Die Gedanken sind frei! Oder? Freiheit und Social Engineering
Mensch und Gesellschaft als Maschine
Fast jeder kennt das Volkslied ‚Die Gedanken sind frei‘! Die heutige Version wurde 1842 durch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschaffen, aber es gibt ähnliche Texte bereits im 13. Jahrhundert und die Vorstellung selbst findet sich bereits in der Antike. Das Lied wurde in Zeiten politischer Unterdrückung immer wieder programmatisch als Forderung nach politischer Unabhängigkeit gespielt und gesungen, so zum Beispiel während der Berlin-Blockade 1949 oder während der Friedlichen Revolution in der DDR 1989. Die Appellfunktion des Textes ist also ungebrochen, aber stimmt denn die Behauptung, dass die Gedanken frei sind?
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts meldet die Literatur grundsätzliche Zweifel an, indem sie in fiktionalen Welten darstellt, wie das Denken einer Gesellschaft im Sinne interessengeleiteter Politik gesteuert werden kann. Solche Strategien werden in den Sozialwissenschaften heute unter dem Anglizismus Social Engineering (Sozialtechnik) zusammengefasst. Im 20. Jahrhundert behandeln neben vielen anderen die Romane Nineteen Eighty-Four (Neunzehnhundertvierundachtzig) von George Orwell (1949) und Babel Tower (Der Turm zu Babel) von der Bestsellerautorin A.S. Byatt (1996) Social Engineering als zentrales Thema.
Aber was genau ist Social Engineering? Wie der Name bereits sagt, werden die Gesellschaft und die einzelnen Menschen beim Social Engineering wie eine Maschine gesehen, die nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip funktioniert und deren Reaktionen daher auf der Basis von empirischen oder statistischen Untersuchungen vorausberechnet werden können. Bei diesen Maschinen muss man bestimmte ‚Knöpfe drücken‘, damit sie so funktionieren, wie eine gesellschaftliche, politische oder religiöse Elite es für richtig hält. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts sah Ferdinand Tönnies, der als Begründer der Soziologie gilt, Social Engineering als legitime Möglichkeit der Politik, der zunehmenden Aufsplitterung der modernen Gesellschaft infolge von Urbanisierung und Industrialisierung entgegenzuwirken. Die Gefahren einer solchen Manipulation der Gesellschaft ‚von oben‘ wurden allerdings in Nazi-Deutschland überdeutlich. Außerdem zerstörte die Shoa auch das aufklärerische Vertrauen darin, dass Rationalität oder das Denken nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip per se Objektivität, (politische) Emanzipation und Freiheit garantieren könnten, denn die Massenermordung von Juden und anderen stigmatisierten Gruppen war perfekt gemäß den rationalen Strategien industrieller Abläufe organisiert.
Im Folgenden werde ich am Beispiel der Romane Nineteen Eighty-Four und Babel Tower exemplarisch nachzeichnen, wie Social Engineering funktioniert. Als Ausgangspunkt dienen die Thesen des Historikers Thomas Etzemüller. Er nennt als grundlegendes Charakteristikum von Social Engineering: Social Engineers befehlen nicht, sondern beeinflussen die Bevölkerung subtil auf verschiedene Weise in ihrem Sinne. Zu ihren wichtigsten Strategien zählen erstens die Beschreibung der Gegenwart als Krisensituation, die nur durch politische Intervention gelöst werden kann, und zweitens eine Sprachpolitik als wesentliches Instrument, um das Denken der Bevölkerung zu lenken.
Die Gesellschaft in der Krise
In Nineteen Eighty-Four arbeitet der Protagonist Winston im Ministry of Truth, dem Wahrheitsministerium, in London, Hauptstadt von Airstrip One, der drittgrößten Provinz von Oceania. Seine Aufgabe besteht darin, täglich über Kriege mit ständig wechselnden, vorgeblichen Feinden und Verbündeten an den Grenzen von Oceania zu schreiben, um einerseits das Gefühl einer ernsthaften Bedrohung von außen aufrecht zu erhalten und um andererseits die Überlegenheit von Oceania über alle feindlichen Mächte zu suggerieren. Außerdem werden die Bewohner gezielt mit Verschwörungstheorien über einen gewissen Emmanuel Goldstein verunsichert, der mit seiner Brotherhood die Gesellschaft unterwandern und zerstören will. Beide Strategien dienen dazu, die extreme Überwachungskontrolle der Bevölkerung im Inneren zu rechtfertigen
Der Roman Babel Tower beschreibt auf zwei Ebenen Menschen, die ihre gesellschaftliche Gegenwart als Krisensituation erleben: Zum einen spielt der Text in den 1960er Jahren und erwähnt explizit krisenhafte Ereignisse wie den Bau der Berliner Mauer 1961, die Kubakrise 1962, die Ermordung von J. F. Kennedy 1963, die neue Musik der Beatles, Mods und Rocker, die sexuelle Revolution und den Obszönitätsprozess gegen D.H. Lawrences Roman Lady Chatterley’s Lover 1960. Das Szenario einer gesellschaftlichen Krisensituation wird zum anderen stark zugespitzt in einem Buch mit dem Titel Babbletower: A Tale for the Children of Our Time behandelt, das die Lektorin Frederica ihrem Verlag zur Veröffentlichung vorschlägt und aus dem der Roman lange Passagen zitiert. In diesem Binnenroman flieht eine kleine Gruppe aus einer totalitären und kriegsgeplagten Gesellschaft in ein verborgenes Tal, um unter der Leitung des charismatischen Curver eine völlig freie Gesellschaft ohne Reglementierungen oder Tabus aufzubauen. Allerdings hat sich ihnen mit der Zustimmung von Curver Colonel Grim, einer der grausamsten Anführer des gefürchteten Schreckensregimes, angeschlossen, der wenig glaubwürdig behauptet, er wolle nun ein neues Leben beginnen. Seine Gegenwart trägt das Bewusstsein der ständigen Bedrohung aus der alten Gesellschaft in die Mitte der neuen Niederlassung.
Sprache als Politik
George Orwell, der Autor von Nineteen Eighty-Four, erklärte 1946 zum Verhältnis von Sprache und Politik: „When the general atmosphere is bad, language must suffer. I should expect to find […] that the German, Russian and Italian languages have all deteriorated in the last ten or fifteen years, as a result of dictatorship. But if thought corrupts language, language can also corrupt thought.” Auch Etzemüller sieht einen engen Zusammenhang von Politik und Sprache, denn eine zentrale Manipulationsstrategie des Social Engineering besteht in der Reglementierung von Sprache. Und tatsächlich stellen beide Romane den manipulativen Umgang mit Sprache ins Zentrum ihrer Erzählung.
In Nineteen Eighty-Four wird den Menschen nicht nur durch sprachlich vermittelte Fake News in allen Medien bewusst eine falsche Realität vorgespiegelt, sondern auch der individuelle Gebrauch von Sprache ist streng kontrolliert. Der Charakter Syme arbeitet an der 11. und definitiven Enzyklopädie der Newspeak, einer künstlichen Sprache mit radikal reduziertem Wortschatz, um so unerwünschte Emotionen, Gedanken oder Konzepte unmöglich zu machen, indem die entsprechenden Wörter zunächst verboten und schließlich vergessen werden. Denn, wie Syme dem Protagonisten Winston begeistert erläutert „[e]very year fewer and fewer words, and the range of consciousness always a little smaller. […] The whole climate of thought will be different. In fact, there will be no thought, as we understand it now. Orthodoxy means not thinking—not needing to think. Orthodoxy is unconsciousness.“ Die erlaubten Wörter haben die Aufgabe, die entsetzliche Wirklichkeit im Sinne der herrschenden Ideologie umzudeuten. Das zeigt sich eindrücklich an der Bezeichnung der vier wichtigsten Ministerien von Oceania: „The Ministry of Truth, which concerned itself with news, entertainment, education, and the fine arts. The Ministry of Peace, which concerned itself with war. The Ministry of Love, which maintained law and order. And the Ministry of Plenty, which was responsible for economic affairs.“ Im Ministry of Truth, dem Wahrheitsministerium, wo Winston arbeitet, werden Fake News über fiktionale Angriffe feindlicher Mächte gemäß den Vorgaben aus dem Ministry of Peace, dem Friedensministerium, produziert, und im Ministry of Love, dem Liebesministerium, werden Regimegegner gefangen gehalten, gefoltert und umgebracht. Die Abkürzungen dieser Namen „in Newspeak: Minitrue, Minipax, Miniluv, and Miniplenty“ kommen ironischerweise der Wahrheit näher als die offiziellen Bezeichnungen und zeigen, dass die Vieldeutigkeit der Sprache immer wieder Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet, die die Absichten der Sprecher konterkarieren und sich ihrer Kontrolle entziehen.
Bei dem Roman Babel Tower weist der Titel bereits auf die Zentralität der Sprache als Machtinstrument hin, denn er bezieht sich auf den alttestamentarischen Mythos vom Turmbau zu Babel (Hebräisch: מִגְדַּל בָּבֶל, Mīgdal Bāḇel; vgl. Genesis 11:1–9). In dieser Geschichte vereitelt der Gott Yahweh den Plan der Menschen, einen Turm bis in den Himmel zu bauen, indem er sie, die bis dahin alle die gleiche Sprache sprachen, plötzlich unterschiedliche Sprachen sprechen lässt. So können sie sich gegenseitig nicht mehr verstehen und ihr vermessenes Projekt scheitert kläglich. Diese Bedeutung der Sprache als wesentliches Machtinstrument, um menschliches Denken und Planen zu beeinflussen, zeigt sich auf säkularer Ebene in Babel Tower auf verschiedenen Ebenen. So finden im Bildungsministerium erbitterte und ergebnislose Diskussionen darüber statt, ob die Regulierung der Sprache durch Grammatikregeln die Kreativität der zu Unterrichtenden knebelt, oder ob diese Regeln Kommunikation erst ermöglichen. Der Alltag auf dem Landsitz von Fredericas adligem Ehemann ist geprägt von standesgemäßen Sprachverboten und -geboten. Der Publikationsverlag des (Binnen-)Romans Babbletower wird der Obszönität angeklagt, da der Text perverse sexuelle Erregung produzieren wolle. Und Frederica kämpft mit dem reduktiven Zwangscharakter institutionalisierter sprachlicher Reglementierungen, als sie vor dem Scheidungsrichter feststellen muss, dass die juristischen Kategorien, die für die Beschreibung ihrer zerrütteten Ehe zur Verfügung stehen, ihre erlebte Wirklichkeit nur gänzlich verzerrt wiedergeben können.
In der Binnenerzählung Babbletower dient Sprache als wesentliches Instrument sozialer Manipulation. Der Anführer Curver entwirft in stundenlangen flammenden Predigten die Utopie einer vollständig repressionsfreien Gesellschaft ohne Regeln, Gesetze oder Tabus und bezieht sich dabei auf die französischen Utopisten Charles Fourier and Marquis de Sade. Allerdings verkehrt sich die von Curver als sexuelle Befreiung angepriesene Möglichkeit der sexuellen Freizügigkeit sehr schnell in die Aufforderung und schließlich den Zwang zur Offenlegung intimster Wünsche, Verletzungen und Begehrlichkeiten auf einer öffentlichen Bühne und mündet schließlich in dem Verbot aller längerfristigen heterosexuellen Beziehungen, da diese per se als Teil repressiver Strukturen gebrandmarkt und mit drakonischen Strafen geahndet werden.
Und wo bleibt die individuelle Freiheit?
Gedanken sind also offenbar keineswegs frei, wie das Volkslied behauptet, sondern werden insbesondere durch die Sprache einer Kultur und die darin vermittelte Weltsicht fundamental geprägt oder auch bewusst strategisch manipuliert. Ist das Individuum dieser Sprachabhängigkeit also völlig ausgeliefert?
In Orwells Nineteen Eighty-Four gibt es keinen Ausweg: Der Protagonist Winston wird durch körperliche und psychische Folter so vollkommen gebrochen, dass er am Ende seinen Folterer zu lieben glaubt, andere Kritiker des Regimes werden gleich umgebracht und in der Binnengeschichte Babbletower sehen mehrere Charaktere den einzigen Ausweg im Selbstmord. In Babel Tower sind es zwei Bedingungen, die es der Protagonistin Frederica ermöglichen, der manipulativen Macht sprachlicher Strategien weitgehend zu entkommen. Zum einen weiß sie, wie Sprache funktioniert, denn sie hat Literaturwissenschaft studiert, gibt Abendkurse für Erwachsene, in denen sie ihr Wissen weitergibt, und arbeitet in einem Verlag als Lektorin. Zum zweiten lebt sie – im Unterschied zu Winston in Nineteen Eighty-Four und zu den unglücklichen Flüchtlingen in Babbletower – in einer Demokratie und obwohl sie mit Ungerechtigkeiten aufgrund von Geschlecht und Klassenzugehörigkeit, mit institutionalisierten Sprachnormen und finanziellen Problemen als alleinerziehende Mutter zu kämpfen hat, erlaubt es ihre, wenn auch prekäre ökonomische Unabhängigkeit, eigene Entscheidungen durchzusetzen, denn sie hat Wahlmöglichkeiten. Als ihr reicher und adliger Ex-Ehemann den gemeinsamen Sohn auf ein standesgemäßes Eliteinternat schicken will, setzt sie durch, dass er stattdessen in einer progressiven Schule in London erzogen wird, wo er Kinder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen und Kulturen kennenlernen kann.
Utopian vs. Piecemeal Engineering
Mit dem Handlungsverlauf in der fiktionalen Gegenwart und der Gegenüberstellung mit der totalitären Wirklichkeit in der Binnenerzählung Babbletower spricht sich der Roman Babel Tower eindeutig im Sinne des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper gegen die eventuell sogar gewaltsame Durchsetzung eines utopischen Entwurfes aus, der die ganze Gesellschaft nach einem bestimmten Modell umformen will, und optiert für ein Piecemeal Engineering, das heißt für nur punktuelle Interventionen von Seiten der Politik in die Zivilgesellschaft. Popper beschreibt den Unterschied folgendermaßen: „[T]he Utopian attempt to realize an ideal state, using a blueprint of society as a whole, is one which demands a strong centralized rule of a few, and which therefore is likely to lead to a dictatorship.“ Piecemeal Engineering dagegen setzt seine Ziele nicht durch autoritäre Strategien um, sondern eröffnet „a possibility of reaching a reasonable compromise and […] of achieving the improvement by democratic methods.“ Nineteen Eighty-Four und Babbletower kritisieren grausame Experimente des Utopian Engineering auf satirische Weise. Babel Tower dagegen zeigt, dass der bewusste Umgang mit Sprache und die Kenntnis ihrer kommunikativen, aber auch ihrer manipulativen Möglichkeiten, eine kritische Auseinandersetzung mit den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und die aktive Nutzung individueller Wahlmöglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaftsordnung nötig sind, um der Resignation in einer krisengeschüttelten Welt vorzubeugen und die Lösung der anstehenden Probleme nicht allein der Intervention politischer Institutionen zu überlassen.
Und dennoch gibt es keine Garantie, dass das prekäre Gleichgewicht zwischen individueller Selbstbestimmung und den Strategien des Social Engineering von Seiten des Staates im Lot bleibt. Entsprechend endet Babel Tower auf den letzten zwei Seiten mit drei Schlusssequenzen, die allesamt in eine ungewisse Zukunft weisen: Frederica lässt sich – trotz vieler Zweifel aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen – auf eine neue Beziehung ein; der Autor von Babbletower muss lernen, trotz der medialen Aufmerksamkeit in ein normales Leben zurückzufinden, nachdem der Verlag vor Gericht sein Buch vom Vorwurf der Obszönität befreien konnte; und der von Curver implementierte chauvinistische und perverse Albtraum einer ‚neuen Gesellschaft‘ in Babbletower: A Tale for the Children of Our Time endet, als der Kannibalenstamm der ‚Krebs‘ die Gemeinschaft überfällt und verspeist, wohl, weil ein Verräter den geheimen Aufenthaltsort preisgegeben hat. Nur drei alte Männer – unter ihnen Colonel Grim -, überleben: „And they went on walking, and if the Krebs did not catch up with them, they are walking still.“
Literatur zum Weiterlesen
- Byatt, A.S. Babel Tower. Vintage Books: New York. 1996.
- Etzemüller, Thomas. “Social Engineering”. Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung. Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 04.10.2017. http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.1112.v2
- Orwell, George. Nineteen Eighty-Four [1949]. Penguin Random House. UK. 2021.
- Orwell, George. “Politics and the English Language”. New Republic. (17. Juni 1946) Vol. 114, 24. S. 872–874.
- Popper, Karl. The Open Society and Its Enemies. 2 vls. [1945] 2005. Einbändige Ausgabe. Routledge Classics: London and New York. Volume 1: The Spell of Plato. Bes. Kap. 9: “Aestheticism, Perfectionism, Utopianism”.
- Tönnies, Ferdinand. “The Present Problems of Social Structure”. American Journal of Sociology. 1905, 10:5, 569-588.