Von der Freiheit, global zu kommunizieren

Soziale Medien galten als Technologie der Freiheit, doch staatliche und private Regulierung bedroht die freie globale Kommunikation. Wie Plattformen die Meinungsfreiheit beeinflussen und welche Rolle internationale Koordination spielen könnte.
Essay von Dennis Redeker , 16. September 2024

Soziale Medien und digitale Kommunikation waren während des „Arabischen Frühlings“ entscheidend für die Mobilisierung gegen autoritäre Regime.
Soziale Medien und digitale Kommunikation waren während des „Arabischen Frühlings“ entscheidend für die Mobilisierung gegen autoritäre Regime.

Soziale Medien als „Freiheitstechnologie“?

Noch bis heute gilt der „Arabische Frühling“, die Proteste, Aufstände und Revolutionen in der arabischen Welt der frühen 2010er-Jahre, als die ultimative Bestätigung, dass das Internet zu mehr Freiheit und Demokratie führen kann. Soziale-Medien-Plattformen wie Twitter und Facebook sowie Dienste wie Wikipedia waren ein Austragungsort des Aufbegehrens und ein Quell der breiten Mobilisierung gegen autoritäre Regime – von Tunesien bis Syrien oder von Ägypten bis zum Jemen. Zwar führten nicht alle Bewegungen zu mehr Freiheit oder zu demokratischen Reformen – auf einige folgte eine Gegenbewegung oder ein Bürgerkrieg. Doch die Macht der sozialen Medien wurde erkannt, nicht nur, aber auch von autoritären Führern, die um ihre Macht fürchteten. In China hatte man das Risiko bereits früh erkannt und das Internet seit 1995 weitgehend abgeschottet und überwacht.[1] Nach dem Arabischen Frühling stiegen aber auch die Einschränkungen von Soziale-Medien-Plattformen rund um den Globus an.[2]

Selbst die französische Regierung hat mit TikTok erstmalig eine größere Plattform blockiert – allerdings nur in Neukaledonien. Die Plattform wurde im Frühjahr 2024 von protestierenden Menschen in dem französischen Überseegebiet genutzt.

Heute wissen wir, dass die „Freiheitstechnologie“ nicht alle Heilsversprechen eingelöst hat. Zum einen wird richtigerweise eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und körperlicher Unversehrtheit getroffen – etwa im Falle von Aufrufen zu Gewalt oder sogar Völkermord. Zum anderen muss Meinungsfreiheit gegen Miss- und Desinformationen auf sozialen Netzwerken und im Internet im Allgemeinen verteidigt werden. Im Zeitalter kommunikativer künstlicher Intelligenz erscheint dieser Kampf zwar noch herausfordernder, aber Staaten und die Plattformen selbst arbeiten kontinuierlich daran, die für sich richtige Abwägung zu finden – ob diese dann demokratisch legitimiert ist oder nicht. Das heißt auch, dass X anderen Regeln als Instagram folgt, und die USA anderen als Indien.

Autoritäre Staaten fürchten die Macht sozialer Medien und reagieren mit technischen Einschränkungen sowie der Verfolgung von Netzaktivist:innen.
Autoritäre Staaten fürchten die Macht sozialer Medien und reagieren mit technischen Einschränkungen sowie der Verfolgung von Netzaktivist:innen.

Wo die Luft der Freiheit weht[3]

Dass die Soziale-Medien-Plattformen ihre eigenen Regeln darüber setzen, was Nutzende veröffentlichen können, macht sie effektiv zu „Wächtern“[4] des digitalen Raums, zu den neuen „Herrschern“[5] dessen, was im Internet gesagt werden darf. Dabei erlassen sie die Regeln und setzen diese auch um, wofür eine große Zahl von Inhalte-Moderierende angestellt und vor allem auch Algorithmen verwandt werden.[6] Diese besondere Rolle für private Unternehmen, globale Regeln zu bestimmen, hat viel mit der Zentralität der Vereinigten Staaten in der Entwicklung und der Kommerzialisierung des Internets und der Intensität der Globalisierung um die Jahrtausendwende zu tun. Der technologische und kommerzielle Vorsprung, den das Silicon Valley vor anderen Regionen der Welt hatte und hat, führte zu einer Globalisierung amerikanischer Regeln für die Meinungsfreiheit. Der in den USA wichtige erste Verfassungszusatz sowie ein darauf aufbauendes Gesetz, der „Communications Decency Act“ aus dem Jahr 1996, garantieren den Plattformen, dass sie – in den meisten Fällen – nicht für das verantwortlich sind, was Nutzende veröffentlichen. Dieser rechtliche Rahmen begünstigte das rasante Wachstum von Sozialen Medien und den Export eines US-amerikanischen Verständnisses von Meinungsfreiheit. In meiner eigenen Forschung habe ich mehr als 16.000 Nutzende von Soziale-Medien-Plattformen in 41 Ländern – vor allem im globalen Süden – befragt, ob sie glauben, dass das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit durch soziale Medien eher besser, schlechter oder gleich geschützt wird. Eine überwältigende Mehrheit gibt an, dass das Recht auf Meinungsfreiheit durch soziale Medien besser geschützt wird.[7] Zwar beziehen sich diese Ergebnisse lediglich auf Nutzende sozialer Medien, doch mindestens fünf Milliarden Menschen nutzen wenigstens eine Soziale-Medien-Plattform.[8] Es ist deshalb wahrscheinlich, dass sich die Menschheit heute in ihrer Meinungsfreiheit mehr verwirklicht fühlt als dies vor dem Aufstieg der Soziale-Medien-Plattformen der Fall war.

Zivilgesellschaftliche Gruppen mobilisieren zu Protesten, um die freie Meinungsäußerung und den persönlichen Datenschutz zu stärken.
Zivilgesellschaftliche Gruppen mobilisieren zu Protesten, um die freie Meinungsäußerung und den persönlichen Datenschutz zu stärken.

Gibt es ein Recht, global zu kommunizieren?

Wie es zu dieser individuellen Einschätzung kommt, dass soziale Medien Meinungsfreiheit verstärken, ist noch unklar. Schließlich gibt es gerade heute viele Einschränkungen dieses Grundrechts: Soziale-Medien-Unternehmen verbieten etwa sexuelle Inhalte, um der wichtigen Konsumierenden-Gruppe der Teenager juristisch einwandfrei Zugriff auf die Plattformen zu geben und dadurch Werbeinnahmen zu steigern. Staaten bemühen sich darum, dass Plattformen sich an deren restriktive Gesetze halten – etwas das Verbot einen König zu beleidigen (z.B. Thailand) oder das Verbot von rechtsextremen Symbolen und Zeichen (z.B. Deutschland). Dennoch scheint ein positives Bild von der Meinungsfreiheit auf den sozialen Medien zu überwiegen.

Zwei Charakteristika der Plattformen könnten dabei zu dieser positiven Verknüpfung beitragen: zum einen ermöglichen sozialen Medien es jedem und jeder unabhängig von Ressourcen, Bildungsgrad, Geschlecht oder Nationalität mit vielen anderen zu kommunizieren. Zwar gibt es das Recht auf Meinungsfreiheit bereits seit Langem – auch wenn sich die Interpretation dieses Rechts schon immer gewandelt hat, doch die Reichweite und Effektivität der individuellen Meinungsäußerung basiert darauf, wer wem aus welchen Gründen eine Bühne bietet. Dabei werden Beiträge in Zeitungen, im Radio oder Fernsehen viel stärker redaktionell gefiltert als soziale Medien. Zum anderen können Nutzende heute erwarten, dass Ausdrücke der eigenen Gedanken und Kreativität global kommuniziert werden, oder zumindest, dass ein Potential dazu besteht. Meinungsfreiheit heißt nicht nur innerhalb der Grenzen des eigenen Nationalstaats, sondern mit Nutzenden auf der ganzen Welt zu kommunizieren. Ein solcher Anspruch ergibt sich auch mit dem Aufstieg der globalen Soziale-Medien-Plattformen oder wird durch diesen verstärkt, denn bereits aus Prinzip ist das Menschenrecht der Meinungsfreiheit nicht an eine Jurisdiktion gebunden. Die Protestierenden wie die Machthaber während des Arabischen Frühlings konnten sich sicher sein, dass die Welt zuschaut. 

Anbieter sozialer Medien zeigen Nutzenden nur gefilterte Inhalte aufgrund eigener Regeln.
Anbieter sozialer Medien zeigen Nutzenden nur gefilterte Inhalte aufgrund eigener Regeln.

Grenzen und Möglichkeiten für die Meinungsfreiheit im Zeitalter globaler Plattformen

Nun allerdings ergeben sich aus der Praxis der sogenannten „Plattform-Governance“ in letzter Zeit Herausforderungen für jene beiden Eigenschaften, die eben als Treiber für das Empfinden erhöhter Meinungsfreiheit durch Soziale-Medien-Plattformen identifiziert wurden. Die erste Herausforderung liegt darin, dass Nutzende sich heute nicht mehr sicher sein können, an wie viele Menschen sie ihre Äußerungen richten. Das liegt nicht nur an der Undurchsichtigkeit der Algorithmen, welche das kuratieren, was wir sehen. Es liegt auch an einer neuen Praxis der Inhalte-Moderation durch Soziale-Medien-Plattformen, dem sogenannten „Shadow-Banning“, was einer Reichweitendrosselung veröffentlichter Inhalte gleichkommt. Mit dieser Praxis sollen wenig vertrauenswürdige Nutzende in ihrer Kommunikation von Falschinformationen oder Hassbotschaften eingeschränkt werden – als Alternative zur Verbannung von einer Plattform und als niedrigschwellige Strafe.[9] Allerding ahnen die Betroffenen häufig nichts von diesen Maßnahmen, sodass sie effektiv nicht nur in ihrer freien Meinungsäußerung eingeschränkt sind, sondern auch in ihrem Recht zu wissen, dass die eigene Freiheit eingeschränkt wurde.

Es ergeben sich ebenfalls Risiken für die Freiheit global zu kommunizieren, welche sich aus der zunehmenden Regulierung von Sozialen-Medien-Plattformen ergeben. Denn obwohl viele dieser staatlichen Regeln legitime Ziele verfolgen, ergibt sich doch in der Gesamtheit aller Regeln eine zunehmende Fragmentierung des globalen öffentlichen Kommunikationsraums. Dieser Flickenteppich entsteht dann, wenn sich nationale und sogar sub-nationale Regeln nicht auf einer globalen Plattform zusammenbringen lassen. Soziale-Medien-Plattformen müssen gegebenenfalls nationale Instanzen abgrenzen, und Kommunikation kann diese dann nicht durchbrechen, wenn sie in anderen Jurisdiktionen nicht möglich wäre. Dies wird bereits auf Plattformen wie Instagram und Facebook getan, in Deutschland etwa auf Basis des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG).[10] Inhalte, die in Deutschland nicht zulässig sind, werden Nutzenden in Deutschland nicht angezeigt.[11] Je mehr Regulierungen ohne Koordination verabschiedet werden, desto schwieriger wird es für Plattformen nicht nur eigene Regeln zu erlassen – weil alles schon irgendwo geregelt ist, sondern auch einen gemeinsamen globalen Nenner, eine Art  Gleichgewicht zu finden, innerhalb dessen Nutzende weiterhin global kommunizieren können.

Eine effektive Regulierung von Sozialen-Medien-Plattformen ist notwendig und legitim, alleine um eine Reihe anderer Grund- und Menschenrechte zu bewahren. Die Regulierung sollte international koordiniert und unter Einbeziehung bestehender internationaler Institutionen wie dem Internet Governance Forum erfolgen, wenn wir die Möglichkeit und das selbstverständliche Recht auf globale Kommunikation schützen wollen. Dies könnte auf Basis bestehender Vereinbarungen, insbesondere der Menschenrechte geschehen, sollte jedoch ebenfalls von Personen aus der Zivilgesellschaft beraten werden.[12]

Dennis Redeker dankt Andreas Veit, Manuel Alejandro Baron Romero und Gabriel Durán für ihre Kommentare.

Fußnoten

  1. Deibert, R. J. (2002). Dark guests and great firewalls: The Internet and Chinese security policy. Journal of Social Issues, 58(1), 143-159.
  2. Rosson, Z., Anthonio, F., & Tackett, C. (2024). Shrinking Democracy, Growing Violence: Internet shutdowns in 2023. https://www.accessnow.org/wp-content/uploads/2024/05/2023-KIO-Report.pdf (abgerufen 23.10.2024)
  3.  „Die Luft der Freiheit weht“ ist das Motto der Stanford University, welche eng mit dem Silicon Valley verwoben ist.
  4. Gillespie, T. (2018). Custodians of the Internet: Platforms, content moderation, and the hidden decisions that shape social media. New Haven: Yale University Press. „Custodian“ hier frei als „Wächter“ übersetzt.
  5. Klonick, K. (2017). The new governors: The people, rules, and processes governing online speech. Harvard Law Review, 131, 1598-1670. „Governor“ hier frei als „Herrscher“ übersetzt.
  6. Gorwa, R., Binns, R., & Katzenbach, C. (2020). Algorithmic content moderation: Technical and political challenges in the automation of platform governance. Big Data & Society 7(1).
  7. Bei anderen Menschenrechten, etwa dem Recht auf Privatheit, sieht es anders aus: die Befragten beklagen einen geringeren Schutz ihrer Rechte.
  8. Statista (2024). Number of internet and social media users worldwide as of April 2024 (in billions). www.statista.com/statistics/617136/digital-population-worldwide/ (abgerufen 23.10.2024)
  9. Radsch C. (2021). Shadowban /shadow banning. In: Belli Luca, Zingales Nicolo, Curzi Yasmin IGF Glossary of Platform Law and Policy Terms. Internet Governance Forum. perma.cc/7K3Q-HN36 (abgerufen 23.10.2024)
  10. Welche Regeln befolgt werden hängt auch von der Wichtigkeit einzelner Märkte für die Plattformen ab. Insofern entsteht eine globale Ungerechtigkeit, die neokolonialistisch strukturiert ist, die allerdings ironischerweise auch mancherorts für Freiräume für Meinungsfreiheit sorgen kann, weil so auch nationale Regeln autokratischer Herrscher nicht beachtet werden (aber eben nicht aus liberal-demokratischem Prinzip, sondern als Nebeneffekt einer ökonomischen Kalkulation).   
  11. Facebook (2022). NetzDG Transparency Report (July 2022). about.fb.com/de/wp-content/uploads/sites/10/2022/07/Facebook-NetzDG-Transparency-Report-July-2022.pdf (abgerufen 23.10.2024)
  12. Celeste, E., Palladino, N., Redeker, D., & Yilma, K. (2023). The Content Governance Dilemma: Digital Constitutionalism, Social Media and the Search for a Global Standard. Cham: Palgrave Macmillan.

Weiterführende Literatur

  • Celeste, E., Palladino, N., Redeker, D., & Yilma, K. (2023). The Content Governance Dilemma: Digital Constitutionalism, Social Media and the Search for a Global Standard. Cham: Palgrave Macmillan.
  • Gillespie, T. (2018). Custodians of the Internet: Platforms, content moderation, and the hidden decisions that shape social media. New Haven: Yale University Press.
  • Katzenbach, C. (2023). Die Governance sozialer Medien. In Schmidt, JH., Taddicken, M., Handbuch Soziale Medien (339-362). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
  • Roberts, S. T. (2018). Behind the screen. New Haven/London: Yale University Press.
  • Suzor, N. P. (2019). Lawless: The secret rules that govern our digital lives. Cambridge: Cambridge University Press.

 

Dr. Dennis Redeker

Dennis Redeker ist Politikwissenschaftler und Postdoktorand am ZeMKI, Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung an der Universität Bremen. Dort beschäftigt er sich mit Fragestellungen aus der Global Governance-Forschung, vor allem in den Feldern Internet-, Plattform- und KI-Governance. Er ist ein Gründungsmitglied des interdisziplinären Digital Constitutionalism Network, welches sich mit der Rolle von Menschenrechten im digitalen Raum sowie der Frage der zunehmenden Konstituierung von Normen digitaler Technologien auseinandersetzt.

Zwischen 2017 und 2021 war Dennis Redeker wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, an der Universität Bremen und Doktorand an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). Während seiner Promotionsphase (Dissertation über transnationale Netzwerke und den Schutz von Menschenrechten im digitalen Raum) absolvierte er Forschungsaufenthalte an der New York University und der Harvard University. Zuvor studierte er Internationale Beziehungen, vergleichendes Recht, politische Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Maastricht, Bremen und an der University of Connecticut.