Die Frage nach der Willensfreiheit: Emergenz, ein Gefängnis auf dem Campus Stanfords, Nudges und nur noch ein Video!

Freier Wille steht im Spannungsfeld von sozialen Einflüssen, Erziehung, der Umwelt und letztlich des Urknalls. Selbst wenn unser Verhalten vorherbestimmt erscheint, fühlen wir uns frei. Zu Recht?
Essay von Deniz Sarikaya, 30. Dezember 2024

Können wir mehr wollen, als wozu wir erzogen wurden?
Können wir mehr wollen, als wozu wir erzogen wurden?

Haben wir einen freien Willen? Natürlich! Ich hätte mich dagegen entscheiden können, diesen Text zu verfassen, und Sie können jederzeit dieses Buch beiseitelegen – oder sich frei dazu entscheiden, ein wenig zu lesen und weiter über Willensfreiheit nachzudenken. Dann wiederum sind Sie nicht frei, das Buch in der Luft schweben zu lassen – daran hindern Sie die Naturgesetze. Sie können mir gerne einen Kaffee ausgeben, wenn wir uns einmal treffen und Ihnen dieses Essay gefallen hat. Eine Uhr aus reinem Gold können Sie mir – in den allermeisten Fällen – aber nicht einfach so schenken. Daran hindert Sie Ihr Bankkonto, selbst wenn Sie es wollten. Mir das Buch an den Kopf werfen, dürfen Sie nicht, daran hindert Sie unsere Gesellschaft beziehungsweise Artikel 2 des Grundgesetzes (oder straft Sie zumindest, wenn Sie es trotzdem tun). Anders gesagt, daran hindert Sie meine Freiheit.

Schicksalhaftes Chaos oder Willensfreiheit?
Schicksalhaftes Chaos oder Willensfreiheit?

Zufall oder Wille

Aber das sind ja alles Freiheiten, die sich auf echte Handlungen beziehen. Wollen können wir doch erst einmal alles. Aber ist das wirklich so? Ihre Erziehung spielt doch sicher eine Rolle. Haben Sie nicht von früh an gelernt, auf gewisse Reize in bestimmter Weise zu reagieren? Können wir wirklich alle Automatismen unseres Denkens hinterfragen? Wir können nicht anders, als mitzulachen, wenn wir jemanden, den wir mögen, lachen sehen. Oder wir werden traurig oder wütend, wenn wir Ungerechtigkeiten begegnen. Sind wir also durch unsere Umgebung determiniert, unser Verhalten also vorherbestimmt? Fühlen sich unsere Entscheidungen nur frei an, obwohl wir eigentlich im Autopilot-Modus leben? Noch schlimmer: Sind die Neuronen in unserem Kopf nicht ohnehin gänzlich durch physikalische Eigenschaften bestimmt? Das Elektron, das in Ihrem Kopf der Anfang einer komplexen Kette war, die Sie dazu bringt, jetzt hier zu lesen, schert sich nicht um Ihren Willen. Es ist allein durch seinen Zustand und die Naturgesetze bestimmt. Hmm … vielleicht hilft ja die Quantenphysik. Denn es gibt echten Zufall! Wir erinnern uns an den Doppelspalt im Physikunterricht. Aber auch da ging es nicht um Ihren Willen. Dann entscheidet eben der Zufall – aber nicht Sie!

Vielleicht müssen Sie das Buch jetzt einen Moment zur Seite legen. Es sind viele Stränge, über die wir nachdenken müssen (oder zumindest sollten), wenn wir Willensfreiheit verstehen wollen. Wir wollen zunächst gemeinsam schauen, wie sich Willensfreiheit zur Determiniertheit[1] durch physikalische Gegebenheiten (oder dem reduktionistischen Weltbild[2]) verhält. Danach betrachten wir Willensfreiheit und die Frage nach der Determiniertheit durch die Gesellschaft und besuchen die Debatte um ein problematisches psychologisches Experiment im kalifornischen Stanford. Was sagt uns dies über das Phänomen des Nudgings und die Frage nach der Manipulation durch Marketing?

Die Natur macht nichts vergeblich. (Aristoteles)
Die Natur macht nichts vergeblich. (Aristoteles)

Letztlich Physik

Also, wie ist das mit der Spannung zwischen Willensfreiheit und Physik? Wir Menschen sind soziale Wesen. Damit ist unser Verhalten eine Frage der Soziologie oder Ökonomie. Aber – so der Reduktionist – diese Fächer sind im Grunde Psychologie. Und diese ist nichts anderes als angewandte Neurologie, die wiederum Biologie ist und letztlich eigentlich Chemie. In der Chemie geht es um Moleküle, die bestehen aus Atomen, und letztlich geht es damit also um die Physik. Jetzt bitten Sie einmal eine Physikerin oder einen Physiker Ihnen auszurechnen, was eine Steigerung des Leitzinses mit den Preisen für Tomaten macht. Physik hilft hier nicht weiter. Aber liegt die fehlende physikalische Erklärung nur daran, dass dies sozusagen mit zu vielen Teilchen zu tun hat oder gibt es ein grundsätzliches Problem damit, so ein Phänomen physikalisch erklären zu wollen? Die Physik wird nämlich auch Probleme damit haben das Wetter (nicht das Klima, siehe hierzu auch den Essay von Mojib Latif in diesem Band) über viele Tage hinweg vorauszusagen. Die Frage, die sich da stellt, ist die, ob diese Phänomene emergent sind. Also die Frage, ob das Ganze vielleicht mehr ist als die Summe ihrer Teile. Ein Beispiel: Wasser ist nass. Ein Wassermolekül (H2O) jedoch nicht; es macht nicht einmal so wirklich Sinn zu fragen, ob ein einzelnes Molekül nass ist. Das Ganze hat also eine Eigenschaft, die sich erst in einer höheren Komplexitätsstufe ergibt. Dies findet sich überall in der Natur: Eine Kolonie von Ameisen zeigt erstaunlich komplexes Verhalten. Viele Zellen bilden komplexe Organe und viele Teilchen bilden Moleküle. Erst die komplexe Interaktion erlaubt es, dass etwas Neues über die einfacheren Bestandteile hinausgeht. Und hier haben wir schon die vielen Schichten der Komplexität skizziert. Wie Bewusstsein aus leblosen Teilchen entsteht, wie Verhalten aus Neuronen, bleibt eine ungelöste Frage der Philosophie des Geistes, aus der dieses Konzept der Emergenz[3] ursprünglich herrührt.

Hat nicht jede Entscheidung ihren Ursprung im Urknall?
Hat nicht jede Entscheidung ihren Ursprung im Urknall?

Verantwortlich trotz Urknall

Diese findet sich bereits bei Aristoteles und wurde unter anderem von Denkern wie Samuel Alexander, Julian Huxley, Conwy Lloyd Morgan und John Stuart Mill wiederentdeckt und auch in der modernen Wissenschaft taucht Emergenz immer wieder auf (genauso in vielen Pseudowissenschaften). Der Physiknobelpreisträger Robert B. Laughlin betont in seinem „Abschied von der Weltformel“, dass es nicht immer hilfreich ist, alles durch den Blick auf das Kleinere zu erklären, sondern manchmal aus einem größeren Ordnungsprinzip herrührt, beispielsweise wenn sich Wassermolleküle in ein Kristallgitter ordnen, wenn Wasser gefriert. Das Große hat Priorität über das Kleine.[4]

Die philosophisch relevante Begriffsunterscheidung ist die der schwachen und die der starken Emergenz. Nur die letztere besagt, dass etwas wirklich über die Summe der Teile hinausgeht und nicht nur aus praktischen Gründen so gelesen werden sollte. Wir werden es hier nicht klären können, aber wir sehen zumindest, dass weder der Reduktionist noch der Bejaher des freien Willens klar recht hat. Wir können den Fall des freien Willens also zumindest nicht qua Naturwissenschaft ad acta legen und müssen festhalten, dass es viel interessanter ist, die Praktiken der verschiedenen Disziplinen nebeneinanderstehend zu betrachten.

Gehen wir einen Schritt ins Größere mit einem Witz: Ein Gefangener steht vor dem Richter und argumentiert: „Ja, ich habe das Verbrechen begangen, aber ich bin nicht schuld, die Naturgesetze nach dem Urknall haben determiniert, dass ich das tue“. Der Richter nickt und sagt. „Ich sehe ihr Argument völlig ein, dennoch verurteile ich Sie, ich weiß aber, dass ich ihr Verständnis habe, da die Naturgesetze determinierten, dass ich so handele.“ Willensfreiheit und damit einhergehende Verantwortung sind tief in unseren sozialen Praktiken verwoben und werden vorausgesetzt. Dennoch verstehen wir, dass es etwas, wie mildernde Umstände geben kann. Vieles davon ist in Gesetzen kodiert, manches bleibt auf der Ebene der Moral.[5] Es ist wichtig, dass diese Ebenen nicht notwendigerweise übereinstimmen, unsere Moralvorstellungen aber das Recht beeinflussen. Nun, wieviel persönliche Verantwortung müssen wir Menschen zusprechen?

Grausamkeit aus freiem Willen
Grausamkeit aus freiem Willen

Umstandshalber

Ein berühmt berüchtigtes Experiment (dem häufig methodische Schwächen und mindestens ebenso große ethische Probleme attestiert wird) ist das Stanford-Prison-Experiment. Es ging darum, die Psychologie von Machtverhältnissen besser zu verstehen. Eine Gruppe Freiwilliger wurde in „Gefangene“ und „Wärter“ unterteilt und lebte in einem Gefängnisnachbau auf dem Campus der Stanford Universität in Kalifornien. Der Versuch sollte zwei Wochen dauern, musste aber nach sechs Tagen abgebrochen werden, weil die Bedingungen in dem Gefängnis schnell kritisch wurden. Die Wärter misshandelten die Gefangenen und die Beobachter:innen blieben nicht mehr objektiv und sollen den Wärtern ein strenges Vorgehen nahegelegt haben. Wie konnte es passieren, dass vermeintlich normale Probanden, die über ihre Handlungen frei entscheiden konnten, in wenigen Tagen zu sadistischem Verhalten neigten? Die Erklärung der Experimentatoren: Schuld daran sind die Umstände, wie die bewusst entmenschlichende Gestaltung des Experiments, bei dem den Gefangenen beispielsweise Nummern statt Namen zugeteilt wurden. Wir müssen hier nicht die Details diskutieren.[6] Wer weiter schaut, wird sicher vergleichbare Umstände finden: Krieg, Faschismus und natürlich da, wo beides zusammenkommt. Wir Menschen tun unter gewissen Bedingungen Sachen, die wir uns sonst nicht einmal vorstellen wollen. Positiver formuliert heißt das aber auch, dass wir an den Umständen arbeiten können, um diese humaner zu machen, zum Beispiel direkt da, wo es das Stanford-Experiment nahelegt: im Strafvollzug. Oder auch überall sonst.

Ein weiteres Beispiel für den Einfluss von Umständen auf Entscheidungen ist das Leben als Konsument.[7] Wir werden ständig mit kleinen Anstößen in eine Richtung gedrängt. Es macht einen Unterschied, ob wir in der Kantine zuerst am Salat oder am Dessert vorbeigehen. Da wo sich mit uns Geld verdienen lässt, wird durch kleine Anpassungen – den sogenannten Nudges – zwar kein direkter Druck ausgeübt, diese beeinflussen aber dennoch unsere Entscheidungen in einem erheblichen Maße (oft gegen unsere eigenen Interessen). Das Standardwerk „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Thaler und Sunstein popularisierte und prägte den Begriff und gibt viele anschauliche Beispiele. So könne etwa durch die Festlegung der Organspende als Standardoption und das Erfordernis eines aktiven Widerspruchs – statt wie bisher einer aktiven Zustimmung – die Bereitschaft zur Organspende deutlich erhöht werden.

Gewaltloses Drängen

Für unsere Frage nach der Willensfreiheit ist dieser Effekt aber ein weiteres Problem. Ein Problem, das in den kommenden Jahren nur deutlicher wird, wenn große Datenmengen es erlauben, immer genauer zu testen. Moderne Systeme können mit Hilfe von künstlicher Intelligenz immer bessere Vorschläge für Nudges machen und uns so an manchen Abenden auf dem Sofa fesseln mit immer neuen passenden Videovorschlägen.[8] Dieser Fall ist viel komplizierter als der Fall von direktem Zwang (beispielsweise durch Androhung von Gewalt). Bei der Gewaltandrohung liegt keine Freiheit vor.

Es bleibt also auch die Frage kompliziert, wieviel sozialer Kontext determiniert. Wir halten aber fest, dass wir uns frei fühlen. Was folgt nun hieraus für uns? Vielleicht hilft eine letzte Unterscheidung. Es geht mir weniger um die negativen Freiheiten (wie Unversehrtheit), sondern um die positiven (ermöglichenden). Wir sollten uns bemühen, die Möglichkeit der wirklichen bewussten Entscheidung – soweit es geht – zu fördern. Epistemisch, durch Transparenz, aber auch durch Stärkung derer, denen die (materiellen) Möglichkeiten fehlen. Das ist auch ein Ansatz der Aufklärung, die strebte nämlich nach Kant nach dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant, 1784).

 

Und nicht vergessen: abschalten!
Und nicht vergessen: abschalten!


Fußnoten

  1. Vorherbestimmtheit
  2. Eine Sichtweise, die komplexe Phänomene auf einfachere, grundlegende Bestandteile zurückführt und davon ausgeht, dass das Ganze durch die Summe seiner Teile vollständig erklärt werden kann.
  3. Das Hervorgehen von Neuartigem aus dem Zusammenspiel von Elementen.
  4. In dieser Denktradtion steht Laughlin heutzutage auch nicht alleine. Man betrachte beispielsweise den Biologie-Nobelpreisträger Stuart Kauffmann und sein „A World Beyond Physics“ (2019).
  5. Für verschiedene Aspekte von Freiheit, die hier eine Rolle spielt, siehe auch den Essay von Michael Fehling in diesem Band 
  6. Wer die Details wissen möchte, schaue beispielsweise in Le Texier (2019) für einen kritischen Blick. Alternativ ist bis 09.10.2028 in der ARD Mediathek verfügbar: Legendäre Experimente: Stanford Prison (1/3) .
  7. Siehe hierzu auch den Essay von Colin von Negenborn in diesem Band.
  8. Für noch weitergehende Probleme der Künstlichen Intelligenz und der Frage nach Freiheit, siehe den Essay von Christian Herzog in diesem Band

Literatur

  • Kant, Immanuel (1784). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4, 481–494.
  • Kauffman, Stuart (2019). A World Beyond Physics. Oxford University Press.
  • Laughlin, Robert B. (2007). Abschied von der Weltformel. Piper.
  • Le Texier, Thibault (2019). Debunking the Stanford Prison Experiment. American Psychologist, 74(7), 823–839. https://doi.org/10.1037/amp0000401
  • Thaler, Richard H. und Cass R. Sunstein (2009). Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Econ 2009.

 

 

 

Dr. Deniz Sarikaya

Nach meinem Studium der Philosophie und Mathematik an der Universität Hamburg promovierte ich an der Vrije Universiteit Brussel in der Philosophie (und Moralwissenschaft). Derzeit bin ich sowohl am Ethical Innovation Hub der Universität zu Lübeck als auch am Centre for Logic and Philosophy of Science der Vrije Universiteit Brussel tätig. Als Postdoktorand verbrachte ich Zeit in Kopenhagen und Lyngby sowie als Gastwissenschaftler bzw. Gaststudent in Amsterdam, Barcelona, Berkeley, Palma, Vancouver und Zürich.

Tief verwurzelt in der Philosophie der mathematischen Praxis, bin ich besonders daran interessiert, die ethisch-gesellschaftliche Dimensionen der Nutzung formaler Methoden, einschließlich Künstlicher Intelligenz, zu verstehen. Mir ist es wichtig, die zugrundeliegenden Technologien wirklich zu studieren und nicht nur über Fiktionen und Narrative zu diskutieren, obwohl auch deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.