Freiheit und Utopie

In einer Zeit multipler Krisen, in der sich eng verwobene, weitreichende Bedrohungen abzeichnen – die Klimakrise, der Aufstieg autoritärer Bewegungen und die Aushöhlung demokratischer Normen – fordert uns der Begriff der Freiheit zunehmend heraus.
Essay von Nina Perkowski, 14. Dezember 2024

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Freiheitsglocke mit Riss (Philadelphia, USA)
Freiheitsglocke mit Riss (Philadelphia, USA)

Das Paradox der Freiheit in der Gegenwart

Es ist ein bestimmter Freiheitsbegriff, der die aktuellen Krisen auf vielfältige Weise befeuert. Die Freiheit, möglichst unbegrenzt Ressourcen verbrauchen und privat anhäufen zu können, hat sich als katastrophal erwiesen. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf die Klimakrise. Ein Freiheitsverständnis, das sich in hemmungslosem Ressourcenverbrauch und der Ablehnung kollektiver Verantwortung ausdrückt, untergräbt die Grundlagen menschlicher Existenz. Der als individuelle Freiheit verstandene unbeschränkte Verbrauch fossiler Energien gefährdet die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Die vermeintliche Freiheit des Einzelnen wird zur existenziellen Bedrohung für alle.

Die Problematik eines verkürzten Freiheitsbegriffs zeigt sich auch in einer dramatischen Verschärfung sozialer Ungleichheiten. Die Konzentration wirtschaftlicher und auch medialer Macht in den Händen einiger weniger untergräbt demokratische Prinzipien und fördert gesellschaftliche Polarisierung. Was als individuelle Freiheit erscheint, manifestiert sich sowohl ökologisch als auch sozial als kollektive Selbstzerstörung. Auf die Spitze getrieben führt ein solches Freiheitsverständnis in eine planetarische Dystopie, in der sowohl die natürlichen Lebensgrundlagen als auch der soziale Zusammenhalt erodieren.

Gleichzeitig können wir angesichts der Bedrohungen das hohe Gut der Freiheit gerade jetzt nicht aufgeben. Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Bewegungen in westlichen Demokratien offenbaren die Fragilität hart erkämpfter Freiheitsrechte – von der Wiederwahl Donald Trumps in den USA über den Triumph Geert Wilders‘ in den Niederlanden bis hin zu den massiven Stimmengewinnen der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und vielleicht schon bald auch bundesweit. Autoritäre Kräfte, die paradoxerweise oft selbst im Namen der Freiheit agieren, bedrohen systematisch grundlegende Menschenrechte. Sie schränken beispielsweise die reproduktive Selbstbestimmung ein – etwa durch die Verschärfung von Abtreibungsgesetzen in den USA und Polen. Sie bekämpfen die Freiheitsrechte von LGBTQI*-Personen,[1] etwa durch Anti-Trans-Gesetze, sowie religiöser Minderheiten und untergraben die Presse- und Meinungsfreiheit, wie die Mediengleichschaltung in Ungarn zeigt. Auch die Rechte von Zuwandernden und Asylsuchenden werden drastisch eingeschränkt.

In der gegenwärtigen Situation zeigt sich also ein Paradoxon: Während ein individualistischer Freiheitsbegriff zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beiträgt, müssen wir gleichzeitig grundlegende Freiheitsrechte gegen Angriffe verteidigen. Im Zentrum dieses Spannungsverhältnisses stehen zwei gegensätzliche Vorstellungen von Freiheit, wie die Schwarze Feministin Robyn Maynard prägnant beschreibt: „One is the freedom to evade, to deny one’s responsibility to a collective social body; the other forwards a freedom that is relational, holds up freedom as collective safety.“[2] Im ersten Verständnis ist Freiheit ein individualistisches Gut, ein Recht, sich kollektiven Verpflichtungen zu entziehen. Maynard beschreibt diese Haltung am Beispiel der Corona-Pandemie und problematisiert, wie einige den Anspruch auf individuelle Freiheit über den Schutz vulnerabler Gruppen stellten und beispielsweise die Maskenpflicht als unzulässigen Eingriff in persönliche Rechte deuteten.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Das individualistische Subjekt und neue Perspektiven auf das Menschsein

Dieses individualisierte Verständnis von Freiheit hat tiefe historische Wurzeln. Die postkoloniale Theoretikerin Sylvia Wynter zeigt, wie ein Verständnis des Menschen als autonomes, rationales Subjekt in der europäischen Moderne entstand und durch koloniale und kapitalistische Expansionen globale Hegemonie erlangte – nicht aufgrund seiner universellen Gültigkeit, sondern durch die mitunter gewaltsame Durchsetzung westlicher Weltanschauungen und Herrschaftsverhältnisse.

Auf der Grundlage ihrer kritischen Analyse der Geschichte des westlichen Humanismus argumentiert Wynter, dass die westliche Konzeption des Menschen als individualisiertes Subjekt multiple Krisen der Gegenwart bedingt und perpetuiert. Denn Wynter identifiziert das westliche liberale Konzept des homo oeconomicus – das autonome, rationale und egoistische Subjekt – als Kern der gegenwärtigen Krisen. Die Philosophin Rosi Braidotti teilt diese Diagnose: „The climate change emergency and the general condition of the Anthropocene expose not only the limitations, but also the responsibilities of European Humanism and its scientific culture.“[3]

In ihrer Antwort auf diese Problemdiagnose entwickeln Wynter und Braidotti unterschiedliche Perspektiven: Wynter plädiert für eine „Wiederverzauberung“ des Humanismus und ein neues Verständnis des Menschseins, das die fundamentale Verschränkung von biologischer und kultureller Existenz anerkennt und den Menschen als „homo narrans“ – als erzählendes und bedeutungsschaffendes Wesen – begreift. Das ermöglicht es, globale Krisen als Folge dominanter Narrative über das Menschsein (als individualistisch, ökonomisch denkend, rational und egoistisch) zu verstehen. Als Menschen haben wir laut Wynter jedoch die einzigartige Fähigkeit, durch kollektives Erzählen neue Bedeutungssysteme zu schaffen, die unser Verhältnis zur natürlichen und sozialen Welt fundamental neugestalten können. Es braucht gerade im Angesicht der komplexen Probleme, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, stärker miteinander und mit anderen Lebenswesen verbundene Seinsweisen: „thinking globally, what ‘we really have is a poverty-hunger-habitat-energy-trade-population-atmosphere-waste-resource problem,’ none of whose separate parts can be solved on their own“.[4]

Diese Einsicht in die fundamentale Verwobenheit globaler Probleme teilte bereits Indira Gandhi, als sie 1972 auf der Stockholm Konferenz betonte: „Das Leben ist eins, und wir haben nur diese eine Erde. Alles ist miteinander verknüpft: Bevölkerungsexplosion, Armut, Unwissenheit, Krankheit, Umweltverschmutzung, die Ansammlung von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen. Ein Teufelskreis! Jedes Thema ist wichtig, aber es wäre vergebliche Mühe, jedes einzeln zu behandeln.“[5]

Während Wynter eine Transformation des Humanismus von innen heraus anstrebt, argumentiert Braidotti für eine radikalere Abkehr vom Humanismus in Richtung eines kritischen Posthumanismus. Dieser zielt darauf ab, die anthropozentrische Perspektive des Humanismus zu überwinden und neue Formen der Verbundenheit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen zu entwickeln. Ihr Modell eines kollektiven, posthumanen Subjekts als „we-are-(all)-in-this-together-but-we-are-not-one-and-the-same“ betont unsere konstitutive Verbundenheit mit anderen Menschen, Lebewesen und dem Planeten als Ganzem. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze teilen beide Denkerinnen das Ziel, die individualistischen und rationalistischen Prämissen des westlichen Humanismus zu überwinden und neue Wege des Denkens über das Menschsein im Kontext gegenwärtiger globaler Herausforderungen zu eröffnen.

Eine solche Neukonzeption des Subjekts hat direkte Implikationen für unser Verständnis von Freiheit: Wenn das Subjekt nicht mehr als einzeln und isoliert, sondern als Teil vielfältiger Beziehungsgefüge verstanden wird, muss auch seine Freiheit neu gedacht werden – nicht als Loslösung von, sondern als bewusste Gestaltung seiner Einbettung in soziale und planetare Zusammenhänge. Freiheit wird damit, wie bei Maynard, zu einem inhärent kollektiven Konzept.

Murales bronzo di Riace a Riace (2022), Wandbild aus Riace (bekannt geworden als italienisches „Dorf der Begegnung“)
Murales bronzo di Riace a Riace (2022), Wandbild aus Riace (bekannt geworden als italienisches „Dorf der Begegnung“)

Alternative Wissensformen und utopische Praktiken

Viele indigene Weltanschauungen erkennen seit langem eine tiefe Interdependenz allen Seins an. Die indigene Schriftstellerin Leanne Betasamosake Simpson beschreibt in diesem Kontext beispielsweise die zentrale Rolle des Teilens in der Nishnaabeg-Gemeinschaft (Great Lakes, USA/Kanada): „This politic of sharing is a continual divestment of individuality and a perpetual deepening of the communal or the wider network of life. It is anti-accumulation.“[6]

Diese indigene Perspektive bietet wichtige Impulse für ein erweitertes Freiheitsverständnis: Ein vernetztes, kollektiviertes Verständnis von Subjekt, Gemeinschaft und Freiheit bedeutet nicht die Aufgabe individueller Freiheitsrechte, sondern ihre Einbettung in ein erweitertes Verständnis kollektiver Verantwortung. Doch wie kann sich ein solches Verständnis in der Praxis niederschlagen?

Die Umsetzung eines solch transformativen Freiheitsverständnisses bedarf einer neuen, utopischen Praxis. Den Soziologinnen Ruth Levitas und Davina Cooper folgend verstehe ich Utopie dabei nicht als abstrakte Blaupause, sondern als kritische Methodik der Erkundung und Verwirklichung alternativer Zukünfte.[7] Cooper betont die zentrale Rolle „alltäglicher Utopien“, die nicht nur neue Praktiken erproben, sondern auch „new forms of normalization, desire, and subjectivity [...] oriented toward a better world“ hervorbringen.[8]

Utopien sind in diesem Kontext weit mehr als bloße Gedankenexperimente oder unrealistische Träumereien. Sie fungieren als Werkzeuge der sozialen Imagination und Präfiguration und öffnen neue Möglichkeitsräume. Dadurch ermöglichen sie uns, aus den scheinbar alternativlosen Logiken des Status quo auszubrechen und neue Formen des Zusammenlebens nicht nur zu denken und zu erzählen – wie von Sylvia Wynter gefordert – , sondern diese auch praktisch zu erproben.

Besonders wertvoll sind dabei jene utopischen Visionen und Praktiken, die nicht von abstrakten Idealen, sondern von konkreten Bedürfnissen und Erfahrungen ausgehen – insbesondere der von marginalisierten Gemeinschaften. Denn in einer von Krisen geplagten Welt ist es zentral, dass wir das Wissen und die Praktiken derjenigen ernstnehmen, die Braidotti die „missing people“ nennt – jene, die in dominanten westlichen Systemen marginalisiert und ausgeschlossen wurden und immer noch werden. Denn sie sind es, die gerade durch ihre liminalen Positionen “other forms of being and becoming human” sehen und artikulieren können.[9]

Dies attestiert auch der Philosoph Daniel Loick in seinem Buch „Die Überlegenheit der Unterlegenen“, in dem er sich explizit mit dem Wissen, den Erfahrungen und Praktiken von „Gegengemeinschaften“ auseinandersetzt.[10] Loick zeigt, wie marginalisierte Gruppen gerade aufgrund ihrer Position außerhalb dominanter Strukturen innovative Formen des Widerstands und der Solidarität entwickeln können – sei es in der queeren Subkultur, in migrantischen Communities oder in antirassistischen Bewegungen.

In einer Zeit, in der ein verengter Freiheitsbegriff sowohl ökologische als auch soziale Katastrophen befeuert, während autoritäre Bewegungen grundlegende Freiheitsrechte bedrohen, sind wir alle aufgefordert, den Begriff der Freiheit neu auszugestalten und zu erproben. Diese Aufgabe erfordert dabei vor allem auch eines: das aufmerksame Zuhören und Lernen von denjenigen, die bereits heute an den Rändern der Gesellschaft alternative Formen von Gemeinschaft, Individualität, Fürsorge und Freiheit entwickeln.

Fußnoten

  1. Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intersex und weitere Geschlechtsidentitäten.
  2. Maynard, Robyn, und Leanne Betasamosake Simpson. Rehearsals for Living. Chicago, Illinois: Haymarket Books, 2022.
  3. Braidotti, Rosi. Posthuman Knowledge. Cambridge: Polity Press, 2019.
  4. Wynter, Sylvia, und Katherine McKittrick. „Unparalleled Catastrophe for Our Species? Or, to Give Humanness a Different Future: Conversations“. In Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis, herausgegeben von Katherine McKittrick, 9–89. Durham and London: Duke University Press, 2015, S. 44.
  5. Staff, D.T.E. (2022) Looking back at Stockholm 1972: What Indira Gandhi said half a century ago on man & environment, Down To Earth. www.downtoearth.org.in/environment/looking-back-at-stockholm-1972-what-indira-gandhi-said-half-a-century-ago-on-man-environment-83060 (Abgerufen: 02.01.2025).
  6. Maynard, Robyn, und Leanne Betasamosake Simpson. Rehearsals for Living. Chicago, Illinois: Haymarket Books, 2022.
  7. Levitas, Ruth. Utopia as Method. London: Palgrave Macmillan UK, 2013. Cooper, Davina. Everyday Utopias: The Conceptual Life of Promising Spaces. Durham London: Duke University Press Books, 2013.
  8. Cooper, Davina. Everyday Utopias: The Conceptual Life of Promising Spaces. Durham London: Duke University Press Books, 2013, S. 5.
  9. Weheliye, Alexander G. Habeas Viscus: Racializing Assemblages, Biopolitics, and Black Feminist Theories of the Human. Durham and London: Duke University Press, 2014, S. 29.
  10. Loick, Daniel. Die Überlegenheit der Unterlegenen. Eine Theorie der Gegengemeinschaften. Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp, 2024.

Jun. Prof. Dr. Nina Perkowski

Nina Perkowski ist Juniorprofessorin für Soziologie, insbesondere Gewalt- und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg. Nach ihrem Studium in Maastricht, Berkeley und Oxford promovierte sie an der University of Edinburgh und arbeitete dann als PostDoc an der University of Warwick, dem Lehrstuhl für Kriminologie, insbesondere Sicherheit und Resilienz an der Universität Hamburg und am IFSH.

Sie forscht dazu, wie Grenzen innerhalb von und um europäische Gesellschaften gezogen, angefochten und verhandelt werden und untersucht das Zusammenspiel von Sicherheit und Gewalt in verschiedenen Kontexten.

Ihre Monographien “Humanitarianism, Human Rights, and Security: The Case of Frontex” und “Reclaiming Migration: Voices from Europe’s ‘Migrant Crisis’” (geschrieben mit Vicki Squire, Dallal Stevens und Nick Vaughan-Williams) wurden 2021 veröffentlicht.