschen. Die Freude währte kurz: Anstelle der Sklaverei trat alsbald eine neue Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in Form einer rigorosen, teilweise staatlich forcierten Trennung von Schwarz und Weiß (segregation).[1] Vor 70 Jahren erging mit Brown v. Board of Education jene Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA, die das Ende der segregation (zunächst im Schulwesen, sodann auch sonst) einläuten sollte. Auch dann währte die Freude kurz: Spätestens seit den der 1980er-Jahren zeichnet sich eine schleichende Rückkehr zur Trennung im Schulwesen ab. Die US-Gesellschaft unterliegt demnach einer Pendel-Bewegung, sie schwankt zwischen Phasen des Scheiterns und des Gelingens im Versuch, den ihr eigenen Rassismus zu überwinden. Auf Phasen der Unfreiheit folgen Phasen der Freiheit – und umgekehrt.

In welche Richtung das Pendel gegenwärtig schwingt, lässt sich erahnen. Die diskriminierenden Ansichten des ab 2025 amtierenden US-Präsidenten zu gesellschaftlichen Minderheiten aller Art sind kein Geheimnis. Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass Entwicklungen jenseits des Atlantiks regelmäßig diesseits des Atlantiks Wirkung zeigen, ob als nachahmende Übernahme oder anprangernde Abgrenzung. Die dort aufziehende Unfreiheit spornt damit zur Reflexion der dort abklingenden Freiheit an, weil eine ähnliche Entwicklung hier nicht auszuschließen ist. Diese Reflexion findet eine passende Begleiterin in der „Critical Race Theory“ (CRT), einer ab den späten 1970er-Jahren in den USA entstandenen Denkschule, die sich der Erforschung und Überwindung von Rassismus verschrieben hat.[2] Warum passend? Weil die CRT die oben beschriebene Pendel-Bewegung seit ihrer Entstehung begleitet und daher wichtige Erkenntnisse darüber liefert, wie der Umgang mit Rassismus sowohl zu Erfolgen als auch zu Misserfolgen auf dem Weg zur Freiheit führen kann. Diese Überlegungen können wiederum unsere anstehende hiesige Reflexion von Rassismus und Freiheit anleiten.

Critical Race Theory, Rassismus und Unfreiheit

Den Überlegungen der CRT zur Freiheit gehen Überlegungen zur Unfreiheit voraus, näher: der besonderen Unfreiheit des Phänomens „Rassismus“. Dessen Kern liegt in der sozial geteilten Vorstellung „natürlicher“ Unterschiede zwischen Menschengruppen, die wiederum Überlegenheits- und Unterlegenheitsdenken und damit einhergehende Ungleichbehandlungen rechtfertigen sollen. Diese soziale Vorstellung begründet aus Sicht der CRT eine „doppelte Unfreiheit“ der von Rassismus Betroffenen. Sie übernehmen das von Überlegenheits- und Unterlegenheitsdenken geprägte soziale Denken als eigenes und gelangen so zur Überzeugung von der eigenen Geringwertigkeit, die zur persönlichen Wahrheit gerinnt.[3] Aufgrund dieser „Wahrheit“ begreifen die Betroffenen sich dann als perspektivlos, leben nicht, sondern verharren bloß, sind „in sich“ unfrei. Zur inneren Unfreiheit tritt eine äußere hinzu: Aufgrund der von unterschwelligem rassistischem Denken geprägten ungleichen Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft (etwa Bildung, Wohnungen, Arbeitsplätze), haben Betroffene tatsächlich weniger Perspektiven als die (von Rassismus nicht betroffene) Mehrheit. Ein Anliegen der CRT ist es, diese doppelte Unfreiheit zu durchbrechen, also Freiheit zu schaffen.

Freiheit „von“: die Grenzen individueller Freiheit

Um der besonderen Unfreiheit des Rassismus angemessen entgegentreten zu können, entwickelt die CRT ein besonderes Freiheitsverständnis. Die US-Geschichte zeigt, warum ein „klassisches“ Freiheitsverständnis hier nicht reicht. 1955 entschied der Oberste Gerichtshof, dass die getrennte Einrichtung von weißen und (deutlich schlechter ausgestatteten) schwarzen Schulen verfassungswidrig, also verboten sei. Der Entscheidung liegt ein individuelles Freiheitverständnis zugrunde, das Freiheit als individuelle Freiheit von etwas begreift: frei ist, wer frei von rassistisch geprägter Diskriminierung ist; zur Befreiung von dieser Diskriminierung genüge ein Verbot der Diskriminierung.

Die Grenzen dieses Freiheitsverständnisses wurden schnell klar. 1965 waren die Schulen trotz Verbots immer noch getrennt, die schwarzen Schüler:innen zwar „frei“, aber immer noch in derselben Situation wie ihre unfreien Vorgänger:innen ein Jahrzehnt zuvor. Die ab 1955 gewährte Freiheit reichte also nicht, weil sie nicht weit genug reichte. Ihr „Fehler“ liegt darin, dass sie ausschließlich am Individuum ausgerichtet ist und sich in einer isolierten Befassung mit dessen Freisein „von“ erschöpft. Maßnahmen auf ihrer Grundlage erklären die von Rassismus Betroffenen zu befreiten Menschen, machen sie aber nicht zu freien Menschen.

Rekonstruktion von zwei segregierten Klassenzimmern (Birmingham Civil Rights Institute, Alabama)
Rekonstruktion von zwei segregierten Klassenzimmern (Birmingham Civil Rights Institute, Alabama)

Freiheit „durch“: die Möglichkeiten sozialer Freiheit

Es muss nach alledem also ein anderes Freiheitsverständnis her. Hier kommt die CRT ins Spiel. Ihre Analyse der besonderen Unfreiheit des Rassismus zeigt, dass Individuum und Gesellschaft sich nicht eindeutig trennen lassen. Der gesellschaftliche Zusammenhang durchdringt und formt das Individuum, zugleich setzt sich die Gesellschaft aus allen Individuen zusammen. Eine rein „individuelle“ Freiheit ist damit undenkbar, Freiheit ist immer auch ein gesellschaftlicher Sachverhalt.[4] Die Freiheit Einzelner verwirklicht sich demnach zwar auch in Abgrenzung von der Gesellschaft (ich bin frei, wenn ich von gesellschaftlichen Zwängen frei bin), daneben aber durch die Gesellschaft – ich bin frei, wenn und weil die Gesellschaft mir Freiheit ermöglicht.

Wie eine Umsetzung dieses sozialen Freiheitsverständnisses aussehen kann, zeigt ein weiterer Blick in die US-Geschichte. Im Frust über den Stillstand im Nachgang der eigenen Entscheidung ordnete der Oberste Gerichtshof 1971 in Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education an, dass der Staat schwarze Schüler:innen (darunter die spätere US-Vizepräsidentin Kamala Harris) täglich zum Unterricht an weiße Schulen zu bringen habe, da nur so eine Durchbrechung der Trennung im Schulwesen herbeizuführen sei. Dieses desegregation busing genannte Programm währte nur wenige Jahre und kollabierte schließlich vor allem unter weißem Widerstand und der 1974 ergangenen, unter dem Eindruck dieses Widerstands stehenden Kehrtwende des Obersten Gerichtshofs in Milliken v. Bradley; mit diesem Urteil entlastete das Gericht staatliche Schulbehörden von der Pflicht, gegen die segregation anzugehen. Das busing zeigt aber die Möglichkeiten eines an einem sozialen Freiheitsverständnis orientierten Kampfes gegen die doppelte Unfreiheit des Rassismus. Wenn Freiheit ein sozialer Sachverhalt ist, kann sie nur „durch“, d.h. unter Inanspruchnahme der Gesellschaft verwirklicht werden. Der im busing betriebener gesellschaftlicher Aufwand vermittelte schwarzen Kindern ein Gefühl ihres Wertes und trat damit ihrer inneren Unfreiheit entgegen. Dies ermöglichte zugleich adäquate Bildung und schuf zudem bislang ungekannte Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven, begegnete also auch der äußeren Unfreiheit. Für manche Betroffene begann damit der Weg in die höchsten Ämter des Staates. Dort angekommen wirken sie als Gegenbeispiele und Vorbilder in einer Gesellschaft mit überlieferten Vorstellungen von der „natürlichen“ Andersartigkeit und der daraus folgenden Geringwertigkeit schwarzer Menschen entgegen.

Mr. Prejudice (Horace Pippin, 1943)
Mr. Prejudice (Horace Pippin, 1943)

Freiheit ist kein Nullsummenspiel

Obgleich erfolgreich ist das busing nach kurzer Zeit krachend gescheitert. Warum? Die Beantwortung dieser Frage führt zu Erkenntnissen, die für den zukünftigen sozialen Kontext wertvoll sind. Im Kern lässt sich das Scheitern des busing als Ergebnis einer Kollision von Freiheitsverständnissen begreifen. Der weiße Widerstand gegenüber dem Programm speiste sich (auch) aus dem Gefühl, dass das Programm ungerecht sei, da es schwarze Menschen gegenüber weißen bevorzuge. Schwarze Freiheit werde hiernach durch weiße Unfreiheit „bezahlt“. Diese Überlegung ergibt sich aus dem individuellen Freiheitsverständnis: Wird Freiheit als Freiheit „von“ begriffen, ist die Bemühung um Freiheit immer ein Nullsummenspiel. Meine Freiheit von Zwängen geht hiernach zulasten der Freiheit anderer, denen diese Zwänge gleichgültig oder gar gelegen sind. Diese Erwägungen setzten sich zur Mitte der 1970er-Jahre schließlich durch, das busing wurde als freiheitsstiftende Bemühung, die (vermeintlich) zugleich freiheitseinschränkend wirkt, verworfen. Dabei wurde verkannt, dass die mit dem busing kurzzeitig verwirklichte soziale Freiheit der Vorstellung von Freiheit als Nullsummenspiel gerade widerspricht. Die zugunsten rassistisch Betroffener verwirklichte soziale Freiheit ist mittelbar eine zugunsten der Gesellschaft insgesamt verwirklichte Freiheit. Die Freiheit sämtlicher einzelner ist durch die Freiheit aller bedingt, folglich ist die Freiheit aller erst dann gegeben, wenn auch wirklich alle frei sind.

Diese Kerneinsicht kann – muss – auch in Deutschland gelten. Wie zur Entstehungszeit der CRT in den USA schwächelt auch hierzulande die Wirtschaft, Niedergangsängste greifen um sich. In absehbarer Zeit stehen Verteilungskämpfe um ideelle und materielle Ressourcen an, und die Geschichte des Rassismus lehrt, dass dieser sich gerade in solchen Kämpfen als Fundament einer gedachten Deutungshoheit andient. Dem aufziehenden Rassismus mitsamt seiner doppelten Unfreiheit zu begegnen, wird schwierig. Die obigen Überlegungen können diesen Entwicklungen immerhin etwas entgegensetzen: Bemühungen gegen Rassismus zielen gerade nicht darauf ab, Vorteile einiger zulasten anderer herbeizuführen, sondern auf die Herbeiführung der Freiheit mancher unter Zuhilfenahme der Freiheit anderer im Wissen um die damit herbeigeführte Freiheit aller. Indem sie Nachsicht ermöglicht, kann diese Einsicht die Kraft haben, den Lauf der Geschichte entscheidend zu beeinflussen.

Fußnoten

  1. Bezeichnet die gesetzlich angeordnete und sich nach der Hautfarbe richtende Trennung von Gruppen im öffentlichen Raum, etwa dergestalt, dass es getrennte Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Badeeinrichtungen, Wohnviertel, sogar Friedhöfe u.v.m. gab. Die für schwarze Menschen bestimmte Einrichtungen waren dabei durchweg minderwertiger.
  2. Dazu im Überblick Ncube, JuS 2024, 202, vertieft Ncube, Critical Race Theory (erscheint 2025).
  3. Delgado, Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review 17 (1982), 133.
  4. Zu den Hintergründen dieses Freiheitsverständnisses: Jaeggi/Celikates, Sozialphilosophie (2017), 52 ff.

Daniel-Thabani Ncube

Gastautor

Daniel-Thabani Ncube ist in Harare, Zimbabwe und Heilbronn, Baden-Württemberg aufgewachsen. Nach einem Bachelorstudium der Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und der Karlsuniversität Prag hat er Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin studiert. Seinem Interesse an Grundfragen des sozialen Zusammenhalts und dem Wesen und Wirken des Rechts ist er mit einer anschließenden Promotion an der Bucerius Law School nachgegangen, die in diesem Rahmen entstandene und unter anderem durch die Akademie der Wissenschaften in Hamburg ausgezeichnete Dissertation zur „Critical Race Theory“ erscheint im Laufe des Jahres 2025. Neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bucerius Law School absolviert Daniel-Thabani Ncube gegenwärtig sein Rechtsreferendariat am Hanseatischen Oberlandesgericht mit Stationen beim Rechtsberater des Bundespräsidenten sowie am Bundessozialgericht.