Freiheit in der Grundlagenforschung
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Es ist ein Privileg für uns Physiker:innen, die Möglichkeit zu haben, in der Grundlagenforschung zu arbeiten. Teilchenphysiker:innen zum Beispiel haben die Freiheit zu versuchen, die kleinsten Bestandteile der Materie zu entschlüsseln und zu verstehen, wie Kräfte in der Natur wirken. Was sind die kleinsten Bestandteile der Materie und was hält sie zusammen? Wie sind diese nach dem Urknall entstanden und wie hat sich das Universum entwickelt? Was ist die Natur der schwer fassbaren sogenannten Dunklen Materie? Das sind alles faszinierende Fragen, die Teilchenphysiker:innen zu lösen versuchen, indem sie riesige Detektoren und Beschleuniger bauen.
Große Forschungseinrichtungen wie das DESY in Hamburg oder das CERN in Genf bieten viele Möglichkeiten, Spitzenforschung in der Physik zu betreiben. DESY ist das nationale Labor für Teilchenphysik in Deutschland, es „hat sich der grundlegenden Erforschung der Struktur und Funktion von Materie verpflichtet und erarbeitet die notwendige Wissensbasis für die Welt von morgen“. [1] Das CERN in Genf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um die Grundlagenforschung in der Physik in Europa wieder aufzunehmen. François de Rose, einer der Gründer, erzählt, wie er Robert Oppenheimer traf, der ihm sagte:
„Wir haben in Europa alles gelernt, was wir wissen. Aber in Zukunft wird die physikalische Grundlagenforschung beträchtliche Mittel erfordern, die die Möglichkeiten der einzelnen europäischen Länder übersteigen werden. Sie werden ihre Anstrengungen bündeln müssen, um große Maschinen zu bauen, die benötigt werden. Es wäre ungesund, wenn die Europäer gezwungen wären, in die USA oder die Sowjetunion zu gehen, um ihre Grundlagenforschung zu betreiben.“ [2] CERN wurde 1954 mit damals zwölf Mitgliedsstaaten gegründet.
Die heutigen Experimente in der Teilchenphysik sind sehr komplex, aufwendig und umfangreich, und Hunderte von Physiker:innen sind mit dem Betrieb der Anlagen und dem Sammeln und Analysieren der Daten beschäftigt. Diese Experimente bieten eine Vielzahl von Forschungsthemen und jedes an ihnen beteiligte Mitglied hat die Freiheit, für sich interessante Themen zu wählen. Die Studierenden und Postdocs haben die Möglichkeit, die neuesten Techniken der künstlichen Intelligenz anzuwenden und ihre Kreativität beim Programmieren und Experimentieren zu beweisen.

Aber wie viel Freiheit sollte man der Wissenschaft zugestehen? Forschungsfreiheit ist das Fundament wissenschaftlichen Fortschritts und gesellschaftlicher Innovation. Aspekte wie hohe Kosten und technologische Risiken sowie Nachfragen nach dem konkreten Nutzen der Erkenntnisse sind wichtige Diskussionspunkte, sollten jedoch nicht als Hemmnisse, sondern als konstruktive Leitplanken verstanden werden. Eine verantwortungsbewusste Grundlagenforschung, die Freiheit und kritische Reflexion vereint, ist der Schlüssel zur Lösung globaler Herausforderungen. Man kann den Mehrwert der Grundlagenforschung für die Gesellschaft nicht immer sofort erkennen, aber die Freiheit, die Wissenschaftler:innen in der Vergangenheit hatten, hat uns den technologischen Fortschritt der letzten Jahrhunderte ermöglicht. Von Faraday bis Maxwell, von Einstein bis Marie Curie, von der Anwendung der Technologie in der Medizin bis zur Erfindung des „World Wide Web“ – der Technologietransfer von der Grundlagenforschung und der Wissenschaft im Allgemeinen in die Gesellschaft ist offensichtlich.
Michael Faraday und die Elektrizität
Michael Faraday stammte aus einfachen Verhältnissen und begann schon als Kind zu arbeiten. Im Alter von vierzehn Jahren wurde er Buchbinderlehrling in einer örtlichen Buchhandlung, wo er Zugang zu wissenschaftlichen Büchern hatte und sich für Chemie und Physik interessierte. Im Alter von 20 Jahren begann Faraday Chemiekurse an der Royal Institution zu besuchen, und man bot ihm wegen seiner Leidenschaft eine Stelle als Laborassistent an.
Michael Faraday hatte zwei Wünsche: Zum einen die Genehmigung, sämtliche Apparaturen auch für seine eigenen Experimente verwenden zu dürfen, und zum anderen, dass ihm die Royal Institution die Arbeitsschürzen zur Verfügung stellen möge.[3] Seine Erfindungen im Bereich der Elektrizität, die er auch diesen ersten kleinen Laborversuchen verdankt, sind legendär. Faraday konstruierte den ersten Elektromotor und entdeckte die elektromagnetische Induktion, wobei er experimentell nachwies, dass ein variables Magnetfeld einen elektrischen Strom erzeugt. Dieses Prinzip nutzte er zur Erfindung des Dynamos.
Michael Faraday begann 1825 mit der Organisation der Weihnachtsvorlesungen an der Royal Institution, die zu einer Zeit, in der es an Bildung mangelte, von Schulkindern besucht wurden. Er war zwar nicht der einzige, der diese Vorlesungen hielt, aber er selbst hielt 19 davon, und seine berühmteste, die „Naturgeschichte einer Kerze“, wurde als Buch ein Bestseller. Die Tradition der Weihnachtsvorlesungen, die das Ziel haben, Kinder für die Wissenschaft zu begeistern, wird auch heute noch, nach fast 200 Jahren, fortgesetzt, unterbrochen nur während des Zweiten Weltkriegs.

Die patentfreie Erfindung des World Wide Web
Als Sir Tim Berners-Lee bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 2012 in London vor Tausenden von Zuschauer:innen an einem Computer tippte, wussten wahrscheinlich nicht viele, wer er war.
Berners-Lee war schon in jungen Jahren von dem Konzept des Wissensaustauschs und der möglichen Nutzung von Computern für dieses Ziel fasziniert. Im Jahr 1989 war er als Informatiker am CERN tätig, als der LEP-Beschleuniger (Large Electron-Positron Collider; Großer Elektron-Positron-Speicherring) in Betrieb genommen wurde, an dem Tausende von Physiker:innen aus vielen Ländern beteiligt waren. Bei dieser intensiven Zusammenarbeit musste er den dringenden Bedarf nach einer unkomplizierten Möglichkeit gespürt haben, Dokumente und Informationen über Computer auszutauschen.
In diesem Jahr präsentierte er seinem Chef die Idee für das, was er später „World Wide Web“ nannte. Nur wenige seiner Kolleg:innen verstanden ihn. Sein damaliger Chef sagte zu ihm: „Vage, aber aufregend.“[4] Zusammen mit seinem Kollegen Robert Cailliau gelang es ihm, das Projekt zum Erfolg zu führen. In wenigen Jahren wuchs das WWW, als Netz von Hypertext-Dokumenten, in der Gemeinschaft der Physiker am CERN und auch außerhalb immens. Das CERN traf die mutige Entscheidung, es nicht zu patentieren, sondern es für alle kostenlos zur Verfügung zu stellen. Dies war der Schlüssel zum Erfolg des WWW, das für alle zugänglich war.
Sicherlich hätte damals niemand, auch ich nicht, die 1992 mit der Nutzung des World Wide Web begann, gedacht, dass diese originelle Idee die Welt in so kurzer Zeit verändern würde. Im Jahr 2016 wurde Tim Berners-Lee mit dem Turing-Preis ausgezeichnet, der als Nobelpreis für Informatik gilt, für die Erfindung des World Wide Web und die Entwicklung seiner grundlegenden Protokolle und Algorithmen sowie des ersten Webbrowsers. Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele twitterte er: „This is for everyone“ und meinte damit ein offenes, für alle zugängliches und freies Internet.
Schlusswort
In der physikalischen Grundlagenforschung liegt der Fokus zwar nicht auf wirtschaftlicher Anwendung, doch Forschende gewinnen oft Erkenntnisse, die Innovationen wie das WWW ermöglichen und unsere Lebensweise in kurzer Zeit erheblich verändert und erleichtert haben.
Auf der Ministerkonferenz zu dem Europäischen Forschungsraum am 20. Oktober 2020 in Bonn haben die Minister eine Erklärung unterzeichnet, in der sie sich für die Freiheit der Forschung aussprechen, die für alle zugänglich ist. „Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Forscher:innen Wissen produzieren, teilen und Wissen als öffentliches Gut zum Wohle der Gesellschaft bereitstellen.“ [5]
Fußnoten
- https://www.desy.de/ueber_desy/mission_und_leitbild/index_ger.html (abgerufen am 12.9.2024)
- übersetzt von CERN 70 Jahre, https://home.cern/news/series/cern70/cern70-foundations-european-science (abgerufen am 12.9.2024)
- Peter Buck, Kurze Biografie Michael Faradays, in „Naturgeschichte einer Kerze”, Verlag Franzbecker Hildesheim.
- http://info.cern.ch/Proposal.html (abgerufen am 12.9.2024)
- übersetzt von Bonn Declaration on Freedom of Scientific Research, 20 October 2020 www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/files/_drp-efr-bonner_erklaerung_en_with-signatures_maerz_2021.pdf (abgerufen am 12.9.2024, nicht mehr abrufbar am 03.02.2025)